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Full text of "Kain - Zeitschrift für Menschlichkeit"

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Jahrgang I. No. 1. April 1911. 

KMN 

Zeif/chrifTfur 

rien/chlkht\eif 
HemuJgeber; 

frichnoh/&m 




Inhalt: Kain (Gedicht). — Die Todesstrafe. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Bemerkungen. — (Miinchener Theater. — Bayerische 
Freiheitlichkeit. — Die voile Mass. — Oeffentlicher Dank.) 



Kain-Verlag Miinchen. 



An die Leser! 



Diese Zeitschrift 1st ganz ohne Kapital begriindet worden, nicht aus 
prinzipiellen Griinden, sondern weil kein Kapital da war. Soil das zweite 
Heft nach einem Monat punktlich erscheinen, so muss der Ertrag de« 
ersten seine Kosten decken. Wem die Lektiire der ersten Nummer 
den Wunsch geweckt hat, das Blatt moge weiter erecheinen, der sorge 
fur seine Verbreitung. Sollte sich Jemand fur das was hier gesagt 
wird geniigend Interessieren, um etwa das Unternehmen durch einen Geld- 
zusohuss fordern zu'/nogen, so setze er sich mit dem Unterzeichneten In 
Verbindung. Verzinsung und Amortisierung wird zugesichert. Es besteht 
die Absloht, die Zeitschrift „Kain" moglichst bald In grosserem Umfange 
oder aber In kiirzeren Zeltraumen erscheinen zu lassen. 

Auf Anfragen sei jetzt schon festgestellt, dass „Kain" weder 
als anarchistische Zeitschrift bewertet werden will, noch etwa ein 
Organ des „Sozialistischen Bundes" darstellt. Da der Herausgeber 
seine Anschauungen gern mit der Bezeichnung „Anarchismus" charakte- 
risiert, und da seine anarchistischen Ueberzeugungen sich mit dea 
Lehren des „Sozialistischen Bundes" eng beriihren, so wird der Leser 
in dieser Zeitschrift natiirlich keine Beitrage finden, die etwa nicht 
sozialistisch und anarchistisch empfunden waren. Jedoch ist das Blatt 
nicht als Werbemittel fur bestimmte Bewegungen gedacht, sondern 
als ganz personliches^ Organ filr das, was der Herausgeber als 
Dichter, als Weltbiirger und als Mitmensch auf dem Herzen hat. 

MUNCHEN Erich Miihsam. 

Akademiestrasse 9. 



Inseraten-Teil. $> $? 



Dieser Nummer liegt ein Prospekt der Versandbuchhandlung 
Fritz W. Egger, Munchen 19, Romanstrasse 5 bei. 

Ludwig Ganghofer, seine gesammelten Schriften, in der 
billigen und dennoch vornehm ausgestatteten Volksausgabe. 2 Serien 
zu je M. 20. — oder komplett zu M. 40. — . Eine dritte Serie, aufwelche 
Bestellungen schon heute entgegen genommen werden, ist im Druck 
und erscheint im Herbste laufenden Jahres. Canghofers Schriften zu 
empfehlen eriibrigt sich, dieselben sind so beliebt, dass wir nur raten 
konnen, das heutige Vorzugsangebot sofort zu beniitzen und den Bestell- 
schein deutlich ausgefiillt an die Firma Egger einzusenden. Erwiinscht 
ware es uns, wenn aufunser Blatt Bezug genommen wiirde. Die FirmaEgger 
liefert Ganghofer wie jedes andere gewiinschte Buch zu bequemes 
Abonnementszahlungen, die es jedermann ermoglichen, dasWerk sofort 
komplett zu erwerben. Lieferung erfolgt franko. Kataloge stehen 
Interessenten postfrei zu Diensten. 



Jahrgang I. Munchen, 

No. 1. April 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fur Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

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„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
tiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Munchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

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Kain. 

Eure geballten Fauste schrecken mich nicht, 

noch Eure strengen, satzunggebundenen Ruten. 

Dir — ich erkenn' es — seid die Gerechten und Guten, 

und nur Euch strahlt lachelnd das Sonnenlicht. 

Speit mich an! Verachtet mich! Werft mich mit Steinen! 

Zeigt Euem Kindern mein hassliches Gottesmal! 

Lehrt sie, dass ich ihn erschlug, den vortrerrlichen Abel, 

nieinen Bruder, erkeimt an dem namlichen Nabel! 

Lehrt sie mich hassen, um meine Niedrigkeit greinen! 

Heisst sie Gott ftirchten und seinen Rachestrahl! .... 

Ach, wie war er so fromm, so zufrieden und brav! 

Betend kniet' er inbriinstig vor Gottes Altar, 

dankend des Herrn allumfangender Giite. 

Aber ich, ein Zweifelnder ganz und gar, 

sah, wie der Blitz in ragende Baume traf, 

sah junges Leben zerknicken in hoffender Blute, 

wanderte einsam und sann allem Werden nach. — 

Und ich sah, wie der Bruder Reiser vom Strauche brach, 

junge griinende Reiser vom spriessenden Strauch; 



wie er sie zartlich zum Scheiterhauf schichtete, 
wie er ein unschuldig Lamm zur Opferstatt trug, 
sah, wie aus Steinen ein Funk in das Reisigwerk schlug. 
Auf zum Himmel stieg saulengrade der Rauch, 
rot von der Glut, die zittemd die Erde belichtete. 
Grasslich hort' ich des Lamms Bloken und Angstgeschrci. — 
Abel, mein Bruder, sang freudige Lieder dabei. 
„Sieh, wie mein Opfer gefallt!" rief er mir zu. 
,Aufrecht lodert die Flamme zum Himmel. Sieh! 
Siehe den Lohn! Dem Herrn sei ewiger Dank! 
Sieh meine fetten Weiden, mein munteres Vieh! — 
Deine Friichte sind weUc, Deine Lammer krank. 

Spende dem Schopfer! Kain, opfre auch Du!" 

Da sah ich Abels Feld uppig in Aehren stehn 

und seine Herde lustig im Griinen weiden. 

Aber mein Acker war kahl und trocken und steinigt. 

Diirsten sah ich mein Vieh und Entbehrung leiden. 

Kann es — so dacht' ich — durch Gottes Ratschluss 

geschehn, 
dass sieh der Boden entsteint, dass das Wasser sieh reinigt, 
soil meines Feuers Rauch gleichfalls zum Himmel steigen. 
Kann Gott Gnaden verleihen, mag er sie zeigen! — 
Und ich sammelte miirbes Holz von der Erde, 
weil ich den lebenden Zweigen nicht wehtun wollte; 
und dann wahlt' ich aus meiner armseligen Herde 
ein vom Leben zerbrochenes krankes Rind, 
dass es der Schopfer als Opfer empfangen sollte. 
Schlafend lag es und trag. So stach ich es nieder, 
trug's zum Altar und entflammte die trockenen Scheite. 
Aber in meiner Kehle stockten die Lieder. — 
Knisternd bog sieh das Holz. Da erhob sieh ein Wind, 
fauchte mit boshaftem Zischen hinein in den Qualm. 
Unformig walzte der dicke Rauch sieh zur Seite 
und erstickt' meines Ackerlands durftigen Halm. — 
Abel, mein Bruder, stand nahe und sah mich knien, 
sah, wie mein gliihendes Auge im Zom sieh weitete, 



weil das Opfer, das ich dem Herrn bereitete, 
nicht wie seines hinauf in den Aether drang; 
sah den schlangelnden Rauch sich kriechend verziehn. 
„Kain," rief er, „mir ist um Deine Seele bang. 
Bessere Opfer musst Du dem Gotte bringen! 
Lieder des Danks und der Freude musst Du ihm singen 
Junge Zweige musst Du vom Strauche brechen! 
Junge, gesunde Larnmer musst Du Gott schlachten! 
Junges, warmes Blut muss himmelwarts dampfen! 
Aus Deinem Reichtum musst Du zu opfem trachten! — 
Wenn sich die Menschen dem Herrn zu trotzen erfrechen, 
wird er sie richten und ihre Saaten zerstampfen!" — 
Auf sprang ich da und griff an die Gurgel dem Spotter. 
Winselnd wand sich der Qualm im Sturmesgeheule. 
„Junges Blut will Dein Herr? — So soil er es haben! 
Folge Du nach Deinen wohlgefalligen Gaben I 
Griiss mir mein amies Rind! — undgriiss' Deine Goiter!" — 
Und ich erschlug den Bruder mit wuchtender Keule. — 
Machtig dehnte sich meine Brust und ich hob 
gegen den Himmel die Faust und schwenkte sie drohend. 
Doch aus der Opferglut, die gewirbelt stob, 
riss der Sturm einen SpUtter und jagte ihn lohend 
mir an die Stim. Ich sank mit furchtbarem Schrei, 
dass ich im weiten Umkreis die Menschen weckte, 
nieder. Es schrieen die Rinder. Der Himmel drohnte 
donnernd, wahrend im Staube die Glut verreckte. — 
Aber schon eilten jammernde Menschen herbei. 
Ich entfloh, von Schmerzen gehetzt, dass ich stohnte. 
Hinter mir gellten die Rachefliiche der Hirten. 
AUe verlangten, den Brudermorder zu steinigen, 
mich zu entsetzlichem Tode langsam zu peinigen. 
Vorwarts stiirzte mein Fuss, dass die Felsen, klirrten .... 

Immer noch flieh ich dem Zom der Menschengemeinde. 

Unstet und rastlos irr ich von Ort zu Ort. 

Doch mein Mai an der Stim, vom Scheite gebrannt. 



alliiberall verrat's mich dem lauernden Feinde. 
Alluberall treibt mich sein Racheruf fort. 
Von den Statten der Menschheit bin ich verbannt. 
Darbend fahr ich durchs Land, vogelfrei. 
Doch, wo ein Rauch sich senkrecht zum Himmel hebt, 
wo zufriedene Menschen sich dankbar beugen, — 
ah! — da schleich ich mit knimmem Rucken vorbei, 
kralle die Hand, die vom Blute des Bruders klebt, 
heisse mein Feuermal gegen die Menschheit zeugen! — 
Opfert ihm nur, dem Gott der Gerechten und Guten, 
der Eure Hiitten mit kostlichen Friichten fiillt, 
der Euem Leib mit warmenden Fellen umhullt! 
Junge Lammer lasst ihm zum Preise bluten! 
Danket flir Euem Reichtum dem Gotte der Reichen! 
Und verschliesst vor dem Hunger des Armen die Scheuer! 
Wen Gott hasst, den mogt ihr richten als Schlechten! 
Was Euer Gott auf den Feldem gedeihen lasst, ist Euer! 
Ihr nur seid wert, dem Ebenbild Gottes zu gleichen! 

Aber auf mich ergiess' sich der Zom der Gerechten! 

Kommt! Ich furcht' mich nicht mehr! Hier steh ich zum 

Kampf! 
Eure geballten Fauste schrecken mich nicht! 
Brudermorder Ihr selbst — und tausendfach schlimmer! 
Aus Euerm Scheiterhauf raucht meines Herzbluts Dampf. 
Trag' ich so gut als ihr nicht Menschengesicht? — 
Aufrecht steh' ich vor Euch und fordre mein Teil! . . . 
Gebt mir Freiheit und Land! — und als Bruder fur immer 
kehrt Euch Kain zuriick, der Menschheit zum Heil! 



Die Todesstrafe. 

Der letzte deutsche Juristentag hat sich mit Entschie- 
denheit fur Beibehaltung der Todesstrafe ausgesprochen. 
Damit hat er logisch, konsequent und insofem 
loblich gehandelt, als sein Votum einen lehrreichen 
Einblick in die Psyche unserer in Rechtsdingen staatlich 



examinierten Mitmenschen gestattet. Wer sich befugt halt, 
im Namen eines abstrakten Staatsbegriffs andern Leuten 
Freiheit, Vermogen und Ehre abzuerkennen, der handelt 
nur folgerichtig, wenn er seine Verfugungsmacht auch 
iiber das Leben solcher Zeitgenossen erstreckt sehen 
mochte, die an der staatlich gefugten Menschengemein- 
schaft zu Verbrechern wurden. 

Strafen ist ein Gewerbe, und zwar ein staatlich mono- 
polisiertes. Die Rache fiir erlittene Unbill ist dem Ge- 
krankten entzogen. Wie die Beforderung schriftlicher Mit- 
teilungen zwischen den Menschen vom Staate besoldeten 
Brieftragern vorbehalten ist, so ubertragt der gleiche Staat 
die Reparatur aller Schadigungen, die die Menschen ein- 
ander zufiigen, der Einsicht unbeteiligter Personen 
in die Paragraphen der Gesetzbiicher. Der Fehler 
dieses Verfahrens ist nur, dass Verurteilungen nie- 
mals die erwiinschte Reparatur des beklagten Scha- 
dens bringen. Der ermordete Bankier bleibt tot; das 
abgebrannte Haus bleibt abgebrannt; der Bestohlene 
ist sein Geld los, — und kriegt er es im Aus- 
nahmefall wieder, so dankt er das nicht dem Verurteilt- 
werden, sondern nur dem Erwischtwerden des Diebes. 

Dass Bestrafungen die Delinquenten bessern, behaup- 
ten heutzutage selbst die Juristen nicht mehr. (Hochstens 
im Falle der Hinrichtung ware es denkbar. Doch wurden 
Erorterungen hieriiber ins Gebiet der Metaphysik geho- 
ren.) Die Abschreckungstheorie wird durch jede Statistik 
widerlegt. Bleibt als einziger Zweck der Rechtsiibung: 
die Staatsraison. 

Also die Staatsraison verlangt's, dass — immerhin 
examinierte, — Manner der Gerechtigkeit die Wage aus 
der einen, das Schwert aus der andern Hand nehmen und 
im Besitze dieser Instrumente jede aus der Fasson geratene 
Tugend wieder einrenken. Kann man es nun den Herren 
Juristen verdenken, dass sie mit dem Schwert der Frau 
Nemesis nicht bios ritzen, sondern auch kopfen mochten? 



Es ware unbillig, soviel Enthaltsamkeit von Hinen zu verlangen. 

Der Beschluss der Juristen, das Recht, Todesurteile 
zu fallen, nicht gutwillig preiszugeben, hat bei humanen 
und besonders bei liberalen Staatsbiirgern heftigen Wider- 
spruch gefunden. Die finden, dass der Gerechtigkeit Ge- 
niige geschieht, wenn Menschen, die durch Unterernah- 
rung, akute Not, bittere Erfahrungen oder entziindete Lei- 
denschaften zu Mordern wurden, fur Lebenszeit ins Zucht- 
haus gesperrt werden. Wenn man namlich dem Delin- 
quenten nicht auf Anhieb das Lebenslicht ausblast, son- 
dern ihm das Sonnenlicht entzieht, den Verkehr mit den 
Seinen verbietet, die Bewegung seiner Glieder hindert, 
inn bei schlechter Kost zu verhasster Arbeit zwingt, ihn 
des belebenden Zustroms der Natur entwohnt und ihn 
so langsam verdorren lasst, — dann hat die Humanitat der 
Liberalen iiber die geschaftige Grausamkeit der Juristen 
einen gewaltigen Triumph errungen. — Gott sei Dank 
sind sich die beiden Parteien wenigstens in der Ablehnung 
der Priigelstrafe einig, die — in deutlichstem Gegensatz 
zum Kopfen und Eingittern — ein ausserst rohes Ver- 
fahren darstellt. 

Die examinierte Gerechtigkeit schreit nach der Guillo- 
tine, die gefuhlvolle Menschlichkeit nach dem Zuchthaus; 
— es ist eine Lust zu leben! 

Aber die examinierte Gerechtigkeit will den Verdacht 
nicht auf sich sitzen lassen, als ob ihr die Staatsraison 
das Menschenherz aufgefressen hatte. So sammelt sie 
Stimmen fur den Scharfrichter. Wo hat man sichere Ge- 
wahr fur humane Menschlichkeit als bei der humanisti- 
schen Menschheit? — Und die „Deutsche Juristen- 
zeitung" klopft an bei den Herren vom Katheder und 
von der Feder. Und siehe: es erwacht in ihnen das 
Rechtsbewusstsein; leuchtenden Auges treten sie — eine 
erlesene Schar — vor die Front der Oeffentlichkeit, und 
stolz, antworten zu durfen auf die Frage: Leben oder 
Sterben? — dekretieren sie: Kopf ab! 



Liebe Bekannte findet man unter den exekutions- 
freundlichen Kapazitaten. Greifen wir ein paar heraus. 

Erich Schmidt. Der milde Professor, der Liebling der 
Damen, der BerUner Festarrangeur und Jubilaumsdiplomat. 
Ich sehe inn, das sauber rasierte Kinn auf die gepflegte Hand 
gestiitzt, wie er seinen Horerinnen — in jeder schlummert 
eine Hedda Gabler — gewinnend lachekid seinen Stand- 
punkt darlegt: o ja, Milde, Sanftmut, Schonung und Mensch- 
lichkeit sind gewiss gute Dinge; aber messieucs les assas- 
sins mogen damit anfangen. Erich Schmidt — heisst er 
nicht etwa schon Exzellenz? — mochte also den Mor- 
dern in der Uebung gesitteter Eigenschaften den Vor- 
tritt lassen. Dariiber lasst sich nicht rechten. Es muss 
jeder selbst am besten wissen, wohin er sich in der mensch- 
lichen Gesellschaft rangiert sehen will. 

Ernst Haeckel. Auch der wiinscht die Todesstrafe in 
Kraft erhalten zu sehen. Er bedauert zwar, dass er das 
wiinschen muss. Aber er halt das Guillotinieren imme 
noch fur das wirksamste Mittel, die Menschheit von den 
Frevlem am Leben andrer Leute dauernd zu befreien 
Die Pdchtigkeit dieser Hackelschen Logik wird ihm sein 
giftigster Feind nicht abstreiten mogen. Wer einmal um 
seinen Kopf verkiirzt ist, der wird so leicht nicht wiede 
einen Menschen umbringen. Das weiss Ernst Hackel am 
allerbesten. Er hat die Weltratsel gelost. Fiir inn ha 
das Leben keine Geheimnisse mehr. Er weiss, was wir an 
aller Anfang Uranbeginn gewesen sind; er weiss was 
an aller Ende Urende aus uns wird. Da braucht ihn auch 
der Tod nicht zu schrecken, am wenigsten der Tod des 
andern, des Morders, des Gekopften. Eine kurze Betrach- 
tung mochte ich Herrn Professor Hackel nahelegen: Die 
menschliche Gesellschaft hat durch Jahrtausende die Ver- 
neinung Gottes — desselben, den Hackel als gasformiges 
Wirbeltier verulkt — als weit schwereres Verbrechen als 
Mord betrachtet und mit Steinigen, Kreuzigen und Ver- 
brennen geahndet. Wie wiirde sich der Herr Sachver- 



standige in Hinrichtungsdingen zur Todesstrafe stellen, 
wenn diese Rechtsauffassung heute noch Geltung hatte? 
Schliesslich: Ludwig Fulda. (Der Dichter!) — Soil 
ich mit ihm streiten iiber das, was recht und unrecht ist? 
Ich soil nicht. Was so ein weltfremdes Dichtergemiit sinnt 
und traumt — wir wollen es lassen stahn. Recht muss 
Recht bleiben, und wer mordet, der soil gemordet wer- 
den. Fur Lustmorder ware eine Strafverscharfung am 
Platze: Deren Haupt soil man nicht einfach auf den Block 
legen. Denen soil man Fuldasche Stiicke vorspielen, bis 
sie verreckt sind. Die Jurisprudenz hat mit der Abschrek- 
kungstheorie schlechte Erfahrungen gemacht. Ich halte 
auch nichts davon. Aber ich glaube doch, dass sich nach 
Einfuhrung des von mir angeregten Verfahrens die Lust- 
morde bald erhebhch vermindern werden. 

Schmidt, Hackel, Fulda — die Staatsraison braucht 
noch nicht zu verzweifeln. Was will gegen das Gewicht 
solcher Stimmen die Tatsache bedeuten, dass sich ein im 
Konigreich Preussen konzessionierter Scharfrichter fur Ab- 
schaffung der Todesstrafe ausgesprochen hat? — Der Faul- 
pelz! 



Tagebuch aus dem Gefangnis. 

Zum Verstandnis: Im Oktober 1909, als die durch den 
Fall Ferrer hervorgerufene Erregung weiter Volkskreise auch die 
Milnchner Polizei sehr nervos machte, platzte eines Nachts in 
einer unbelebten Strasse eine Donaritkapsel. Der junge Mensch, der 
sich mit dem Knallen des ungefahrlichen Sprengmittelchens einen Jux 
machen wollte, wurde erkannt und verfolgt. Er fluchtete sich in den 
„Soller", wo er einige Gaste kannte und um Hilfe bat. Ich hatte aus 
Grtinden, die hier noch ausfilhrlich erortert werden sollen, im Sommer 
1909 begonnen, Zugehorigen des sogen, „funften Standes" Vortrage 
sozialen Charakters zu halten, und sie mit den sozialistischen Ideen 
des Anarchismus bekannt zu machen. Die bei Behorden und hohe- 
ren Tochtern gangbare Ideenassoziation: Anarchisten und Bomben 
zeigte sich auch bei den Sollergasten zuhause. Sie rieten dem 
Knaben, den ich nicht kannte, sich an die Anarchisten zu wenden 
und sagten ihm, wo er einen meiner Freunde treffen konnte. (Ich 



war damals in Berlin.) Von dem erhielt er 20 Pfennige. — Die 
Knallerbsengeschichte ging durch die ganze Presse und ich las mit 
Staunen, dass mein Name damit in Verbindung gebracht werde. Die 
Charlottenburger Polizei haussuchte bei mir, und am ubernachsten 
Abend wurde ich verhaftet. Erst bedeutend spater erfuhr ich, dass 
meine Festsetzung garnichts mit dem Ulk des 17jahrigen Bengels 
zu tun hatte (der mit 13 Monaten Gefangnis bestraft wurde), son- 
dern dass die Zusammenkunfte, bei denen ich den „Lumpenprole- 
tariern" meine Vortrage gehalten haue, der Staatsanwaltschaft der 
Geheimbiindelei verdachtig erschienen. Ich blieb 11 Tage in Unter- 
suchungshaft (ein Mitangeklagter 8 Monate). Erst im Juni 1910 
aber hatte die Justiz, die 9 Monate damit schwanger gegangen war, 
ihr Kind ausgetragen. Dass die Entbindung vor dem Mlinchner 
Landgericht dann ein Luftkissen zutage forderte, ist wohl noch in 
Erinnerung. — Im Gefangnis, wo ich ja Zeit genug hatte, begann 
ich, ein ausfiihrliches Tagebuch zu fuhren, das ich hier mit einigen 
Namensanderungen und einigen Fortlassungen abdrucke. 

Donnerstag, d. 4. November 1909, 
Gerichtsgefangnis, Charlottenburg. 
Morgen werden es acht Tage sein, dass man mich verhaftete. 
Freitag abend war es, am 29. Oktober, und ich hatte gerade meine 
paar Sachen in mein Handtaschchen gepackt. Die Reise nach Zu- 
rich sollte angehen. Vom 1. November bis zum 1. Dezember sollte 
ich wieder mal mit M. Henry und Marya Delvard tingeln. 750 
Franken Gage und 50 Franken Reisevergutung. (150 Franken das sind 
120 M. und etwas, hatte ich schon im Vorschuss). Morgens war 
ich noch bei Onkel L. gewesen und hatte Geld geholt, weil der Vor- 
schuss schon alle war, hatte im Laufe des Tages Dutzenden von 
Bekannten adieu gesagt, hatte jedem, der es horen wollte, erzahlt: 
Heute abend reise ich, — und als alter Witzbold hinzugesetzt: 
falls ich nicht doch noch vorher verhaftet werde. 8 Uhr 45 sollte 
der Zug vom Anhalter Bahnhof abgehen. Um 7 Uhr kam Lieschen 
zu mir laut Verabredung. Sie machte aus einem Anzug, den ich 
noch hatte in Stand setzen und reinigen lassen, einigen Kragen und 
einem Nachthemd noch ein schones Extrapaket, bequem zu tranpor- 
tieren. Um 8 Uhr sollten wir beide im Habsburger Hof sein, wo 
uns R. zum Abendbrot erwartete. Danach wollten mich die beiden) 
in den Zug setzen. Lieschen hatte noch ihren Kuss gekriegt — 
verdammt! Um 7,8 holten mich die Schergen. Frau B., meine 
gute Vermieterin, klopfte an. Gott sei Dank waren Lieschen und 
ich in durchaus intakter Gewandung. Herein! — „Herr Mlihsam, 
da draussen stehen schon wieder zwei. — Wollen Sie vielleicht liber 
die Hintertreppe — ". „Nein, nein!" sagte ich und flihlte, dass 



— 10 — 

meine Lippen weiss wurden. Ich tat aber sehr ruhig, sagte zu Lies- 
chen: „Das bedeutet, dass ich verhaftet werde", und hatte merk- 
wlirdigerweise den Gedanken: wie seltsam, dass die Physiognomie 
des Polizisten selbst von einer so einfachen Frau, und durch den 
Zivilanzug maskiert, erkannt wird! — Die beiden Staatsretter tra- 
ten ein. Ich ging ihnen auf den Korridor entgegen: „Was wiln- 
schen Sie?" — „Wir kommen von der Polizei. Wir sind Kriminal- 
beamte. Sie werden aufgefordert, sofort mitzukommen." — „Legiti- 
mieren Sie sich." — Geschieht. — „Zeigen Sie mir den Haftbefehl." 
— Man legt mir ein Staatstelegramm aus Munchen vor: „Bitte um 
Festnahme des Schriftstellers Erich Milhsam, Charlottenburg , 
. . . Strasse 84 bei B., gegen den ich wegen fortgesetzten Vergehens 
gegen § 128, 129, 73 Haftbefehl erlassen habe. Der Untersuchungs- 
richter Soundso." Meine erste Frage, die ich mir vorlegte, aber 
laut dachte, war: ,,128, 129? Was steht denn da drin?" — Der Be- 
amte hielt sich fur angeredet und versicherte, auswendig konne er 
das so genau auch nicht sagen. Ich glaubte es ihm. Darauf ging 
ich ins Zimmer zurlick, erklarte Lieschen, dass ich verhaftet sei, 
gab ihr Auftrag, meinen Bruder und den Rechtsanwalt Hugo Caro 
zu orientieren und ktisste ihr zum Abschied die Hand, indem ich 
sie beruhigte, es werde nicht lange dauern, dass man mich einsperre. 
(Fortsetzung folgt.) 
(Musste wegen Raummangel leider hier abgebrochen werden.) 



Miinchner Theater. 

Wer sein Urteil iiber die Miinchner Theaterverhaltnisse der 
Presse dieser Stadt entnimmt, und durch Abwesenheit oder Krank- 
heit verhindert ist, die Kritik personlich zu kontrollieren, wird, 
sofern er von gedrucktem Lobe das ubliche Quantum wohlwollen- 
der Hoflichkeit zu subtrahieren versteht, zu der Meinung kommen: 
hier wird in den paar vom anspruchsvolleren Publikum frequen- 
tierten Theatern schlecht und recht Komodie gespielt; was ge- 
leistet wird, geniigt provinzlerischen Grossstadtansprlichen; und eine 
kunstlerische Gradmessung erilbrigt sich bei der geringfiigigen Dif- 
ferenz der Leistungen. Erst in der allerjiingsten Zeit (muss der 
Zeitungsleser annehmen) wird an einem Theater, dem Miinchner 
Schauspielhaus, ein Niedergang bemerkbar. Aber erfreulicherweise 
hat sich im rechten Augenblick im Lustspielhause ein Ensemble 
etabliert, das unter dem Direktor Dr Robert und dem Namen 
„der grosse Wurstl" Auffilhrungen bietet, die nicht nur Ersatz 
schaffen filr das vom Direktor Stolberg vertane Gut, sondern weit 
daruber hinaus den Munchnern endlich das ersehnte, alien weit- 



— 11 — 

stadtischen Anforderungen genligende Theater aufzustellen verspre- 
chen. Eine mittlere Einschatzung zwischen diesen beiden Anstalten 
erfahren die noch ubrigen Schauhauser, die Hofbilhne und das 
Volkstheater. Da das Urteil der Presse hierin vollig ubereinstimmt, 
wird der unbefangene am Theaterbesuch verhinderte Leser nicht zwei- 
feln, wie die Mlinchner Biihnen beschaffen sind. Er wird sich freuen, 
dass die Kritiker auf der Wacht stehen, und sich damit abfinden, 
dass der klerikale „Bayerische Kurier" und die ihr eng seelenverwandte 
sozialdemokratische „Munchner Post" ihr Votum ausser von klinst- 
lerischen auch vornehmlich von moralisch-sittlichen Empfindungen 
abhangig machen. 

Der glaubige Leser sei dahin belehrt, dass ihn die Herren (und 
die Dame), die in Mlinchen Theaterkritiken schreiben, falsch un- 
terrichtet haben. Die spate Erkenntnis, dass das Schauspielhaus 
seit dem Fortgang der schonen und talentierten Lilly Marberg 
an ktinstlerischer Bedeutsamkeit erheblich verloren hat, (trotz 
mancher Vorzlige der Frau Fritzi Schaffer), stieg den Herr- 
schaften erst auf, als das der Zunft an Kritik weit uberlegene 
Publikum zornig erfuhr, dass nun auch Gustav Waldau Munchen 
verlassen soil. Es fallt mir schwer, Herrn Direktor Stolberg, der 
diesen prachtigen Kerl aus ilbel beratener Sparsamkeit gehen lasst, 
in Schutz zu nehmen. Aber die geschatzten Herren (nebst einer 
Dame) haben wahrlich wenig Ursache, die Fehler eines Mannes 
zu begeifern, der in ihren Kritiken vergeblich einen Anhalt fiir 
sein Walten als Direktor gesucht hatte. Gewiss: Ihr habt Gustav 
Waldau stets gelobt; ihr habt seine Leistungen stets ausgezeichnet 
und vortrefflich gefunden. Aber wen hattet ihr nicht gelobt? wen 
nicht in wahlloser Zufriedenheit gehatschelt und gepriesen? — Wenn 
Direktor Stolberg — was die Herrschaften jawohl verlangen — 
ihr Urteil als Richtschnur seines Wirkens hatte betrachten wollen, 
so hatte er noch kaum je ein Mitglied seiner Blihne entlassen diir- 
fen, und wenn jetzt seine tuchtigste Kraft davongeht, so haben 
die nicht zu greinen, die Waldau jahrelang dadurch beleidigt ha- 
ben, dass sie jeden mittelmassigen Anfanger mit dem gleichen 
Syrup wie ihn betraufelten. 

Der — ach, so bequeme! — Enthusiasmus ist nun also aus 
der Maximilianstrasse ausquartiert und ergiesst sich spritzend in 
den „Grossen Wurstl". In diesem Unternehmen haben wir die 
Errettung aus der Misere zu begrilssen. Hier ist der Tempel, 
wo unsere Kunstsehnsucht Erfiillung findet! — Du grosse Gttte! Hein- 
rich Mann kannte sein Interesse gut, als er sein „Variete" dem 
auf die Routine eines einzelnen Stars gegrilndeten Theaterchen 
nicht uberlassen wollte. Man rlihmt die exquisite Regie des Hrn. 



— 12 — 

Dr. Robert. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe noch immer 
den Eindruck gehabt, als ob in diesem Theater lediglich mit den 
Ellenbogen der Frau Ida Roland Regie gefiihrt werde. Die mehr 
oder minder begabten Debutanten, die (seit Guido Herzfelds Ab- 
reise) mit ihr auf der Btihne stehen, verkriechen sich scheu im 
Hintergrund und wagen kaum, den Mund aufzutun; — aber in 
den Pressekritiken bekommen sie allesamt das Pradikat „sehr gut", 
„vorziiglich" und „ausgezeichnet". Der talentvolle Herr Pfanz kann 
einem leid tun. 

1st es traurig oder amilsant? Mit der Sicherheit eines er- 
blindeten Kunstschtitzen trifft die Munchner Kritik Schuss fur Schuss 
ins Blaue. Man entschuldige die Herren (und die Dame) nicht 
mit der Minderwertigkeit des ganzen ihrem Urteil unterstellter« 
Theaterbetriebes. Man glaube nicht, dass die gutherzige Sehnsucht, 
nur irgendetwas loben zu diirfen, ihnen den „grossen Wurstl" als 
Festhalle edler Kunst vorgegaukelt hat. Dass in der Tat eine 
Buhne da ist, die Lob, Anspornung, Dank verdient, die — vor- 
erst nur in Einzelfallen — Aufflihrungen geliefert hat, die die ver- 
wohntesten Ansprilche befriedigen konnten, und dass es nur der 
frohen Anerkennung und der einsichtigen Ermutigung bedlirfte, um 
ihre Entwicklung zu einer der wertvollsten Schaubilhnen Deutsch- 
lands zu fordern, das entgeht den bestallten Hlitern des offent- 
lichen Urteils. Ich spreche vom Residenztheater — seit Albert 
Steinrilcks Mitwirkung. Steinrilck hat, an Max Reinhardts genialer 
Regiekunst geschult, am Max-Josephplatz Inszenierungen gezeigt, die 
das Niveau der Hofblihne hoch iiber das aller anderen Theater 
gehoben haben. Er hat Aufflihrungen geleitet, wie sie die Wie- 
ner und Berliner nur an Festtagen zu sehen bekommen; und gleich- 
zeitig mit dem Regisseur hat Mlinchen in Steinrilck einen Schau- 
spieler gewonnen, auf den es sehr stolz sein dilrfte. Die Herren 
(und die Dame) von der Presse haben denn auch Herrn Steinrlick, 
sowohl als Regisseur wie als Darsteller stets die Note „sehr gut", 
„vorzliglich" und „ausgezeichnet" gegeben. Aber wenn die Regie 
des Herrn Dr. Kilian Herbert Eulenbergs sublime Dichtung „Alles 
um Liebe" in Grund und Boden haut, dann erhalt auch er die 
Note „sehr gut", „vorzilglich" und „ausgezeichnet", und das Stuck 
war nichts wert; denn das Publikum, das bei der Premiere lachte 
und zischte, darf vor alien Dingen nicht unrecht haben. — Un- 
terschiede werden nicht gemacht: ob Steinrilck Ibsens „Baumeister 
Solness" und Shaws „Casar und Cleopatra" inszeniert oder Dr. Kilian 
Blumenthals „Weisses Rossi" ist Jacke wie Hose. Ob Fraulein 
Terwins grazile Geschmeidigkeit und temperamentvolle Naturlich- 
keit das leibhafte Leben auf die Bretter stellt, oder ob ein traditio- 
nelles Hoftheater-Requisit in der vergilbten Takelage krampfhafter 



— 13 — 

Aufgeschminktheit dahersegelt, ist fiir die Vorbeter der offentlichen 
Meinung ohne Belang. 

Verehrte Herren (und gnadige Frau), der Jammer, Sie am kriti- 
schen Werk zu sehen, ist grenzenlos. — Das Lob, das Sie guten 
Leistungen spenden, degradiert die Klinstler, die es sich zugezogen 
haben. Denn es kommt nicht aus vollem Herzen, sondern aus hohlem 
Schadel. Und das Lob, mit dem Sie schlechte Leistungen be- 
tunchen, betrugt die Armen, die es trifft. Denn es falscht das 
Spiegelbild, aus dem sie lernen konnten, wo es ihnen fehlt. Ver- 
bieten es Ihnen Ihre Auftraggeber, das Publikum vor den Kopf 
zu stossen, so sollten Sie sich in Ihren Theaterreferaten auf Re- 
portage beschranken; und dttnkt Sic das zu gering, so lassen Sie 
die Finger lieber ganz von dem Geschaft. Vermissen wird Sie nie- 
mand. Denn eine Lucke hinterlasst nur das Fordernde. Forderlich 
aber kann eine Tatigkeit nicht sein, die, in Rucksichten geknebelt, 
aus der Mittelmassigkeit erwachsen, sich der Mittelmassigkeit auf 
Kosten der Hochwertigkeit verbriidert und das Bild der Kultur 
vor den Blicken der Mitwelt falscht. 



Bemerkungen. 



Bayerische Freiheitlichkeit. Die Milnchner Polizeibehorde hat in 
ihrem Eifer, mich und meine Freunde an unserer agitatorischen Tatigkeit 
fur die Befreiung der Gesellschaft zu hindern, nach vielen Schlagen 
ins Wasser einen Schlag ins Gesicht der Menschlichkeit getan. Sie 
hat sechs Auslander, zwei Schweizer und vier Oesterreicher, darunter 
eine Frau, des Landes verwiesen, weil sie im Seelenleben der Betrof- 
fenen Sympathien fur die von mir empfohlenen anarchistischen Ideen 
witterte. Die amtliche Mitteilung der Polizei erklart, dass die Aus- 
weisung „im Anschluss an die polizeiliche Aufhebung der Mlihsam- 
schen Anarchistengruppe Tat, deren Anhanger die Genannten waren", 
erfolgt sei. Die Mlinchner Polizeibehorde scheint von ihrer eigenen 
Macht etwas phantastische Vorstellungen zu haben. Wenn sie sich 
namlich anmasst, von einer Aufhebung der Gruppe Tat zu sprechen, 
so sei ihr mitgeteilt, dass solche Aufhebung ihrer Willkilr durchaus 
entzogen ist. Dass die Gruppe in Wahrheit trotz der Aufhebung am 
Leben und recht gesund ist, weiss die Polizei ja selbst, die mitunter 
genotigt ist, auch nach der Aufhebung noch zu offentlichen Veran- 
staltungen, die die Anarchisten ihr ganz legal vorher anzeigen, ihre 
offiziellen Vertreter zu entsenden. Der Oeffentlichkeit seien einige 
Daten geliefert, die einer Revision der landesiiblichen Legende 
von der bayerischen Freiheitlichkeit als Unterlage dienen mogen. 

Der im Jahre 1908 von Gustav Landauer in Berlin ins Leben 
gerufene „Sozialistische Bund" bezweckt die Ersetzung der kapitali- 
stischen Gesellschaft durch staatlosen Sozialismus. Mittel zum Zweck 
ist die Schaffung werktatiger Gruppen, die ihre Arbeit statt fur den 
Unternehmer und den Markt fur den eigenen Bedarf verrichten. Der 



— 14 — 

Bund begann seine Tatigkeit mit der Sammlung von Menschen in 
statutenlosen Gruppen, die sich im Anfang naturlich wesentlich auf 
propagandistische Aufklarung beschranken mtissen. Der Gruppen- 
kalender unseres Organs „Der Sozialist" weist zur Zeit 19 derartige 
Gruppen auf (14 in Deutschland, 5 im Ausland) Meine Agitation in 
Miinchen bewirkte auch hier im Frlihjahr 1909 die Konstituierung 
einer Gruppe, der „Gruppe Tat" . . . Da sich die Arbeit der Gruppen 
des Sozialistischen Bundes ganz in gesetzlichen Grenzen halt, haben 
die ausserbayerischen Polizeibehorden unsre Schwestergruppen bis 
jetzt immer in Ruhe gelassen. Die Mlinchner Polizei aber lieferte 
vom ersten Tage an, seit wir uns rlihrten, Beweise ihrer Nervositat, 
Staatstreue und Ungeschicklichkeit. Zuerst kam man uns mit dem 
Vereinsgesetz. Der Gruppenwart wurde wegen Unterlassung der 
Anmeldung der Gruppe mit einer Polizeistrafe bedacht. Das zur 
Entscheidung angerufene Gericht stellte fest, dass die Gruppe Tat 
als Statuten- und beitragsloses Gebilde nicht als Verein im Sinne des 
Gesetzes anzusehen ist Der Mann wurde freigesprochen. Die Kosten 
trug die Staatskasse. — Jetzt wurde das Strafgesetzbuch nach Para- 
graphen abgewalzt, die gegen uns zu brauchen waren. Da es der 
polizeilichen Einsicht geheim blieb, was sozialistischer Geist eigent- 
lich fur ein Geist sei, und da sich das Wort „Bund" in unseren 
offentlichen Ankiindigungen deutlich vorfand, wurde aus der Gruppe, 
die ja gerichtsnotorisch kein Verein war, ein „Geheimbund". Die 
Teilnahme von Sollergasten an unseren Zusammenkunften, die ich 
mir gestattet hatte, als Menschen zu betrachten und zu behandeln, 
musste die Gemeingefahrlichkeit der Gruppe Tat dem blodesten Auge 
erkennbar machen So stieg der Prozess. Der Ausgang ist bekannt: 
die Kosten trug die Staatskasse. 

Die bis dahin der weiteren Bevolkerung ganz unbekannte 
Gruppe Tat war infolge der behordlichen Bemilhungen zu einer Publi- 
zitat gelangt, die uns die Werbung fur unsere Ideen sehr erleichterte, 
zumal wir zwei Gerichtsurteile in der Tasche hatten, die 
uns die Legalitat unseres Beginnens ausdriicklich bestatigten. Unsere 
Gruppenveranstaltungen erfreuten sich nach dem Prozess des stetig 
wachsenden Interesses in revolutionar gestimmten Kreisen. Dass 
das Interesse, das die Polizei vom Anfang her an uns genommen 
hatte, trotz der trliben Erfahrungen, die das Institut mit unserer 
Bekampfung gemacht hatte, gleichfalls nicht ermlidet war, erwies sich 
uns daran, dass wir eines Tages bei unseren privaten Vortragsabenden 
geheime polizeiliche Ueberwachung wahrnahmen. Ein Polizeibeamter 
qualifiziert sich in dem Moment als Polizeispitzel, wo er seine Zuge- 
horigkeit zur Behorde leugnet. Dies tat ein Munchner Schutzmann, 
dem aus unserer Mitte heraus seine amtliche Stellung auf den Kopf 
zugesagt wurde. Ich sah mich veranlasst, den Polizeiprasidenten, 
Herrn v. d Heydt, in einem Briefe darauf aufmerksam zu machen, 
dass wir nicht verpflichtet seien, einen Beamten in unserem Kreise 
zu dulden, und mir die Belastigung von dieser Seite energisch zu 
verbitten. Jetzt fuhr die Polizei ganz grobes Geschiitz auf. Sie iiber- 
fiel namlich die Gruppe Tat bei ihrem nachsten Zusammensein und 
verhaftete alle Teilnehmer, etwa 30 an der Zahl. Der Zweck dieser 
Gewaltsiibung war zunachst nicht recht durchsichtig. Erst jetzt wissen 
wir, dass die bayerische Freiheitlichkeit es gestattet, Dutzende in 
erlaubter Aussprache versammelte Menschen einen halben Tag lang 
in dem schmierigen Polizeigefangnis in der Weinstrasse einzusperren, 



— 16 — 

um die paar Auslander zu ermitteln, die zufallig dazwischen sind, 
und sie, unbehelligt von unbequemen gerichtlichen Einmischungen 
liber die Landesgrenze zu treiben. Es muss der Munchner Polizei 
bestatigt werden: die Schadigung einzelner ist ihr vortrefflich geglilckt. 
Sie hat Leute, denen es unendlich schwer wird, wo anders ihren 
Unterhalt zu finden, von ihrer Arbeitsstatte vertrieben, und sogar 
solche waren dabei, die jahrelang in Munchen in festem Lohn standen 
und hier ihre Familie gegrtindet haben. — Was die amtlichen Herren 
als nachste Nummer gegen uns im Programm haben, entzieht sich 
heute noch meiner Kenntnis. Die Leser dieser Zeitschrift sollen 
jeweils unterrichtet werden, www eint neue Rakete steigt. 

Was ergibt sich aus der Betrachtung des Freundschaftsverhalt- 
nisses zwischen der Munchner Polizei und der Gruppe Tat? Dass 
die Schneidigkeit der bayerischen Behorde bisher weniger von der 
eigenen Gemutlichkeit als von der der Bayern geziigelt war. Das 
erstemal, wo es die Polizei mit einer wirklich radikalen Bewegung 
zu tun bekommt, langt sie hilflos nach den Paragraphen, die helfen 
konnten, wenn sie nur verletzt wiirden. Die preussischen Polizei- 
behorden haben ihre Uebung, mit Anarchisten umzugehen. Die wissen, 
dass man revolutionaren Bewegungen nur vorwarts hilft, wenn man 
sie ohne grosse Sachkenntnis chikaniert. Ob die Munchner Polizei 
je so klug werden wird, wie sich die 13 Verwaltungen gezeigt 
haben, die ausser ihr mit Gruppen unseres Bundes zu tun haben? 
Uns wird sie nicht viel anhaben konnen. Wir kennen die Gesetze 
und hiiten uns, sie zu verletzen. Die Rigorositaten der Polizei werden 
wir aber — darauf mogen sich die Herren verlassen — in unserer 
prinzipiellen Bekampfung der bestehenden Staatseinrichtungen als 
sehr wirksamen Schalltrichter zu benutzen wissen. 



Die voile Mass. Wir Menschen sind recht verschieden organisiert. 
In des einen Brust gart der Plan, der Welt durch Umsturz und Neu- 
erung Schonheit und Freude zu schaffen. Der andere giesst alle Glut 
und Inbrunst seiner Seele in die Formen eines erhabenen Kunst- 
werks. Noch einer sehnt sich in heiligem Gram nach einer geliebten 
blonden Frau. Der Vierte aber lebt sein Inneres aus, indem er sich 
in den Lowenbraukeller setzt — neben den Schanktisch - und lange 
Feierstunden hindurch acht gibt, wie oft der Schenkkellner zu wenig 
Bier in den Masskrug fiillt und um wieviel Grade schrager er das 
Gefass halt, wenn ein Stammgast sein Teil begehrt. Dieser Vierte 
ist Munchner und daher Mitglied des Vereins gegen betrugerisches 
Einschenken. Er hat vor Gericht seine Wahrnehmungen beschworen 
und da in tagelangem Aufmarsch noch viele Zeugen bekundeten, dass 
im Lowenbraukeller systematisch geschnitten werde, wurde der Pachter 
nebst einigen seiner Angestellten zu Gefangnisstrafen verknallt Man 
sage nicht, dass die Miinchener leidenschaftslos seien. Haben wir 
nicht eine voile Woche lang die ganze Bevolkerung, soweit sie von 
sozialen und kulturellen Drangen nicht bedrilckt ist. wie einen Mann 
gegen das Heer schaumender Masskrugfuller aufstehen sehn ? Haben 
wir es nicht erlebt, dass die Zeitungen taglich in vielen Spalten die 
ausfilhrlichsten Berichte ilber den „Kampf um die voile Mass" brachten ? 



— 16 — 

noch etwas zurttck und zumeist geht es nicht ganz schnell, bis ein 
Funke der Begeisterung das treue Mlinchner Bierherz entztindet. 
Aber, wo es um die heiligsten Gliter der Volkheit geht, da wird der 
Gutmutigste zum Belastungszeugen. — Der Kampf um die voile 
Mass ist gewonnen. Herr Erwig muss 6 Wochen nach Stadelheim 
und 3000 Mark an den Staat bezahlen. Das siegreiche Mitglied des 
Vereins gegen betrilgerisches Einschenken aber lenkt seine Schritte 
in die Neuhauserstrasse und wendet sein Interesse schwimmenden 
Auges dem dort promenierenden Hosenrock zu. 



Oeffentlicher Dank. Kurzlich begegnete mir nachts um 1 Uhr 
in einem Cafehaus eine junge Dame, die mir schon lange sehr be- 
gehrenswert erschienen war. Da sie allein war und ein ungliickliches 
Gesicht machte, sprach ich sie an. Sie klagte mir ihr Leid, das darin 
bestand, dass sie ihren Hausschlilssel nicht bei sich hatte und nun 
nicht wusste, wie sie heimkommen sollte. Ich bot natlirlich sogleich 
meine Wohnung an, was freundlich aber sehr bestimmt abgelehnt 
wurde Die Dame erklarte, sie wolle bis morgens um 7 Uhr durch- 
bummeln. Auf meine Bitte erlaubte sie mir, ihr Gesellschaft zu 
leisten. Um 3 Uhr erklarte der Wirt, es sei Polizeistunde. Wir 
mussten hinaus. Da wir nirgends ein offenes Lokal fanden, gingen 
wir an den Bahnhof, wo wir uns an einer Tasse Kaffee erfrischen 
wollten. Aber vor dem Eingang zu den Empfangsraumen war eine 
Barriere errichtet, die von einem Bahnbeamten, einem Nachtwachter, 
einem Schutzmann und einem Polizeihund bewacht wurde. Alle vier 
rollten horbar die Augen, sodass ich mit meiner Begleiterin eiligst 
wieder ins Freie fltichtete. Es war frostig und regnete. Da sagte ich 
zu der Dame: „Es ntttzt nichts. Miinchen hat ilber sechshundert- 
tausend Einwohner und ist eine beruhmte Klinstler- und Fremden- 
stadt. Wenn alien Klinstlern und Fremden und der halben Million 
Mlinchner Einwohner von Polizeiwegen die Moglichkeit entzogen ist, 
nach 3 Uhr noch in einem offentlichen Lokal zu sitzen, so werden 
gewiss sehr ernste sittliche Griinde dafur massgebend sein. Wenn 
Sie um diese Zeit ohne Gepack an einer Hotelglocke zogen, wiirden 
Sie sich wahrscheinlich grosse Unannehmlichkeiten zuziehen. Bleiben 
wir in diesem Wetter draussen stehn, so haben wir morgen beide die 
Lungenentzlindung. Es bleibt nichts anderes iibrig, als dass Sie mit 
zu mir kommen." Da errotete die junge Dame und kam mit. — Ich 
fiihle mich gedrangt, der Munchner Polizei fllr die ausserst genuss- 
reichen Stunden, die ich ihrer Fursorge zu danken habe, offentlich 
meinen Dank auszusprechen. Meine eigne Erfahrung hat mich belehrt, 
eine wie sinnreiche Einrichtung die konsequent durchgeftihrte Polizei- 
stunde ist. 



NB. Einige Beitrage, darunter die Buchbesprechungen, mussten mit 
Rlicksicht auf den beschrankten Raum fur die zweite Nummer zurlick- 
gestellt werden. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen. Baaderstr. la. 



Don 

eridt) muftfatn 

rrfdmnen folgendc Kurtirr. 



DlC tt)Uft£* Cedldite. 1904. Derlag des 

Sozialiflifrtirn Bundes. Berlin. 
(faR oerortlTcn.) 



Dtt KtdtCt* eedldjte. 

1909. morgen<Derlag. Berlin. 

Die ftod)itapler. umu. 

1906. R. Pipers Derlag. mundien. 



flscona. 



Brofdilire. 1905. 



Die lagd auf ftarden. 

Brofdilire. 1908. 

Zu brzir bru (lurrt) ireir Budjbandlung und dm 
KaiivDerlag. 



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Jahrgang I. No. 2. Mai 1911. 

KAlN 

Zeif/chriftfur 
rien/chlichfeif 

Herau/cjeben 

(richriuh/&m 




Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch aus dem Gefangnis. — 
Biicher. — Bemerkungen. — (Schonherrs Plagiat. — Krawall, Revoke, 
Revolution. — Jagow und Kerr. — Humor). — Correspondenz. 



Kain-Verlag Miinchen. 

Preis 30 Pfg. 



$ ^ ^ Inseraten-Teil. V # ^ 



D/e sexuelle Frage von Professor August Forel, ein 
vielumstrittenes Werk, das aber trotz vieler Angriffe von jedem 
Gebildeten gelesen wird, und in keiner Bibliothek fehlen sollte. Das 
Buch gilt als das beste, wenn nicht einzig gute seiner Art und hat sich 
trotz der ins Uferlose angewachsenen Literatur iiber Gesundheitspflege 
und alle Fragen des Geschlechtslebens an der Spitze gehalten. 

Die Versandbuchhandlung Fritz W. Egger in Miinchen 19 legt 
der heutigen Ausgabe einen Prospekt mit Inhaltsbeschreibung bei, und 
erklart sich bereit, das aktuelleWerk, wie auch jedes andere Buch 
gegen bequeme Teilzahlungen zu liefern. Bei Bestellung ersuchen wir, 
auf diese Zeitschrift Bezug zu nehmen. Kataloge stehen Interessenten 
auf Verlangen postfrei zu Diensten. Sollte jemand den Prospekt nicht 
erhalten haben, wolle derselbe direkt verlangt werden. 



Jahrgang I. Miinchen, 

No. 2. Mai 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

i| n„ n t T1 I P II mmi J .H.W4*JJ*l*.|-. I H* ^tli*II.JI*l'l***il»M *M*M»>**^*|ll»4l4l . <.|-.|''llfc» 

„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
ittr das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 



Appell an den Geist. 

Wir Menschen sind geschaffen, in Gesellschaft mit- 
einander zu leben; wir sind aufeinander angewiesen, leben 
voneinander, beackern miteinander die Erde und verbrau- 
chen miteinander ihren Ertrag. Man mag diese Einrich- 
tung der Natur als Vorzug oder als Benachteiligung ge- 
geniiber fast alien anderen Tieren bewerten: die Abhangig- 
keit des Menschen von den Menschen besteht, und sie 
zwingt unsem Instinkt in soziale Empfindungen. So- 
zial empfinden heisst somit, sich der Zugehorigkeit zur 
Gemeinschaft der Menschen bewusst sein; sozial handeln 
heisst im Geiste der Gemeinschaft wirken. 

Dies ist der Konflikt, in den die Natur uns Menschen 
gestellt hat: dass die Erde von unseren Handen Arbeit 
fordert, um uns ihre Friichte herzugeben, und dass unser 
Wesen bestimmt ist von Faulheit, Genusssucht und Macht- 
hunger. Wir wollen Nahrung, Behausung und Kleidung 
haben, ohne uns dafiir anstrengen zu miissen; wir wollen, 
fern von der Pein qualender Notwendigkeiten, beschau- 
lich gemessen; wir wollen Macht ausiiben iiber unsere 
Mitmenschen, um sie zu zwingen, uns unsre heitere Not- 



— 18 — 

entriicktheit zu sichern. Den Ausweg zu finden aus dieser 
Diskrepanz: das ist das soziale Problem aller Zeiten. 

Nie hat sich eine Zeit klaglicher mit dem Problem 
abgefunden als unsere. Der kapitalistische Staat, das trau- 
rigste Surrogat einer sozialen Gesellschaft, hat im Na- 
men einer geringen, durch keinerlei geistige oder mensch- 
liche Eigenschaften ausgezeichneten Minderheit die Macht 
iiber die gewaltige Mehrzahl der Mitmenschen okkupiert, 
indem er sie von der freien Benutzung der Arbeitsmittel 
ausschliesst. Sein einziges Machtmittel ist Zwang; ge- 
zwungene Menschen beschiitzen in gedankenloser Knecht- 
schaffenheit Faulheit und Genuss der privilegierten Macht- 
haber. Wild, sinnlos, roh, von keinem Brudergefuhl ge- 
bandigt toben die Menschen gegeneinander. Was sie 
als Macht erstreben, ist niichterner Besitz an materiellen 
Giitem. Der Kampf aller gegen alle ist kein Ringen um 
den Preis der Schonheit, der inneren Freiheit, der Kultur, 

— sondern eine groteske Balgerei um die grosste Kar- 
toffel. Auf der einen Seite Hunger, Elend, Verkommen- 
heit; auf der anderen Seite geschmackloser Luxus, plumpe 
Kraftprotzerei, schamlose Ausbeutung. Und all das cha- 
otische Getummel verstrickt in einem stahlernen Netz von 
Gesetzen, Verordnungen, Drohungen, die die bevorzugte 
Minderheit schuf, um ihrer Gewaltherrschaft das Ansehen 
des Rechts zu geben. 

Eine verlogene Ethik hat das Wissen um Wahrhaftig- 
keit und RechtUchkeit vergiftet. Rabulistische Advokaten- 
logik hat den guten, reinen und wahren Begriff der Frei- 
heit zum Popanz autoritarer Marktschreier verdreht. Die 
Verstandigung der Menschen geschieht im Kauderwelsch 
der Politik; der Wille der Menschen beugt sich unter 
abstrakte Paragraphen; das Ruckgrat der Menschen passt 
sich verkriimmten Uniformen an. 

Geknebelt ist der Gedanke, das Wort und die Tat, 

— geknebelt selbst die Sehnsucht nach Gerechtigkeit 
und Menschlichkeit. Die Seele des Menschen ist dem 
Staate beamtet, und der Geist der Menschen schlaft im 



— 19 — 

Kein Knirschen der Wut stort die Hast der Geschafte. 
Der Larm geht um den Profit; kein Stohnen der Verzweif- 
lung iibertont ihn. Wer aber warnend seine Stimme hebt, 
wer Menschen sucht, um mit ihnen zu bauen, aufzurichten 
das Werk der Freiheit, der Freude und des Friedens, dem 
gellt das Lachen ins Ohr derer, die sich nicht storen 
lassen wollen, derer, die Tritte empfangen und um sich 
treten, das Hohnlachen der Philister. 

Welche Ansicht der Mensch von den Dingen der Men- 
schen haben darf, ist vom Staate abgestempelt. Einzelne 
Einrichtungen des Staates, besondere Massnahmen darf 
er kritisieren, benorgeln, beschimpfen. Aber wehe dem, 
der der Faulnis der Gesellschaft in die Tiefe leuchtet. 
Er ist verfehmt, geachtet, ausgestossen. An Mitteln fehlt 
es den Philistem nicht, ihn unschadlich zu machen: sie 
haben ihre „6ffenliiche Meinung", sie haben die Presse. 
Wohl eifem auch die Organe der verschiedenen Parteien 
gegeneinander; wohl tuten auf der Jagd nach dem Profit 
in den Gefilden der offentlichen Meinung die Horner am 
lautesten und am schrillsten. Aber darin sind sie einig: 
der freie Gedanke, das freie Wort, die freie Sehnsucht 
darf keine Statte haben in ihrem Revier. Fin breiter Gra- 
ben zieht sich durch ihrer aller Lager; und in dem fliesst 
der Strom, mit dem wir schwimmen miissen. 

Hoch iiber den Ebenen, in denen die Philister einander 
in die Seiten puffen, ragt die Burg, darin der Geist wohnt. 
Der Literat und der Kiinstler wenden den Blick degoutiert 
ab vom Gewimmel der Menge. Was schert es sie, wie 
Hinz den Kunz iibers Ohr haut! Dem Bettler, der am 
Weg die Drehorgel leiert, gibt man mildtatig einen Gro- 
schen und geht seines Weges. Zu ihnen hinauf, in die 
Domanen der Kultur darf der Dunst des AUtags nicht 
steigen. Die Nase zu vor den Ausdiinstungen des Volks! 
Den Blick empor zu den reinen Hohen der Geistigkeit. 

Lachelnd spottet man bei den asthetischen Gelagen 
iiber den Snob, der auf die Tribune steigt und die Massen 
aufruft zum Kampf gegen Gewalt und Ausbeutung, fur 
Recht und Freiheit. Ein Sensationshascher und Reklame- 



— 20 — 

held, — im besten Falle ein verrannter Narr, dem es 
schon recht geschieht, wenn man inn ignoriert und boy- 
kottiert. Was geht inn die soziale Not des Volkes an ?! . . . 

Der Kiinstler, der sich allem, was die Umwelt angeht, 
so hoch iiberlegen diinkt, ist ein Philister. Seine bequeme 
Zufriedenheit hat nichts Erhabenes, sondern nur etwas 
Verachtliches. Er verschliesst die Augen vor dem Elend, 
in dem er selbst bis an die Knochel watet, und macht 
sich damit fur die Behorden zum Erwiinschtesten aller 
Staatsbiirger. 

Aber gerade der Kiinstler hatte tausendmal Grand, 
wiitend aufzubegehren gegen die Schandlichkeiten unse- 
res Gesellschaftsbetriebes. Sein Werk steht — und das 
muss so sein — jenseits der Marktbewertung. Unter 
den Zustanden, die uns umgeben, ist es daher iiberfliissig, 
wertlos, unniitz und mithin lacherlich oder gefahrlich. Der 
Kiinstler selbst gilt — sofem er nicht als Kapitalist an- 
dere Menschen fur sich arbeiten lasst — als Schmarotzer, 
als Schadling, als Verkehrs stoning. Soil inn seine Kunst 
ernahren, so muss er sie dem verrotteten Geschmack des 
Banausentums unterordnen, und er verkommt menschlich 
und kiinstlerisch. — Hat er aber die Mittel zum Le- 
ben, produziert er, wozu es inn treibt, so bleibt sein 
Werk den Mitmenschen fremd, und die hochste Freude 
des Schaffenden, mit seiner Arbeit Menschenseelen zu er- 
frischen und zu erhellen, bleibt ihm versagt. 

Aber er ist ja Esoteriker. Dim geniigt ja die Anerken- 
nung der Wenigen, derer, die „reif ' sind fur seine Kunst, 
die gleich ihm dem Spektakel des Lebens feme stehen. 
Ach, Schwatzerei! — Das ist eine matte, blutleere, diirftige 
Kunst, die nicht getrankt ist vom warmen roten Zustrom 
der lebendigen Wirklichkeit. Nur das sind noch immer die 
Zeiten der Kultur gewesen, in denen Geist und Volk 
eins waren, in denen aus den Werken der Kunst und 
des Schrifttums die Seele des Volkes leuchtete. 

Hir torichte Einsame, die ihr wahnt, oben in euern 
Ateliers andre, freiere Luft zu atmen, als die Masse auf 
den Platzen der Stadte! Auch ihr esst auf euerm Ko- 



— 21 — 

thurn das Brot, das Menschenhande gesaet, Menschen- 
hande gebacken, Menschenhande euch gereicht haben. Tut 
nicht, als waret ihr Besondere! Seid Menschen! Habt 
Herz ! 

Und besinnt euch auf die Unwiirdigkeit eurer Exi- 
stenz! — Ihr, die Ihr Werke schaffi, aus denen der Geist 
unsrer Zeit in die Zukunft flammen soil, sorgt, dass Eure 
Werke nicht liigen! — Helft Zustande schaffen, die wert 
sind, in herrlichen Taten der Kunst und der Dichtung 
gepriesen zu werden! Tauscht der Nachwelt nicht Bil- 
der vor, die das jammerliche Grau unsrer Tage in Gold 
malen! Seid keine Philister, da Ihr alien Anlass habt, 
Rebellen zlu sein! 

Paria ist der Kiinstler, wie der letzte der Lumpen! 
Wehe dem Kiinstler, der kein Verzweifelter ist! Wir, 
die wir geistige Menschen sind, wollen zusammenstehen, 
— in einer Reihe mit Vagabunden und Bettlern, mit Aus- 
gestossenen und Verbrechern wollen wir kampfen gegen 
die Herrschaft der Unkultur! Jeder, der Opfer ist, ge- 
hort zu uns! Ob unser Leib Mangel leidet oder unsre 
Seele, wir miissen zum Kampfe blasen! — Gerechtigkeit 
und Kultur — das sind die Elemente der Freiheit! — Die 
Philister der Borse und der Ateliers, zitternd werden sie 
der Freiheit das Feld raumen, wenn einmal der Geist 
sich dem Herzen verbiindet! 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung). 
Lieschen machte ein gleichzeitig verwundertes und erschrockenes 
Gesicht und sagte vor lauter Konsterniertheit garnichts. Auf der 
Treppe gab ich ihr noch rasch ein Geldstilck, damit sie bei den 
Laufereien und Fahrereien, die sie meinetwegen zu machen hatte, 
nicht in Verlegenheit kame. Ich eroffnete den Beamten, dass ich 
Droschke fahren wolle, und da am Savignyplatz kein Auto stand, 
suchte ich einen offenen Einspanner aus, dessen Rlicksitz verdeckt 
war. In diesen Verschlag setzte ich mich, meine beiden Hascher 
mit Wauwaugesichtern mir gegenilber. Der eine Polizist — einer 
mit langem hangendem blondem Schnauzbart und sehr wlirdiger 
Miene - nannte die Adresse des Polizeigefangnisses, hatte es aber 



— 22 — 

kaum notig; denn auch der Droschkenkutscher erkannte offenbar 
das Amt an seinen Tragern, ubersah sofort die Sachlage und nickte 
schon im Voraus verstandnisvoll mit dem Kopf. Wahrend der 
ganzen Fahrt wurde kein einziges Wort gesprochen. Ich dachte 
aber: Jetzt sollte ich eigentlich mit Lieschen nach der anderen 
Seite Berlins — zum Habsburger Hof — fahren. Am Ziel zahlte 
ich dem Kutscher, gab ihm noch 10 Pfennige Trinkgeld und ging 
meinen Haschern nach ins Polizeigebaude hinein. Man kann mich 
totschlagen: Ich weiss nicht mehr, ob ich dort Treppen steigen 
musste, ob ich in Hinterhauser geflihrt wurde oder wie die Bau- 
lichkeit beschaffen war. Diese nlichternen Bliro- und Qualhauser 
haben genau wie Polizeibeamte Visagen von stereotyper Aehnlichkeit, 
fur deren Einzelheiten man sich nicht im geringsten interessiert. 
Es war mir zunachst auch gleichgiltig, was man mich fragte; ich 
war nur etwas traurig. Jedenfalls wurde ich bei den ersten No- 
tierungen nicht respektlos behandelt. Der Beamte, der mich emp- 
fangen hatte, verliess den Raum, und ich sah mich allein mit 
zwei Beamten, von denen einer blond und vollig uninteressant aussah. 
Ich fragte mich, ohne auf eine Antwort zu kommen: 1st das nun 
eigentlich einer von den Herren, die mich von Hause abgeholt haben 
oder nicht? — Der andre dagegen wird mir in Erinnerung bleiben. 
Ganz niedrige Stirn; schwarze, pomadisierte, gescheitelte, das Ge- 
sicht, besonders die Stirn eng umgrenzende Haare; gelbe Augen; 
kleine, aber abstehende Ohren; graue Hautfarbe; tiefe, lange Backen- 
falten; ein schwarzer Schnurrbart ilber einem schiefen Mund. Ich 
ging, die Hande auf dem Rucken, nervos in der Blirostube umher. 
Ein Junge kam, der bestatigen sollte, ob zu dem ihm gestohlenen 
Fahrrad eine Satteltasche gehort hatte, die ihm vorgelegt wurde. 
Der Junge verneinte und ging wieder. Es wurde festgestellt, dass 
der Dieb also zwei Fahrrader gestohlen haben musste. Ich sah 
ohne irgendeine Absicht, nur mit dem dumpfen Gedanken: was 
wird nun eigentlich aus alledem? — die Polizeimenschen an. Da 
verzog sich plotzlich das eben beschriebene Gesicht zu einem Grin- 
sen, so hohnisch und schadenfroh, dass ich es ganz erstaunt an- 
blicken musste, wie man gerade am Interessiertesten und Gespannte- 
sten dahin zu schauen pflegt, wo sich dem Auge etwas unsagbar 
Schaudervolles zeigt. Das Kinn zog sich schief nach einer Seite. 
Die Backenfalten verbreiterten sich. Die ohnehin lacherlich ge- 
ringfilgige Stirn wurde von den sich hinaufziehenden Augenbrauen 
vollig verdeckt. Die hiigelige Nase wackelte, und unter dem Schnurr- 
bart wurden grosse, schiefgestellte, stockige Zahne sichtbar, die 
mich anfletschten. Als ich mich von dem Schrecken liber seinen 
Anblick einigermassen erholt hatte, das Grinsen aber noch immer 
nicht aufhorte, fuhr ich den Menschen plotzlich so laut an, dass 



— 23 — 

der andere Beamte erschrocken die Hacken zusammenklappte: „Was 
haben Sie zu lachen!?" — Die Visage verrunzelte sich zu einer ver- 
legenen Grimasse: „Ich kann doch lachen, wenn ich will." „Wenn" 
sagte er. Ich schrie auf ihn ein: „Sie haben kein Recht mich aus- 
zulachen. Wollte ich Sie angrinsen, wurden Sie mich wegen Be- 
amtenbeleidigung anzeigen. Sie haben mich genau so anstandig 
zu behandeln, wie Sie es von mir verlangen. Ich lasse mich nicht 
von Ihnen verhohnen." Meine Worte bewirkten, dass sich das Ge- 
sicht wieder in den gewohnten Faltenwurf auseinanderrollte, sodass 
der Mann bei meinen letzten Worten wieder genau so dastand wie 
vor seiner Teilnahmsausserung. Nach diesem Intermezzo kam, wahr- 
scheinlich durch meine laute Stimme herbeigelockt, der Kommissar 
— ich vermute, dass er so etwas war — wieder herein und liess 
mich abfiihren. Man — wer, weiss ich nicht mehr, wusste es auch 
wohl kaum, wahrend es geschah — , man brachte mich eine Eisen- 
stiege hinunter und ilbergab mich einem Aufseher. — Ich vergass 
zu berichten, dass ich oben alles aus meinen Taschen herausnehmen 
musste. Das Geld wurde nachgezahlt. Ich hatte 171 M. 45 Pf. 
nebst einem alten dicken russischen Kopekenstuck aus dem 17. 
Jahrhundert, das mir Clare mal als Glucksmunze geschenkt hatte 
und einer ungebrauchten bayerischen 10-Pfennig-Briefmarke. Dann 
kramte auch noch der Beamte in meinen Taschen nach, sogar die 
Weste musste ich dazu aufknopfen. Aber ich hatte schon alles 
selbst herausgelegt, die vielen Papiere und Papierchen — es waren 
allerdings seit der Haussuchung am Mittwoch nicht mehr halb- 
soviel in den Taschen wie vorher — , die Brieftasche, die viele 
Visitenkarten von mir und anderen enthielt, auch Heftpflaster und den 
Kontrakt mit Henry; mein Notizbuch, meinen Bleistift, Und was sonst 
noch in meinen zahllosen Rock-, Westen-, Hosen- und Manteltaschen 
gewesen sein mag. Man brachte mich also dem Gefangenenaufseher 
des Charlottenburger Polizeigefangnisses, nicht ohne mir auch noch 
den dicken Spazierstock und sogar den Kneifer abgenommen zu ha- 
ben. In dem Aufseher, in dessen Gewahrsam ich mich nun befand, 
lernte ich an diesem Abend den ersten Menschen kennen, der mich 
weder mit schadenfroher Bosheit, noch mit beamtenmassig korrekter 
Starrheit behandelte, sondern der mir wirklich menschlich entgegen- 
kam. Ich machte seitdem die Beobachtung, dass alle Gefangnisauf- 
seher, mit denen ich zu tun hatte und habe, bestrebt scheinen, 
denen, die ihrer Macht unterstellt sind, als Menschen zu begegnen 
und womoglich eine dem Polizeicharakter gegensatzliche Natur her- 
vorzukehren. Das wird daran liegen, dass der Polizist gewohnt ist, 
in seiner amtlichen Tatigkeit im Menschen nur den Verbrecher zu 
suchen, wahrend sich der Gefangnisbeamte gerade in seiner amt- 
lichen Tatigkeit daran gewohnt, im Verbrecher den Menschen ken- 



— 24 — 

nen zu lernen. Die personliche Freundlichkeit des Mannes fiel mir 
um so sympathischer auf, als es ihm oblag, mich der allerunange- 
nehmsten Prozedur zu unterziehen. Er nahm mir namlich zu allem 
ilbrigen auch noch Hosentrager, Stiefel, Kragen und Krawatte ab. 
Aber den silbernen Ring mit dem Mondstein durfte ich an der Hand 
behalten. Dann musste mir der Aufseher noch einmal den Anzug 
durchsuchen, wobei er den ganzen Korper abtastete, selbst die 
Stellen, deren Berilhrung ich mir weit lieber von schonen Frauen- 
handen gefallen Hesse. Diese Untersuchung nahm er aber mit 
soviel Rucksicht vor, wie sie eben zuliess, namlich mit fortgesetzten 
Entschuldigungen, dass dies seine Pflicht sei und dass es im ilbri- 
gen auch schnell erledigt sei. Inzwischen horte ich eine nahe Kirch- 
uhr schlagen und stellte fest, dass es halb 9 Uhr war. Ich war also 
gerade eine Stunde in Polizeigewalt und uberlegte, dass wir jetzt 
im Habsburger Hof mit einem recht guten Essen fertig waren und 
langsam ans Aufbrechen denken mussten. Dabei fiel mir ein, dass 
ich eigentlich Appetit hatte und ich fragte, ob ich nichts zu essen be- 
kame. Der Aufseher erwiderte, dass Linsensuppe da sei, da ich 
die aber wahrscheinlich nicht moge, wolle er sehen, ob er nicht 
etwas anderes beschaffen konnte. Nach einer Weile kam er mit 
einem Teller Milchreissuppe an, die er mir als sehr gut pries. Ich 
nahm ein paar Loffel davon, ohne Gefallen an dem Souper zu fin- 
den, und versicherte dem Aufseher aus Hoflichkheit, dass die Auf- 
regung, in der ich sei, mir zu weiterem Essen den Appetit verlege. 
Ich wurde nun in eine dunkle Zelle geleitet, deren ganze Einrich- 
tung in einer schmalen Holzbank und einem kleinen Tisch daneben 
bestand, auf dem ein Krug Wasser stand und einige Brotreste lagen. 
Dort wurde ich zunachst eingeschlossen und sass auf der Holzbank, 
ohne das Geringste sehen zu konnen. Es schlug drei Viertel, und ich 
sah im Geiste den Zug aus dem Anhalter Bahnhof dampfen, in 
dem ich von Rechts wegen hatte sitzen sollen. Ich sass auf mei- 
ner schmalen Bank in meiner stockfinsteren Kellerzelle und dachte 
an — Verschiedenes. Es schlug langsam, sehr vernehmlich, sehr 
korrekt und etwas unheimlich 9 Uhr. Jetzt kam mir vor, werden 
es die Bekannten allmahlich schon erfahren. Lieschen wird es ins 
Cafe gebracht haben. Auf den Redaktionen werden sich die liberalen 
Schmocke fragen, ob man filr oder gegen mich sein solle, ob man 
mich als gemeingefahrlichen Verbrecher zum Gruseln oder als harm- 
losen Wichtigtuer zum Belacheln den Lesern zum Frlihstuck servieren 
solle .... Der Aufseher schloss mit klirrenden Schlilsseln die 
Eisentiire auf und teilte mir beschwichtigend mit, dass ich jetzt ein 
Nachtlager erhalten solle. Darauf weckte er jemand ,der in einer 
benachbarten Zelle schlief und brachte nach kurzer Zeit mit dem 
eine aus drei losen Strohkissen zusammenzusetzende Matratze herein; 



— 25 — 

darauf kam ein Tuch und dann zum Zudecken eine Pferdedecke. 
Ich durfte noch ein meiner Zelle gegenuberliegendes Oertchen auf. 
suchen, dann konnte ich mir's auf meinem Lager „bequem" machen. 
Ich zog mich also im Dunkeln aus, tastete mich auf dem Steina 
boden zu meinem „Bett" und versuchte zu schlafen. An dem mor- 
derlichen Jucken, das ich am ganzen Korper empfand, und an der 
Haufigkeit, mit der sich die nahe Kirchuhr meldete, die ganz 
piinktlich Viertelstunde fur Viertelstunde anschlug, merkte ich, wie 
wenig mir meine Absicht gelang. Ich sah mit der grossten Le- 
bendigkeit eine Unmenge meiner Bekannten, beteiligte mich an 
Gesprachen tiber letzte Wahrheiten und Weisheiten, filhrte juristische 
Disputationen fiber den wahrscheinlichen Inhalt der Paragraphen 128 
und 129, die ich fortgesetzt verletzt haben sollte, und von deren 
Bedeutung ich keine Ahnung hatte, stand vor Gericht und iiber- 
zeugte in einer forensischen Meisterleistung das Auditorium von 
der Unsinnigkeit jeglicher Justiz, rief mit Lebhaftigkeit nach dem 
Kellner, um filr mich einen Kaffee schwarz, fur Spela einen Cognak 
zu bestellen, dankte nach der Premiere meines neuen Stlickes filr 
den Applaus, riet den Genossen energisch ab, mit Bomben zu wer- 
fen, bat Clare um einen Kuss und Herrn K. um 2000 M. Vorschuss 
gestand Gertrud L. meine Liebe und widerlegte H. W. seine Exi- 
stenzberechtigung, kurz: ich hatte tausend Wachtraume, die mir durch 
die infame Kirchturmuhr alle Viertelstunde als Wachtraume besta- 
tigt wurden Endlich ging ich auf Flohjagd, was bei der 

unausgesetzten Bemerklichkeit des Jagdwildes, zugleich aber bei der 
volligen Dunkelheit der Nacht ebenso kurzweilig wie ergebnislos 
war. Wirklich: gelangweilt habe ich mich diese Nacht garnicht, 
im Gegenteil wunderte ich mich bei jedem Anschlagen der Uhr, 
dass wieder eine Viertelstunde vorbei ging. Besonders hiibsch war 
es, wenn eine voile Stunde herum war. Dann zahlte ich ganz lang- 
sam; mit. Erst vier Schlage: hell, schneidig, beamtenhaft, im ge- 
messenen Abstand hinter einander her. Dann die Zahl der Zeit- 
stunde, deren erster Anhieb nach einer Erholungspause erfolgte: ein 
tiefer, ehrwurdiger, im Dienst ergrauter Ton, von langem Atem, 
der ganz ausstromte. Erst dann folgte ihm ein gleicher, mit dem- 
selben Anstand und demselben Wertbewusstsein. Jede Stunde aber 
schloss sich ein neuer Ton den Kollegen an, der als letzter nach- 
hallte wie das Sabelrasseln eines Wurdentragers, nachdenklich schlep- 
pend, und doch blasiert und gebieterisch. Ich freute mich jedes- 
mal, wenn es wieder einen Schlag mehr gab; es kam mir vor, als 
sei das immer als eine Ueberraschung fur mich gemeint, obgleich 
ich doch vorher wusste, wie oft es anschlagen wlirde. Ich kann mir 
kaum eine grossere kindliche Vorfreude denken, als die, die ich 
nach elf Uhr empfand, dartiber, dass ich das nachste Mai zwolf 



— 26 — 

Schlage zahlen durfte. Aber vor ein Uhr hatte ich eine formliche 
Angst davor, nach den vier Subalternbeamten nur einen einzigen 
grabartigen Herrn heranprusten horen zu sollen. Als es voriiber- 
war, atmete ich auf, fand es aber ganz fad, dass es nun fiir viele 
Stunden mit dem langen Aufmarsch der Honoratioren zu 
Ende sei. Die zwei Schlage der nachsten Nachtstunde interessierten 
mich schon garnicht mehr — und dieses Einschlafen meines Interesses 
fiir die Kirchturmuhr mag es bewirkt haben, dass sich aus dem 
Wulst von Eindriicken, Vorstellungen, Merkwiirdigkeiten und Emp- 
findungen ein Netz wob, das meine Glieder zu schwerem Schlaf 
auf die Matratze niederzwang. 

(Fortsetzung folgt.) 



Biicher. 

Max Reinhardt von Siegfried Jacobsohn. Erich Reiss Verlag 
Berlin 1911. 

Siegfried Jacobsohn will dieses Buch nicht als Kritikensamm- 
lung betrachtet wissen, obwohl es aus einer Aneinanderreihung Ja- 
cobsohnschen Kritiken besteht. — In der Tat bedeutet das Werk 
weit mehr als eine Artikelzusammenstellung. Es bedeutet eine Cha- 
rakteristik Reinhardts als Regisseur und als Kulturwert, die als 
theatergeschichtliches Dokument Anspruch auf die ernsteste Beach- 
tung hat. Maximilian Harden hat Jacobsohn vor Jahren den besten 
Berliner Theaterkritiker genannt. Jedenfalls ist er der, der mit 
der grossten Liebe, mit der strengsten Sachlichkeit dabei ist. Er 
schreibt iiber Theater weder als Kiinstler wie Kerr, noch als Philo- 
soph wie Julius Hart, sondern weil ihm die Schaubiihne das Wich- 
tigste auf der Welt ist. Das ist fast riihrend an Jacobsohn, dass 
man ihm zutrauen muss, er sieht alles Geschehen der Welt, alles, 
was das wirkliche Leben bietet, aus der Perspektive einer vor- 
derer! Parkettreihe, sozusagen durchs Opernglas. Bei dieser steten 
Einstellung der Augen auf den Buhnenrahmen sieht er kritischer 
als andere, was auf den Brettern vorgeht. Sein Urteil ist 
sicher, ruhig und im ehrlichen Willen gerecht. Umso zufriedener 
kann Max Reinhardt mit dem Buch sein, aus dem immer unter 
dem niichternen Bemiihen um objektiv kritische Beurteilung der 
einzelnen Leistungen die helle Verehrung, die freudigste Zustim- 
mung hervorquillt. Jacobsohns Liebe zu Reinhardt hat etwas Wun- 
derschones. Er vergleicht sich selbst mit dem getreuen Horatio, 
der das Werk des Meisters der Nachwelt zu erklaren hat. So baut 
er dem Theatermann, der in noch hoherem Masse als Laube die 
Buhnenkunst kiinstlerisch reorganisiert hat, ein Denkmal, das nicht 
nur schon und schmeichelhaft ist, sondern dazu auch portratahnlich. 
Reinhardts Bedeutung fur das moderne deutsche Theater wird scharf 
sichtbar. Die Liebe des Jiingers hat sein Werk in das strahlende 
Licht gestellt, in das es gehort . . . Dass Jacobsohn aus den 
Kritiken, die fiir den Augenblick geschrieben waren, und nun der 
Zukunft iibergeben werden, Harten, besonders gegen Schauspieler, 
gestrichen hat, ist zu loben. Doch hatte er da noch strenger gegen 
sich vorgehen konnen. Es darf nicht sein, dass ein Kiinstler von 
der uberragenden Bedeutung Albert Steinriicks in einem Buch, das 



— 27 — 

den Spateren eine Handhabe fiir die Beurteilung unserer zeitgenossi- 
schen Theaterkunst bieten soil, um einzelner Leistungen willen, die 
Jacobsohn missfallen haben, schlecht behandelt wird. Ich wiinsche 
dem Werk — um Jacobsohns und um Reinhardts willen — weitere 
Auflagen, in denen dann auch dieser Schaden kuriert werden mag. 

Das Madchen mit den drei Unterrocken von Paul de Kock. Ueber 
setzt von E. Scharf - Somssich. Verlag Dr. R. Douglas. — Miin- 
chen 1910. 

Eine amiisante Belanglosigkeit. Sehr biirgerlich, manchmal 
albern und etwas sentimental. Warum aus den zahlreichen Wer- 
ken Paul de Kocks gerade dieses Buch ubersetzt werden musste, 
ist schwer einzusehen. Sollte der deutschen Familie gezeigt wer- 
den, dass der verponte Franzose zu Unrecht im Rufe der Frivoli- 
tat steht ? Da tate man dem Dichter Unrecht. Es ist zwar lange her, 
seit ich von Paul de Kock zuletzt ein Buch las, auch hat mir 
nichts von allem, was mir von ihm unter die Finger kam, einen 
bemerkbaren Eindruck hinterlassen; soviel aber weiss ich noch, dass 
ich ihn nach der Lektiire anderer Biicher als einen Schriftsteller 
beurteilte, der es darauf anlegte, in der Art zu zoten, wie an 
kannegiesserischen Stammtischen gezotet wird: ohne echte Derb- 
heit, aber mit dem stillen Feixen, das den Burger ziert, wenn er 
verbotene Wege wandelt. In dem vorliegenden Roman fehlt das 
Element der Zote ganz, und es ist nicht zu leugnen, dass dadurch 
hier und da ein Gefuhl der Oedigkeit erweckt wird. Immerhin 
aber: man lachelt auch mal, und freut sich schliesslich, dass das 
Madchen mit den drei Unterrocken die ganzen 244 Seiten hin- 
durch brav bleibt und dass ihre Tugend iiber die Luste der unter- 
schiedlichen Herren, die nach ihren Reizen gieren, — und es 
sind uberfuhrte Gewissenlose! — leuchtend siegt. Uebersetzt ist 
das Buch vortrefflich, auch die Ausstattung ist recht gut. Doch 
hatte der Herausgeber nicht zulassen sollen, dass der Verlag dem 
Roman ein Vorwort beigab, bei dem man nicht umhin kann, das 
Maul zu verziehen und „wie neckisch !" zu sagen. 



Bemerkungen. 

Schonherrs Plagiat. Die triefende Seligkeit der liberalen 

Feuilletonisten iiber das Theaterstiick des Herrn Karl Schonherr, 
osterreichischen Heimatkiinstlers, worin die ultramontane Grausam- 
keit dialektecht in drei Akten gestaupt wird, ist gekitzelt worden und 
hat sich in flammende Gesinnungstiichtigkeit gewandelt. Man zeigt 
sich in hohem Masse emport dariiber, dass die mit dem Grillparzer- 
preis belohnte Arbeit nicht bios mehr in ihrer dichterischen Bedeut- 
samkeit von manchen angezweifelt wird, sondern selbst hier und 
da als — sagen wir: bedenklich beeinflusst gilt. Ein Stuck, 
in dem das „Inwendig" des Protestanten iiber die rohe Gewalt 
der Katholischen siegt! Mussen nicht die Aufgeklarten, die Frei- 
geister, die Atheisten (solange keine Oster- oder Pfingstnummer zu 
redigieren ist) auf Seiten der Ketzer stehen, die der gar harte Reiter 
um des Glaubens willen aus der Heimat jagt? Sie mussen. Und 



— 28 — 

wenn es samtlichen evangelischen Pastoren noch so unangenehm 
sein mag, die Liberalen und Monisten, die Freidenker und Atheisten 
flihlen sich ihnen treu verbrlidert, wenn — den katholischen Fanati. 
kern der Gegenreformation? ach wo: wenn dem Zentrum von heut- 
zutage eins ausgewischt wird. 

Mit Rott fiir Glauben und Vaterland! Wer das Stichwort ge- 
geben hat, ist ein begnadeter Dichter; wer seine Genialitat bestreitet, 
ist ein Idiot; wer ihm Abschreiberei vorhalt, ist ein Schurke! 

Ich nehme mir heraus, Herrn Schonherrs „Glaube und Hei- 
mat. Tragodie eines Volkes" als einen larmoyanten Schmarrn zu 
bezeichnen. Eine melodramatische Birch-Pfeiferei ist das, an der 
nichts echt ist, ausser dem Dialekt. Ein sentimentaler Reisser, 
zusammengebraut aus Schmalz und Erdgeruch .... Dazu haben 
wir den ganzen naturalistischen Sturm und Drang durchgemacht, 
dazu haben wir Hebbel, Grillparzer, Kleist, Ibsen in unsaglicher 
Mlihe dem Verstandnis der Zeit erkampft; dazu hat Frank Wedekind 
mit seiner rebellischen Dramatik das Gespott eines Jahrzehnts zum 
Schweigen gebracht, dass das erstbeste rtihrselige Bilderbogen-Drama, 
wenn es nur Gesinnung zeigt und btihnentechnisch geschickt ge- 
macht ist, die ganze Gilde der deutschen Literaturkundigen platt 
auf den Bauch schmeisst! — Man sehnt sich nach Sudermann. Dessen 
tappisch-routinierte Matzchen sind uberall noch tausendmal ertrag- 
licher als die taufrischen Schmachtlappigkeiten dieses Herrn Schon- 
herr. Nie ist die schlappengewohnte Jury der dramatischen Dichtkunst 
blamabler reingefallen als bei der Preiskronung dieser kulissenttichti- 
gen Drehorgelromanze. 

Nun stellt sich aber zum Ueberfluss auch noch heraus, dass 
der Preistragodie eine Anzahl von Eigenschaften fehlen, die notig 
waren, um der Arbeit die Anerkennung als selbstandige Leistung 
zu sichern. Zuerst wies in der „Schaubiihne" Lion Feuchtwanger 
darauf hin, dass Schonherrs „Glaube und Heimat" abhangig ist 
von den beiden Romanen der Handel-Mazzetti: „Jesse und Maria" 
und „Die arme Margaret". „Wer naher zusieht," schrieb Feucht- 
wanger, „merkt bald, dass Schonherr eigentlich sein Bestes seinen 
Quellen verdankt." Es folgt dann eine kritische Gegenuberstel- 
lung der Art, wie die Original-Dichterin den Stoff anfasste, und wie 
ihn Schonherr behandelte, und der Empfanger des Grillparzerpreises 
schneidet recht ttbel dabei ab. — Frau Handel-Mazzetti selbst pro- 
testierte dann offentlich gegen die Ausschlachtung ihres Werks. 
Ein stiddeutsches Zentrumsblatt unternahm es, Zitate aus beiden 
Autoren einander gegenuberzusetzen, und da zeigte sich, dass die 
Abhangigkeit Schonherrs von seiner katholischen Landsmannin, was 
auch Feuchtwanger schon behauptet hatte, bis zur Uebernahme von 
Worten ging; und zwar nicht zufallig irgendwann einmal, sondern 



— 29 — 

wiederholt und so auffallig, dass man zur genaueren Kennzeichnung des 
von Schonherr geiibten Verfahrens kaum wird auf das Wort Plagiat 
verzichten konnen. 

Die liberale Presse war genotigt, zu dem Vorwurf, dem der 
sonst vor ihr verhatschelte Pater Expeditus Schmidt in offentlichen 
Vortragen Ausdruck gab, Stellung zu nehmen. Ihre Haltung war 
von vornherein gegeben: sie musste schiitzend ihre Fittiche iiber 
ihren bedrangten Liebling ausbreiten, wie die Gluckhenn' bei Schon- 
herr: „i breit' mich iiber enk; i lass' euch nix g'schehen an Seel' 
und an Leib." So Hess sie sich zunachst vom Dichter selbst be- 
statigen, dass er nicht plagiiert habe; alsdann druckte sie einige 
von den belastenden Zitaten ab, aus denen denn auch zu ersehen war, 
dass der sowohl bei der Handel-Mazzetti wie bei Herrn Karl Schon- 
herr vorfindliche Gedanke immer nur in einzelnen Worten, nie- 
mals aber im ganzen Satzgefiige iibereinstimmte. Nachdem man 
erstaunt die durch einen vertikalen Strich getrennten Parallelstellen 
gelesen und kopfschiittelnd festgestellt hatte, dass es doch wohl 
fur Herrn Schonherr sehr schwer sein miisse, sich zu rechtfertigen, 
stiess man dann auf das redaktionelle Resume Das aber erklarte 
mit schoner Unbefangenheit: Na also. Jetzt ist die Be- 
hauptung, Schonherr habe plagiiert, doch wohl ein fiir allemal 
widerlegt. Aus solchen einzelnen zufalligen Aehnlichkeiten kann 
nur boser Wille bewusste Beeinflussung herleiten wollen. — Dass 
die einzelnen zufalligen Aehnlichkeiten dutzendweise auftreten, wird 
um der guten Sache willen nicht naher beachtet. Die gute Sache 
ist namlich langst keine literarische und kulturelle mehr, sondern 
eine politische. Es ist die Sache des Liberalismus gegen das Zen- 
trum. Einer, der die Aufkliirung iiber den klerikalen Zwang siegen 
lasst, darf kein Plagiator sein. Das geht nicht. 

Wie ich hore, ist das bisher veroffentlichte Material noch 
lange nicht alles, was als Beweis fiir Schonherrs literarische Frei- 
beuterei vorliegt. Allerlei Ueberraschendes steht noch in Aussicht. 
Eines Tages werden auch in den liberalen Zeitungen die Fanfaren 
plotzlich schweigen, und es wird eine beklommene Stille sein. Aber 
nachher, wenn sich die ausverkauften Hiiuser entleert haben, dann 
wird man schon immer vor der Ueberschatzung eines Werks gewarnt 
haben, das man von vornherein als die plumpe Mache eines senti- 
mentalen und unselbstiindigen Stumpers erkannt hatte. 



Krawall, Revolte, Revolution. In der Pfalz haben in der jiingsten 
Zeit Krawalle stattgefunden, weil die bayerische Regierung die Wein- 
stocke der bauerlichen Winzer durch Gendarmerie gewaltsam ein- 
reiben liess. Die Erfahrungen, die die Bauern bisher mit den ihnen 
von oben aufoktroyierten Schutzmitteln gegen die Reblaus gemacht 
haben, miissen recht triibe sein, wenn sie sich zu gewaltsamem 
Widerstand gegen den behordlichen Eingriff entschliessen. Es ge- 



— 30 — 

gehort schon ein betrachtliches Mass von Verzweiflung dazu, bei 
der Entsetzlichkeit der Aufruhrparagraphen im deutschen Reichs- 
Strafgesetzbuch, die Justiz herauszufordern. — Jedoch: die Reb- 
laus-Schutzmassnahmen sind ja zum Besten der Pfalzer Winzer an- 
geordnet worden. Was dem unter Weinreben aufgewachsenen Pfal- 
zer taugt, ist im Miinchner Parlament per Majoritats-Abstimmung be- 
schlossen worden. Straubt er sich gegen die Wohltat, die ihm 
geschieht, so fliegt er in den Kerker. Es ist doch hiibsch, dass 
Vater Staat sich seiner Kinder annimmt I 

Die bayerische Regierung wird die Rechtsprechung mobil ma- 
chen. Es wird kraftige Freiheitsstrafen geben, und die Beschlusse 
der Gesetzmacher werden Geltung erlangen, ob auch die von der 
Wohltat Betroffenen flirchten, daran zugrunde gehen zu mlissen. 
Weit schwieriger gestaltet sich fur die franzosische Regierung die 
Widersetzlichkeit der Winzer des Marne-Bezirkes gegen die Aus- 
filhrung des Beschlusses, ihnen die Vergiinstigung des Namensschutzes 
fiir ihren Champagner zu entziehen, mit der sie vor wenigen Jahren 
kummerlich Katastrophen der Verzweiflung vorbeugte. Diese Cham- 
pagner-Bauern sind rabiate Kerle. Sie kampfen ohne Rlicksicht 
darauf, dass durch ihr Monopol die Nachbarn in Not und Elend ge- 
raten, filr ihre Existenz. Ihre Wut richtet sich gegen die kapitalisti- 
schen Sektfabrikanten, denen sie die Lager zerstorten, deren Weinvorrate 
sie vernichteten. Gerade dieses Loswliten gegen die, die aus ihrer 
Arbeit den reichsten Nutzen Ziehen, beweist den Charakter der Un- 
ruhen als Hungerrevolten. Die franzosische Regierung aber ist in 
einer bosen Zwickmilhle: Gewahrt sie den Marne-Winzern was sie ver- 
langen, so ist die ganze iibrige Champagne benachteiligt, und der 
Brand, der in Epernay notdlirftig geloscht ist, flackert an etlichen 
anderen Orten auf. — Wer aber an der Vortrefflichkeit der kapi- 
talistischen Wirtschaftsordnung zweifelt, ist ein Hallunke. 

Mexiko steht seit Monaten in Revolution. Weiss irgend ein 
deutscher Zeitungsleser, worum es sich handelt ? Man liest von 
Schiessereien, Zusammenstossen, Erfolgen und Misserfolgen bald der 
Regularen, bald der Aufstandischen. Was aber das Volk rebellisch 
gemacht hat, danach wird man Morgenblatt und Abendblatt ver- 
gebens um Auskunft bitten. Zur Orientierung diene folgendes: 
Die wesentlichste Veranlassung zu der mexikanischen Revolution 
war ein Gesetz, nach dem ein Jeder beliebige Landdistrikte fiir 
sich begehren durfte, sofern der Besitzer nicht einen „vollkomme- 
nen Rechtsanspruch" auf das Grundsttick geltend machen konnte. 
Da das Land stets gewohnheitsrechtlich in den Handen der Bauern 
war, die es vom Vater und Grossvater ubernommen hatten, konnte 
das kaum einer. Das neue Landgesetz war eben in Kraft, da 
bildeten sich Landgesellschaften, die durch Agenten ermitteln lies- 
sen, wo schone und fruchtbare Landereien seien, deren Inhaber 
keinen „vollkommenen Rechtsanspruch" darauf hatten. Der Be- 
sitzer, der keine Urkunde vorzeigen konnte, wurde dann durch ge- 
setzliche Gewalt von der Scholle getrieben, die seine Familie viele 
Generationen lang bebaut hatte. Natlirlich ging das nicht immer 
ganz glatt vonstatten. Die Bauern leisteten Widerstand, Militar 
riickte an, Maschinengewehre knallten, — die Revolution war im 
Gange. Der Vater der neuen Landgesetze heisst Porfirio Diaz 
und ist President der Republik Mexiko. Der Vater der Landgesell- 
schaften und unternehmendste Grundstilcksexpropriateur heisst Ro- 
mero Rubio und ist der Schwiegervater des Prasidenten. — Ich 



— 31 — 

teile die Tatsachen, iiber die der „Sozialist" nach dem ,. American 
Magazin" ausfiihrlicher berichtet hat, den Lesern mit, weil ihnen von 
den Tageszeitungen zugemutet wird, sich fiir das diplomatische Ver- 
halten der Vereinigten Staaten zu den Vorgangen in Mexiko zu 
interessieren. 

Jacp/v und Kerr. Das Ehepaar Cassirer-Durieux scheidet aus. Denn 
die Historie, die dem immer noch larmenden Literaten-Disput zu- 
grunde liegt, ist veraltet. Man brauchte sich iiber das spasshafte 
Verhalten des Herrn Polizeiprasidenten v. Jagow nicht iiber die 
Massen aufzuregen. Er hatte, ahnlich wie seinerzeit der Haupt- 
mann von Coepenick, den Stoff zu einem ausgezeichneten Schwank 
geliefert, bios mit dem Unterschiede, dass der Sieger von Moabit 
als Leidtragender, der Schuster Voigt aber als Held aus seinem 
Abenteuer hervorging. Tragisch zu nehmen war das Ausrutschen 
aus dem Objektiv-Amtlichen ins Subjektiv-Mannliche keineswegs. Im- 
merhin aber war es wertvoll zu wissen, dass der Huter der Polizei- 
zensur, die jawohl bestimmt ist, uns die Geschlechtlichkeit der 
Menschen als etwas Unzuchtiges bewusst zu machen, sein Zensur- 
patent als geeignete Visitenkarte ansah, um sich den Zutritt zum 
Boudoir einer Dame zu verschaffen. Man durfte erwarten, dass 
ringsum ein drohnendes Gelachter ausbrache, und dass jeder, den 
sein Beruf in Gefahr bringt, gelegentlich von der synodalen From- 
migkeit der Zensur um den Ertrag seiner Arbeit gebracht zu wer- 
den, sich der Publikation des Jagow-Briefes redlich freute. Aber 
der Herr Polizeipriisident fand da Freunde, wo er sie gewiss am 
wenigsten vermutete: in den Literaturcafes. Aufrechte Kulturhiiter 
setzten ihre ernsthaftesten Mienen auf und verteidigten beweglich 
den Mann, der unter der Uniform steckte. Als Objekt der Ent- 
riistung aber warfen sie einen der ihren der Menge vor, den, der 
den Brief der Oeffentlichkeit zum Lesen gezeigt hatte, Herrn Al- 
fred Kerr. Wieder einmal das alte Schauspiel: Wo einmal die 
deutsche Geistigkeit Gelegenheit hat, Solidaritat zu zeigen, fallt 
sie ubereinander her. Alle Veriirgerten, die durch den Witz, die 
Kritik, die Aggressivitat Kerrs einmal mitgenommen wurden, fiihlten 
den Augenblick der Vergeltung gekommen. Jagows Brief wurde 
als harmlos, unanstossig .gentlemanlike erklart, — oder, weil man 
doch modern und vorurteilsfrei ist, argumentierte man: wenn der 
Polizeichef an einer schonen Kunstlerin Gefallen findet, so ist das 
genau so Privatsache, wie wenn ein Kasehandler eine Eierfrau um 
ihre Gunst bittet. Zunachst stimmt schon das nicht: das Innen- 
leben des Mannes, der die Sittlichkeit einer ganzen Millionenstadt 
kontrolliert, der jede Frau, die aus ihren Reizen ein Geschaft macht, 
unter seine Kontrolle bringt; der jede private Liebesbezeigung zwi- 
schen zwei Miinnern, sobald er davon erfahrt, zu einer offentlichen 
Angelegenheit macht, indem er die Betroffenen dem Strafrichter 
zufiihrt, — das Innenleben dieses Mannes muss die Oeffentlichkeit 
im hochsten Grade interessieren. Die Polizei lebt davon, dass sie 
das personliche Verhalten jedes Einzelnen bewacht, beschniiffelt 
und registriert, und dem Prasidenten dieser Institution solle man 
ein Privatleben zubilligen?! — Im akuten Fall aber hat der Herr 
sich noch ausdriicklich auf seine Amtsstellung berufen und sich 
damit der Adres satin selbst im Gliinze seines Schutzmannshelms 
prasentiert. Der Vorwurf, Kerr habe roh die Hulle von einem 
zarten Gefiihl gerissen, ist daher ganz unberechtigt. Das Gefiihl 
kann noch so zart gewesen sein, die Hulle war offentliches Eigen- 



— 32 — 

rum. Kerr hatte das Recht, sie vor aller Augen um und um zu 
wenden. Jeder von denen, die heute in heiliger Emporung iiber 
Kerr herfallen, hatte den Brief Jagows an Desdemona unbedenklich 
veroffentlicht — und wahrscheinlich weniger geistreich glossiert als 
Kerr es tat. Ich werfe den Herren, die aus dem Falle Jagow einen, 
Fall Kerr gemacht haben, keine Unehrlichkeit vor. Es liegt in der 
schwachen Natur der Menschen, im Groll nicht gerecht wagen zu 
konnen. Aber man hatte das Bediirfnis, die Wut gegen einen ver- 
hassten Kritiker auszuspritzen, wirklich bis zu einer passenderen Ge- 
legenheit zuriickstellen diirfen. Es beriihrt iiberaus schmerzlich, bei 
dem Konflikt zwischen einem, der geistige Werte schafft, und einem, 
der bestellt ist, geistige Werte in die Fasson loyaler Wohlanstandig- 
keit zu kneten, die Kulturellen an der Seite der Staatsautoritat zu 
finden: Aber fiir die Beschaffenheit des deutschen Geisteslebens ist 
der Vorgang symptomatisch. 

Humor, Ich ubersandte einmal einem bekannten deutschen Witz- 
blatt folgenden Beitrag: 

„Auch ein Grund. A. Warum kommen sie denn gar nicht 
mehr in den „Schwan" an unseren Stammtisch? — 
B. Meine Olle erlaubt's nicht." 
Darauf erhielt ich folgenden handschriftlichen Brief: 

„Sehr geehrter Herr! 

Den uns freundlichst eingesandten Scherz miissen wir Ihnen 

zu unserem Bedauern zuriickgeben, da er sich fiir unser Blatt nicht 

eignet. Wir wiirden uns jedoch sehr freuen, wenn Sie uns bald 

wieder einen Beitrag aus Ihrer geschatzten Feder zukommen liessen. 

Mit vorziiglicher Hochachtung 

Die Redaktion." 

Correspondenz. 

Die reichliche und teilweise enthusiastische Zustimmung, mit der 
die erste Nummer dieses Blattes begriisst wurde, ermutigt mich sehr 
zur Fortfiihrung der begonnenen Arbeit. Leider entspricht aber 
bis jetzt die tatkraftige Unterstiitzung meines Versuchs, mir Gehor 
zu schaffen, nicht entfernt der platonischen Sympathie, die mir 
bezeigt wird. Ich danke alien, die mich zu meinem Unternehmen 
begliickwunscht haben, herzlich; aber ich wiederhole dringend die 
Bitte, dem „Kain" auch die praktische Forderung angedeihen zu las- 
sen, ohne die er nicht existieren kann. Ob die dritte Nummer noch 
erscheinen kann, wird ganz davon abhangen, ob eine geniigende 
Zahl von Abonnements bestellt und eine geniigende Zahl von Ein- 
zelexemplaren verkauft wird. Wer das Weiterbestehen der Zeit- 
schrift wiinscht, der sorge dafiir, dass seine Buchhandlung sie fiihrt, 
und dass seine Bekannten sie lesen. — Wer geneigt ist, das Un- 
ternehmen durch einen Geldzuschuss soweit zu fordern, dass das 
Erscheinen gesichert ist, bis die Unkosten sich von selber decken, 
setze sich mit dem Unterzeichneten in Verbindung. 

Mil nc hen, Akademiestr. 9. Erich Miihsam. 

Verantwortlich fiir Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Manchen, Baaderstr. la. Tel. 2355. 



Don 

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(r(d)inicn folycndf Kutticr. 



DtC lOtlfle* 6edld)te. I9<n. Derlag An 

Sozlalinifdicn Bundes. Berlin. 

ifaft PtrgrtfTra.) 



Dtt Kt&tCt* 6edld)tc. 

1909. morgen<Derlag. Berlin. 

OlC ftOd)l'taplCr. ivoma. 

1906. R. Pipers Derlag. mund)cn. 



flscona. 



Brofdjlire. 1905. 



Die lagd auf ftarden. 

Brofdiure. 1908. 

Zu bfzir hr ii (lurrt) ircif Budjbandlung und cirn 
Kain^Derlag. 



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Jahrgang I. No. 3. Juni 1911. 

KMN 

Zeit/chrffffur 

hen/chlichKeif 
HemuJgeber; 

(rich Huh j&m 




I n h a 1 1 : Aufruf zum Sozialismus. — Tagebuch ans dein Gefangnis. ■ 
Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Der unziichtige Marquis. 
Georg Hirth. — Die nervenschwache Polizei. 



Kain-Verlag Miinchen. 

30 Pfg. 



Friiher erschienen: 

KAIN, Heft 1. Inhalt: Kain (Gedicht). — Die Tode s s traf e . 

— Tagebuch aus dem Gefangnis. — Bemerkungen: ( M u n c h n e r 

Theater. — Bayerische Freiheitlichkeit. — Die voile Mass. — 

Oeff entlic her Dank.) 

KAIN, Heft 2. Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch 
aus dem Gefangnis. Biicher. — Bemerkungen: (Schonherrs 

Plagiat. — Krawall, Revolte, Revolution. Jagow und Kerr. — 

Humor). — Correspondenz. 

Preis je 30 Pfg. Zu beziehen durch jede Buchhandlung 
oder direkt vom Kainverlag, Miinchen, Baaderstrasse 1 a. 



Empfehlenswerte Bticher 

aus demVerlageMaxSteinebach in Miinchen, Baader- 
strasse 1 a. Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder 
direkt vom Verlag. 

Geschichte des deutschen flrbeiferstondes Mk, 1 ,-- 

von S t aatsarchivar Dr. Christian Meyer. 

Die vorliegende Schrift behandelt nach einer kurzen Einleitung 
iiber die geschichtliche Entwicklung des Verhaltnisses zwischen Arbeit 
und Besitz, die Geschichte des deutschen Arb e iter stan de s von der 
altesten Zeit der unfreien Frohnhofwirtschaft an bis herab in unsere 
Tage der Grossindustrie mit Maschinenbetrieb. Namentlich das alte 
Handwerksgesellentum mit seinen merkwiirdigen, zuletzt vielfach ver- 
schnorkelten und grotesken Einrichtungen und Gewohnheiten hat eine 
sorgfaltige Darstellung erfahren. 

Geschichte des deutschen Bauernstandes Mk, 1 ,-_ 

von S taatsarchi var Dr. Christian Meyer. 

Eine gedrangte Geschichte des deutschen Bauernstandes von 
der Zeit der altesten festen Siedelungen nach dem Schluss der grossen 
Wanderungen an bis herab in das 19. Jahrhundert, das in den Stiirmen 
des Jahres 1848 auch die letzten Reste der alten Grunduntertanigkeit 
unseres Bauernstandes beseitigt und die vollige staatsrechtliche 
Gleichstellung desselben mit den ubrigen Gesellschaftsklassen des 
Staates proklamiert hat. 

Geschichte des deutschenAdelstandes Mk, 1,50 

von Staatsarchi var Dr. Christian Meyer. 

Eine gedrangte, ubersichtliche Geschichte des deutschen Adels 
ist bisher ein Bediirfnis des gebildeten Lesepublikums gewesen. Die 
vorliegende Schrift versucht diese Liicke auszufiillen. Neu und eigen- 
artig ist die durch alle Phasen der geschichtlichen Entwicklung als 
Grundinhalt des Adelsbegriffs festgehaltene und konsequent dure h- 
gefiihrte Definition des Adels als einer politischen Machtinstitution. 



Jahrgang 1. Miinchen, 

No. 3. Juni 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

, 1 | I I | I, M..I-.I.4..1.I..4 .,■■ I I t,4- 1. 1 .l-H-.l .l.,|..|..|.J.il,.|i.|..j„l II , | . I .4 ,| I I I, I. I.I I 1 ,1 II I , | .|, 1-iFT I lilt ., 

,,KAIN erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
tilr das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Miinchen, Baaderstrasse 1 a. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

■ l-l^..| .li T.rnzi -v" i...i.^ » i. , ,.,».,., < .„, lll ii.. < i ,.. 7nr am..i.,i .v,:,i 1. 1. ■ .■ . < .,i.. < .n..i..i.j.ii..^i- ■..■ ,i.,»..i . i .rn. ■ it ' Vn 

Aufiuf zum Sozialismus. 

,JDer Staat sitzt nie im Innern der Einzelnen, er 
ist nie zur Individualeigenschaft geworden, nie Frei- 
willigkeit gewesen. Er setzt den Zentralismus der 
Botmassigkeit und Disziplin an die Stelle des Zentrums, 
das die Welt des Geistes regiert: das ist der Schlag 
des Herzens und das freie, eigene Denken im lebendi- 
gen Leibe der Person. Friiher einmal gab es Gemein- 
den , Stammesbiinde, Gilden, Briiderschaften Korpo- 
rationen, Gesellschaften, und sie alle schichteten sich zur 
Gesellschaft. Heute gibt es Zwang, Buchstaben, Staat." 

„Sozialismus ist Umkehr; Sozialismus ist Neubeginn; 
Sozialismus ist Wiederanschluss an die Natur, Wieder- 
erfullung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung." 

Das sind Satze aus einer Schrift von Gustav Landauer, 
die eben erschienen ist und den Titel fuhrt: ,Aufruf zum 
Sozialismus", *) und in diesen Satzen ist in nuce enthalten, 
woher uns, die wir werbend auf die Tribune treten, 

*) Aufruf zum Sozialismus. Ein Vortrag von Gustav Landauer. 
Berlin 1911. Verlag des Sozialistischen Bundes. 



— 34 — 

die Verzweiflung kommt, und wohin unsere Sehnsucht 
will 

Gesetze, Reglementierungen, Zentralisationen, Zwangs- 
gebilde sind den Menschen der Gegenwart so selbstver- 
standliche Faktoren der geseUschaftlichen Organisation, 
dass ihnen jedes Bekenntnis zur Dezentralisation, zur Staats- 
und Herrschaftslosigkeit narrisch oder verbrecherisch vor- 
kommt. Anarchie, das Wort der Freiwilligkeit, meinen 
sie, sei Verwirrung. Polizei aber scheint ihnen Ordnung, 
Kapitalismus Ausgleich, Justiz Gerechtigkeit. Den Begriff 
Sozialismus haben sie in den Bestand der Dinge eingereiht 
und nehmen inn als Flagge einer demokratischen Reform- 
partei. 

Nur an den kleinen Symptomen der geseUschaftlichen 
Wirrnis wird Rednerei und Kritik geiibt, wird gebastelt und 
gemodelt. Das heisst man Politik; und um das Parlamen- 
teln und Schachern, um die Flickerei und Pflasterei am 
kranken Korper der Gesamtheit erregen sich die Leiden- 
schaften. Von dem andern, von der Seuche selbst, von 
all dem Furchtbaren, das die Menschen zu Betriigern und 
Mordern aneinander, das Unrecht zu Recht, Liige zu Wahr- 
heit, Heuchelei zu Ehrlichkeit, Diebstahl zu Eigentum, Aus- 
beutung zu Lohn, Knechtung zu Vertrag, Gewalt zu Liebe 
macht, wird nicht gesprochen. Selbst da, wo sich die Not 
der Zeit am traurigsten fuhlbar macht, in den Schichten 
der arbeitenden Bevolkerung, gibt es keinen Kampf, der 
von innen kommt, der verzweifelt hinausdrangt aus der 
kapitalistischen Sklaverei, sondern nur einen vorsichtigen 
Eiertanz im Dunkeln und Dumpfen und angstliche Scheu 
vor radikalen Wandlungen und vor frischer Luft. 

Die trockne Kathederweisheit des Marxismus hat es 
vermocht, im unterdriickten Volk jeden frohen Willen zu 
lahmen. Die entsetzliche Theorie, dass sich die Zeit nach 
naturnotwendigen Gesetzen wandeln muss, in der Rich- 
tung wandeln muss, die Karl Marx und seine demagogi- 
schen Spiessgesellen anweisen, hat in Millionen Menschen 



— 35 — 

den Wahnsinn kultiviert, sie diirften nur zusehen, wie sich 
der Kapitalismus selbst auffrisst. Man muss inn nur nahren 
und pflegen und ihn auswachsen lassen, bis er sich uber- 
schlagt, platzt, stinkt und sich an seine Stelle der Sozialis- 
mus, vielmehr die komisch-philistrose Zwittergestalt eines 
sozialdemokratischen Zukunftsstaates prasentiert. — Seit 
einem halben Jahrhundert ist der Marxismus EvangeUum 
des deutschen Proletariats. Seit einem halben Jahr- 
hundert ist eine These dieser pseudo - wissenschaft- 
lichen Sozialprophetie nach der andern von den Tat- 
sachen der Wirklichkeit ad absurdum gefuhrt wor- 
den. Und heute noch winselt die Sozialdemokratie bei 
den Inhabern der Macht um Beteiligung an der Verwal- 
tung des Staats, den sie angeblich bekampft. Heute noch 
sammelt sie in untatiger Geschaftigkeit Stimmen, hun- 
derttausende, Millionen Stimmen zum Bekenntnis zu Marx' 
Lehren. 

Die angekundigte und umfanglich bewiesene Akkumu- 
lation des Kapitals ist ausgeblieben: es gibt heute mehr 
Kapitalisten als vor 50 Jahren. Die Verelendung der Mas- 
sen die „naturnotwendig" zur Katastrophe fiihren sollte, 
ist ausgeblieben: denn der Staat, der ebenso schlau war 
wie Marx, hat — mit Hilfe der „Sozialisten" — durch eine 
Arbeiterschutzgesetzgebung ein Ventil geschaffen, das das 
Aeusserste verhiitet, also geeignet ist, den Kapitalismus 
zu verewigen. Die wirtschaftlichen Arbeiterorganisationen, 
die — von den Marxisten anfanglich keineswegs willkom- 
men geheissen — sich aus den Zeitumstanden wirklich 
„naturnotwendig" entwickelten, drehen sich innerhalb der 
kapitalistischen Wirtschaft im Kreise herum, erzielen als 
Produzenten bessere Bezahlung und miissen sie als Kon- 
sumenten ihrer Waren selbst wieder hereinbringen; sie 
schaffen den Kapitalismus sowenig ab, wie sie den Sozialis- 
mus herbeimhren, und sie haben das Unternehmertum 
gelehrt, das starkste Bollwerk gegen die Gefahrdung des 
Kapitalismus durch wirtschaftUche Kampfe dadurch zu 



— 36 — 

schaffen, dass sie selbst sich zu Interessenorganisationen, 
zu Arbeitgeberverbanden, zu Ringen und zu Trusts zu- 
sammengeschlossen haben. 

So stellen sich unter der Herrschaft der marxistischen 
Dogmen die Aussichten des Sozialismus dar. Die 
Sozialdemokraten aber predigen noch immer die ma- 
terialistische Geschichtsentwicklung, das Hineinwachsen 
in den Sozialismus als Kronung des Baus, dessen 
Grundlagen sie selbst schon als brockelhaft auf den Keh- 
richt geworfen haben. Derm die Verelendung der Massen 
behaupten selbst die Frommsten der Marx-Jiinger nicht 
mehr, und die Konzentration des Kapitals mitsamt der 
Krisentheorie wird zumindest von den Revisionisten schon 
stark in Zweifel gezogen, die ja nachgerade kaum mehr 
etwas andres scheinen wollen, als reformerische Realpoliti- 
ker, und die das Wort Sozialismus, wenn sie es bei Wahl- 
reden oder andern Reprasentationsgelegenheiten mal aus- 
sprechen miissen, nur unter Aechzen und Wiirgen aus 
dem Halse bringen. 

Miissen wir denn nun, nachdem wir die gewaltige 
Bewegung, die unter dem Namen Sozialdemokratie seit 
einem halben Jahrhundert triibe, fauhg und unendhch breit 
stagniert, als Charlatan-Wissenschaftlhuberei erkannt ha- 
ben, — miissen wir denn nun darauf verzichten, jemals 
aus der qualvollen KnechtschafTenheit des kapitahstischen, 
militaristischen, klerikahstischen Polizeistaats heraus- und 
in eine menschenwiirdige, freiheithche, im Volke gefligte 
und auf Gegenseitigkeit gegriindete Gesellschaft hineinzu- 
kommen? Das miissen wir wahrlich nicht, sofem der 
Wille zur Freiheit, zur Gerechtigkeit und zum SoziaUsmus 
in uns lebendig und zur Tat bereit ist. 

Marxens leblose, ertiftelte und erkliigelte Theorieen 
sind an den Tatsachen der Wirklichkeit jammervoll ge- 
scheitert. Jede einzelne seiner Aufstellungen ist als falsch 
erwiesen. Wollen wir zum SoziaUsmus kommen, so diir- 
fen wir an keinen der Versuche, die — auch mittelbar, 



— 37 — 

wie der Syndikalismus, der Anarchosozialismus etc. — von 
seinen Ansichten ausgingen, anschliessen. Wir miissen 
den Mut finden, zuriickzugreifen. Wir miissen den Karren 
dahin zuruckfiihren, wo er, von Marx geschoben, in den 
Dreck fuhr, in dem er jetzt erbarmungslos drinsteckt. Wir 
miissen da anfangen, wo Marx' grosser Zeitgenosse Pierre 
Joseph Proudhon anfangen wollte. 

Der sah die Dinge der Welt nicht mit den Augen 
des politisierenden Philosophasten, sondem mit denen des 
freiheitlichen Enthusiasten: und darum sah er sie, wie sie 
wirklich waren. Er sah das Elend und die Verworrenheit 
und wusste, dass man dagegen nicht mit theoretischen 
Systemen kampft, sondern mit der zugreifenden Hand. 
Und so riet er zum Anfang, zur Tat, zur Arbeit. 

Das ist der Unverstand der kapitalistischen Produk- 
tionswirtschaft: es wird gearbeitet ohne Riicksicht auf die 
Nachfrage. In den Speichem haufen sich die Waren, man 
redet von Ueberproduktion, aber die, die Waren brauchen, 
bekommen sie nicht. Mancher Arbeiter fertigt sein Leben 
lang Hemdstoffe an; sein Auftraggeber jammert iiber die 
Krise in der Textilindustrie, die ihm mit seinen Vorraten 
an Hemdstoffen den Markt verschliesst; aber der Arbeiter, 
der unermiidlich weiter webt, kommt nie in den Besitz 
der hygienisch und aesthetisch notwendigen Zahl Hemden. 
— Diese Absurditat erkannte Proudhon, und so empfahl 
er die Griindung der Tauschbank, d. h. einer Institution 
zur Regelung des Austausches der Produkte unter den 
Arbeitern selbst. 

Heute ist eigentlich die Fabrik Arbeitgeber, und es 
sollte so sein, dass die Kundschaft Arbeitgeber ware. Ar- 
beitet der Produzierende nur noch fur den Bedarf, stellt 
er also seine Arbeit ausschliesslich in den Dienst des 
Verbrauchs, dann hat er von selber die Kundschaft, die 
fur inn Geld, oder — was dasselbe ist — Kredit bedeutet. 
Die Griindung von Produktiv-Konsum-Genossenschaften, 
die unter Vermeidung des kapitalistischen Marktes mit- 



— 38 — 

und fureinander schaffien und anschafften, ware der erste 
entscheidende Schritt auf dem Wege zum Sozialismus. 

Zur Griindung solcher Genossenschaften ruft Gustav 
Landauer auf. Gruppen sollen sich bilden, in denen sich 
Menschen vereinigen, die zu gemeinsamem Tun bereit 
sind. Vorerst ist nur Werbung und Verstandigung Auf- 
gabe dieser Gruppen, deren etliche schon bestehen und 
die sich Gruppen des „Sozialistischen Bundes" nennen. 
Ehe sie ans Werk gehen konnen, an den Beginn, bedarf 
es noch mancher Vorarbeit. Der Staat, die Parteien, der 
sinnlose Konkurrenzkampf haben vieles zerstort, was als 
verbindender Geist unter den Menschen war und unter 
den Menschen sein muss, die Gemeinsames wirken wollen. 
Briiderlichkeit, Gerechtigkeit, Nachstenliebe sind Eigen- 
schaften, die nur mit sehr viel gutem Willen, mit sehr viel 
Aufopferung und mit sehr viel Nachsicht unter den 
Menschen unserer Zeit wieder geweckt werden konnen. 
Solidaritat, die iiber das gemeinsame materielle Interesse 
hinausgeht, muss erst wieder in die Menschen hineinge- 
tragen werden, — das Mittel, Solidaritat, Entschlossenheit, 
Opfermut und Rechtsgefuhl zu beleben, ist die Idee, die 
zur Ueberzeugung wird, zur Ueberzeugung, dass das Neue 
das Richtige ist, dass es kommen soil und kommen muss, 
weil das Alte als schlecht erkannt und nicht mehr ertrag- 
lich ist. 

Sind die rechten Menschen beieinander, solche, deren 
Wille sich nicht bandigen lasst, Verzweifelte, die keine 
Materialisten sind, sondern Draufganger, Unbesonnene, 
Idealisten, dann wird die neue, die sozialistische Gesell- 
schaft von innen heraus von selbst erwachsen. Dann wer- 
den die Gruppen, die zur Arbeit drangen, in eigenen Sied- 
lungen das herstellen, was sie notig haben. Die verschie- 
denen Siedlungen werden mit einander in Tauschverkehr 
treten; der Ertrag der Arbeit wird denen gehoren, die 
sie geleistet haben, und aus den Gemeinschaften, Biinden, 
Siedlungen, Kommunen wird die neue sozialistische Ge- 



— 39 — 

Seilschaft erstehen, die gewiss anders aussehen wird als 
wir sie traumen, und die ganz gewiss besser, menschlicher, 
schoner, kulturvoller sein wird, als der Staat mit seinen 
Kasernen, Gefangnissen, Zuchthausern, Bordellen, Poli- 
zeiwachen, Zwangsschulen, Kirchen und Parlamenten. 

Was ich hier skizziert habe, ist der diirftige Extrakt 
dessen, was Landauers „Aufruf zum Sozialismus" enthalt. 
Was da Kritisches iiber den Staat und iiber den Marxis- 
mus steht, ist ebenso iiberzeugend, wie das, was Landauer 
Positives vom Sozialismus und vom Sozialistischen Bunde 
sagt, begeisternd ist. Wen Theorieen, Kritiken und national- 
okonomische Spekulationen nicht interessieren, der lese das 
Buch um der warmen, starken Leidenschaft willen, mit 
der es geschrieben ist. Wer aber bei der Lektiire kalt 
bleibt und nicht selbst zum Eiferer wird, der bleibe ja 
bei seinem Leisten oder bei seiner Politik; aus ihm soil 
beileibe kein Proselyt gemacht werden. 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung). 
Die Freude der Ruhe dauerte nicht lange. Das Schlussel- 
bund in der eisernen Tiir weckte mich. Der Aufseher rief: Auf- 
stehen ! — und ich konnte konstatieren, dass meine jammervolle 
Zelle in den verwaschenen Konturen der Fruhdammerung sichtbar 
wurde. Ich musste mich ankleiden: ohne Hosentrager, ohne Kra- 
gen und Krawatte, ohne Kneifer, ohne Stiefel, an deren Stelle 
mir Hauslatschen gebracht wurden. Meine Knochen taten mir von 
dem harten Liegen uberall weh, und die Haut juckte an alien Enden 
entsetzlich. Ich krempelte den Aermel des Hemdes hoch und be- 
merkte zahllose Flecken und Stiche, aber noch heute weiss ich nicht, 
ob mir diese Nacht Flohstiche, Wanzenstiche, Kratze oder ner- 
vose Nesseln eingetragen hat *) und noch heute bin ich die ver- 
flucht juckenden Blasen nicht los. Inzwischen wurde ich gewahr, 
dass es 6 Uhr in der Frlihe war, eine Zeit also, die mir zum Zubett- 
gehen vertrauter ist als zum Aufstehen. Aber was will man als 
einsamer Gefangener gegen die Gewalt der Obrigkeit anfangen? 

*) Spater stellte sich heraus, dass ich mir auf dem Strohsack 
des Polizeigefangnisses allerlei Stiche zugezogen hatte, und wenige 
Tage nachdem ich diese Satze geschrieben hatte, trat dann auch eine 
widerliche Scabies in die Erscheinung, die ihr Entstehen ebenfalls 
dem Auf enthalt dort unten verdankte. 



— 40 — 

Ich durfte mich nun in einem hasslichen Raum waschen und 
erhielt einen Topf mit frischem Wasser und dazu ein grosses 
klitschiges Stuck Brot. Mit diesem Frtihimbiss wurde ich wieder 
allein gelassen, sah es langsam heller werden und hatte nicht die 
geringste Moglichkeit, mich mit irgend etwas anderm als mit mei- 
nen Gedanken zu beschaftigen, die nicht eben die trostlichsten wa- 
ren, und die sich jetzt ziemlich teilnahmslos von dem viertelstiindi- 
gen Kirchturmsgruss unterbrechen liessen. Gegen 7 Uhr kam der 
Aufseher, der nicht mehr so nett war, wie am Abend vorher, holte 
die Matratze aus der Zelle und erwiderte auf meine Frage, was 
denn nun eigentlich mit mir geschehen solle, mittags gegen 7,1 Uhr 
wlirde ich wohl dem Untersuchungsrichter vorgefuhrt werden. Das 
war keine erfreuliche Aussicht, jetzt fiinf Stunden lang ohne jede 
geringste Tatigkeit in diesem schandhasslichen Kellerverliess auf 
der schmalen Holzbank sitzen zu mlissen, denn das Herumlaufen 
in den Straflingslatschen fiel mir schwer. So legte ich mich also 
auf die harte Bank und schlief wirklich in kurzer Zeit ein. Plotzlich 
aber kam der Aufseher, der mir verkiindete, am Tage liegen dilrfe 
ich nicht; dann verschwand er wieder. Die Gedanken, die ich ihm 
nachschickte, waren nicht eben zartlich, obwohl er sein Verbot 
mit der Entschuldigung vorgebracht hatte, wenn die Aufsicht kume, 
wilrde man ihm Krach machen. Ich setzte mich also auf die Bank, 
liess den Kopf auf die Knie hangen und versuchte, in dieser Stel- 
lung von neuem einzuschlafen. Nach einer bis zwei Stunden, wah- 
rend derer wieder abenteuerliche Ideen und Spekulationen um mein 
Gehirn geflogen waren wie die Aasgeier um den Galgen, siegte endlich 
auch wieder die Mudigkeit, und ich schlief trotz der unbequemen 
Stellung, trotz des Juckens, trotz der traurigen und aufgeregten 
Gedanken wiederum ein. Eitle Hoffnung, endlich ungestort aus- 
ruhen zu konnen. Kaum waren mir die Augen zugefallen, als mich 
der Aufseher anrief und mir befahl, ihm sogleich zum Kommissar 
zu folgen. Auf meine Bitte wurde mir zu diesem Gange wenigstens 
der Kneifer bewilligt. 

Am Ende des Kellers, in dem die Gefangenenzellen lagen, 
ilbergab mich der Aufseher einem Polizeimenschen, und so -uninteres- 
sant dieser Herr an sich war, so fiel mir doch in dem Moment, wo 
er anfing, mich die Treppen hinaufzukommandieren, wieder der 
Charakterunterschied zwischen Polizisten und Gefangenenwartern auf. 
Ich kam in einen Saal, wo etwa acht jiingere Leute an einem lan- 
gen Tische sassen, immer je zwei einander gegentiber, und schrie- 
ben: lauter Polizeiakten, dachte ich mir, die da gefiillt werden. Wie 
fremd muss den armen Menschen, die sie vollgeschrieben haben, die 
lebendige Wirklichkeit bleiben, die fur sie ewig nur „Material" ist. 
In einer Ecke dieses Biirosaals stand ein Aktenschreibtisch, vor dem 



— 41 — 

ein beleibterer Polizeimensch sass, der mich ins Verhor nahm. Die- 
ses Verhor bestand darin, dass er mich fragte, ob ich Erich Mlihsam 
heisse, bisher in der . . . Strasse 84 gewohnt habe und gestern abend 
von dort abgeholt sei. Das bestatigte ich ihm. Hierauf fragte er 
mich, ob ich denn nun mit dem eben derart geschilderten Erich Muh- 
sam identisch sei, worauf ich antwortete: „Ich vermute." — Diese 
Antwort setzte den Polizeikommissar offenbar in einige Verwirrung. 
Nachdem er wiederholt hatte: „So ? — Sie vermuten das nur ?" — 
besann er sich eine Weile, nahm dann einen Bogen Papier her und 
verfasste darauf ein Protokoll, das besagte: „Ich bin mit dem Schrift- 
steller Erich Muhsam, mosaisch, geboren etc., wohnhaft etc., iden- 
tisch." Hierunter ersuchte er mich, meinen Namen zu schreiben, 
was ich zu seiner grossen und deutlich bemerkbaren Beruhigung tat. 
Eigentlich kitzelte es mich in dem Moment, die Unterschrift nicht 
zu geben, wozu mich keiner hatte zwingen konnen. Aber ich war 
doch schon zu miirbe, um etwa unangenehme Wirkungen eines 
letzthin schlechten Witzes noch auf mich nehmen zu mogen. Also 
um zu bestatigen, dass ich mit mir identisch sei, hatte ich den end- 
lich gewonnenen Schlaf abschlitteln miissen. 

Jetzt durfte ich wieder hinuntergehen. Der Aufseher nahm 
mir den Kneifer ab, und ich wurde von neuem in die unwirtliche 
Zelle bei Wasser und Brot eingeschlossen. Weitere Versuche, den 
Schlaf zurtickzubeschworen, misslangen vollig, und ich uberliess mich 
nun meinen Betrachtungen, Erinnerungen und Erwagungen. Ich 
verglich diese Verhaftung mit der, die ich vor anderthalb Jahren mit 
Johannes Nohl zusammen in Ascona erfuhr, und stellte fest, dass, 
obgleich die ausseren Formen damals grober waren: Fesselung, fast 
einstundiger Transport zu Fuss mit den schweren Handschellen, 
Aufstoberung aus dem Bett nach vier schlaflosen Nachten und erst 
einer halben Stunde Schlummer, Puffe und Gewalt bei der Fest- 
nahme — obgleich alle diese Rohheiten diesmal nicht dabei waren, 
doch meine jetzige Lage unendlich weniger erfreulich sei als die da- 
mals. Damals waren wir zwei Freunde, die ein gleiches traf; die 
ganze Affare hatte die Romantik des Sudens; die Beamten, die 
uns fortfuhrten, wirkten nicht wie diese Norddeutschen als exakte 
Mechanismen, sondern als rohe italienische Schlingel; dann kam dort 
die verwanzte, dreckige, stinkige Zelle zu zweien in dem herrlichen 
alten „antico castello", von dem man — und gerade von meiner Zelle 
aus — den prachtigsten Ausblick auf den See und auf die wun- 
dervollen Berge hatte, die mit Tagesanbruch immer goldiger in 
unsre verlausten Kafige schauten; schliesslich die Verstandigung zwi- 
schen dem Freund und mir durch lautes Schreien von einer Zelle 
in die andere, in einer Sprache, die die groteske Hexe von italieni- 
scher Beschliesserin nicht kannte. — Hier hingegen ich allein, ohne 



— 42 — 

einen Menschen bei mir, der sich um mich sorgt, und um den ich 
mich zu sorgen hatte. Alle elementare Brutalitat ersetzt durch eine 
geschaftsmassige, funktionelle Nuchternheit. Und nur ein Umstand, 
der hier wie dort die Situation komplizierte: die vollige! Unkennt- 
nis gegeniiber den Grtinden, die die Verhaftung veranlassten. Aber 
auch darin welcher Unterschied zugunsten Asconas! Dort wussten 
wir, es liegt nichts vor, und wir haben die Advokaten, den Arzt und, 
den Friedensrichter des Orts zu Freunden, deren Wink zu unsrer 
Befreiung genugen wiirde. Das zeigte sich dann auch: als wir 
nach achtzehnstilndiger Haft trotz unsres lebhaften Verlangens dem 
„Procuratore" nicht vorgeftihrt wurden, schickten wir vier gleichlau. 
tende Telegramme zur Beforderung nach Ascona an die Cara- 
binien, die uns in Gewahrsam hatten: „Senza cosa arrestati: Prego 
da noi liberare. *) Mtthsam. Nohl." Die Telegramme wurden gar 
nicht abgesandt. Zehn Minuten, nachdem wir sie aufgesetzt hatten, 
waren wir frei. — (Fortsetz. folgt ) 

Munchner Theater. 

(„Ratten." — „Die Spielereien einer Kaiserin.") 

Gerhart Hauptmann war in Miinchen lange arg vernachlassigt 
worden. Es ist kaum verzeihlich, dass ausser „Kollege Crampton", 
dessen Inszenierung eine der ersten Taten Steinrucks am Hoftheater 
war, Jahre hindurch keines seiner Stticke auf dem Repertoire der 
Miinchener Buhnen erschienen ist. Seine letzten Dramen sind hier 
iiberhaupt nicht gespielt worden. Es ware sehr zu wlinschen, dass 
einiges von dem Versaumten noch nachgeholt wiirde. Mindestens 
sollte man das Glashuttendrama „Und Pippa tanzt" spielen, dessen 
hoher dichterischer Wert lange nicht geniigend geschatzt wird. — 
Die Auffiihrung der „Ratten" im Residenztheater hat ja wieder 
bestatigt, wie stark immer noch die Durchschlagskraft der Haupt- 
mannschen Dramatik ist, und mit wie grossem Unrecht man ihn 
der Vergangenheit zurechnet. 

Man hat der Berliner Tragikomodie in der offentlichen Be- 
urteilung schweres Unrecht getan. Das ist ein Stuck von erschlit- 
ternder Wucht und von machtigem Ethos. Ob die Bezeichnung 
„Tragikomodie" vor der Pedanterie exakter Philologen standhalt, 
scheint mir wenig betrachtlich. Meinetwegen soil man gern ein- 
wenden, dass es sich um eine Tragodie handelt, in die eine neben- 
herlaufende Komodie fliichtig hineinspielt Wesentlich ist nicht der 
Titel, sondern die Gestaltung. Wesentlich ist, dass die schauerliche 
Tragik, die aus der verzweifelten Sehnsucht eines enterbten mtitter- 



*) Grundlos eingesperrt. Bitte uns zu befreien.' 



— 43 — 

lichen Herzens erwachst, Sinn und Geftihl vollig gefangen nimmt, 
dass Personen, Umstande, Milieu und Handlung von einem Dich- 
ter gesehen und erfasst und mit folgerichtiger Grausamkeit zur 
Tragodie gefiigt sind, und dass das komodienhafte Nebenher be- 
freiend und versohnend wirkt: wie denn auch in Wahrheit uberall 
Tragisches und Komisches nebeneinander geht, und eines dem an- 
dern vor die Fiisse lauft. 

Die Figur des Theaterdirektors Hassenreuther, der in sehr amli- 
santer Weise die Rolle des Raisonneurs in dem Stuck spielt, ist 
mit der gleichen treffsicheren Wahrhaftigkeit gezeichnet, wie die 
Trager des eigentlichen Dramas, und wie die ganze Fulle der Haupt- 
und Nebenpersonen, die unmittelbar oder mittelbar in die Verwick- 
lungen der Kindesunterschiebung hineingezogen werden. Die Charakte- 
ristik der unglilcklichen Frau John selbst ist meisterhaft. Mit 
einer Notwendigkeit, die keinen Ausweg lasst, ftigt sich ihr 
Schicksal aus ihren Handlungen. Der gutgemeinte Betrug, ihrem 
Mann das in seiner Abwesenheit in ihrer Obhut heimlich geborene 
Kind der polnischen Magd, das sie in Pflege genommen hat, als 
ihr eignes vorzutauschen, hetzt sie von einer Angst in die andre. 
So hauft sie Luge auf Luge gegen den Mann, Rohheit und Arglist 
gegen die richtige Mutter des Kindes und uberlasst schliesslich 
ihrem verwahrlosten Bruder Bruno die Entwirrung des schreck- 
lichen Knauels ihrer Aengste, der sie so rabiat wie moglich be- 
wirkt: durch die Ermordung des Polenmadchens, das der gehetzten 
Frau wie das bose Gewissen zusetzt. — Der biedere Maurerpolier 
John, die getretene Polin Pauline Piperkarcka, die Familie des 
Theaterdirektors, sein Hauslehrer, der verliebte Theologiekandidat 
Erich Spitta, nicht zuletzt der gewalttatige Bruder der Frau John — 
das alles sind Gestalten von ungeheurer Plastik und Sichtbarkeit. 
Die neue Arbeit darf sich neben den besten Dramen Hauptmanns 
zeigen. 

Herrn Basils sehr tuchtige Regie brachte eine im ganzen recht 
gute Darstellung zustande. Die typisch berlinische Atmosphare kam 
vorzliglich zur Geltung und auch die meisten Einzelleistungen stan- 
den auf der Hohe ihrer Anforderung. Die ilberaus schwierige 
Rolle der Frau John (deren restlose Ausfullung natilrlich einzig 
Else Lehmann vorbehalten ist) fand in Frl. Schwarz eine Inter- 
pretin, die in Sprache und Gebarde echt war und in Momenten 
starke Wirkung ilbte. Auch Basils Maurerpolier John uberzeugte 
durchaus. Die Piperkarcka gab Frl. Terwin, deren reiche Begabung 
sich hier in der Rolle des misshandelten Proletariermadchens in 
neuer Beleuchtung zeigen konnte. Gut waren auch Herr v. Jacobi 
als Erich Spitta, dem er zur ausseren Demonstration seiner Auf- 
fassung die Maske Gerhart Hauptmanns gab, und Frau von Hagen 
in einer Episodenrolle. Leider versagten die Trager der komi- 



— 44 — 

schen Rollen. Den Theaterdirektor hatte man sich keineswegs 
als den weltmannischen Causeur gedacht, als der er hingestellt wurde, 
sondern als stets feierlichen Pathetiker, der mit grossen Schmieren- 
gesten toternst seine Phrasen schmettert. Vollig unmoglich war 
der erste Schauspielschuler. Das ungraziose Herumhantieren dieses 
Theaterjilnglings war qualvolle Karrikatur statt komischer Unbehol- 
fenheit. — Dagegen ist von zwei hervorragenden Leistungen be- 
sonders zu sprechen. Steinrilck spielte den verkommenen Bruder 
der Frau John. Er stand nur kurze Zeit auf der Buhne — aber 
in diesen paar Minuten stockte einem das Blut im Halse. Dieser 
rabiate Patron mit der tonlosen uninteressierten Stimme, der ge- 
wissenlosen Entschlossenheit und dem gelinden Stich ins Sentimen- 
tale — das war einer der starksten Buhneneindrlicke, die ich noch 
erlebt habe. — Nachst Steinrilck gab das Beste Frl. Pricken Diese 
Schauspielerin ist schon mehrfach aufgefallen, wenn sie Kinder- 
rollen zu spielen hatte: in der „Buchse der Pandora", in „Alles 
um Liebe" und in „Casar und Cleopatra" wirkte ihr kleiner Wuchs 
und ihr gutes Spiel vortrefflich zusammen. In den „Ratten" hatte 
sie ein kleines Berliner Madel zu gestalten, das im Hause der John 
ihr kleines Bruderchen betreut. Frl. Prickens Selma Knobbe war 
eine Meisterleistung. Wie die plarrende Nutte schon aussah! Wie 
von Zille entworfen, und in Sprache, Haltung, Gebarden und Mimik 
traf sie vollig die Berliner Johre. Hier ist ein spezialistisches Ta- 
lent, das ganz bedeutende Qualitaten hat. Betrachtet man die Mlinch- 
ner Auffuhrung der „Ratten" im ganzen, so darf man den Dichter, 
das Residenztheater und die Darsteller begluckwiinschen . 

Einerr sehr interessanten .Theaterabend verdankten wir dem 
„Neuen Verein", der am 15. Mai „Die Spielereien einer Kaiserin", 
von Max Dauthendey zur Urauffuhrung brachte. Das Versdrama 
behandelt in sechs Bildern die Geschichte der russischen Kaiserin 
Katharina I. Vielmehr: es zeigt in sechs Bildern die Geschichte 
der Liebe Katharinas zum Feldmarschall Menschikoff. Vielmehr: es 
stellt sechs Bildern, in denen Katharina sich gleich bleibt, und in 
einem Zeitraum von 25 Jahren, als Dragonerweib, als Maitresse 
des Feldmarschalls, als Gattin des Zaren und als Selbstherrscherin 
mit ihrem Schicksal und ihrer Liebe spielt und aus ihrem Spiel 

— naiv und raffiniert zugleich — ihr Schicksal und das ihrer Liebe 
fligt. Die grosse Verskunst Dauthendeys schafft eine Sprache von 
blendender Schonheit, die grosse Bildpracht seiner Phantasie, die 
wir aus seinem prachtvollen Novellenband „Lingam" kennen, schafft 
Szenen von grosser Lebendigkeit und Konzentration. Ein Drama 

— so nennt der Dichter sein Werk — ist aus den „Spielereien einer 
Kaiserin" nicht geworden, aber eine Aneinanderreihung von Mo- 
menten aus dem Leben Katharinas, deren jeder zu einem fein zise- 
lierten Kabinettstlick verarbeitet ist. 



— 46 — 

Als Darstellerin der Katharina war Tilla Durieux von Berlin 
gekommen. Es ist nicht denkbar, sich die Figur der schonen 
Frau, die ein Gemisch von unschuldigem Volksweib, Kurtisane, Heldin, 
Abenteuererin und Idealistin ist, vollkommener verkorpert vorzu- 
stellen, als die Durieux sie spielte. Sie war strahlend schon, Iiber- 
legt und sicher, leidenschaftlich und zurilckhaltend — und in jedem 
Augenblick bezwingend. Die Durieux verfligt ttber die starksten 
ausseren Wirkungsmittel, die sie imponierend bandigt. Sie ist zu 
klug, um der Gefahr des Virtuosentums zu verfallen, zu stark und 
gesund, um ihre Kunst an Nebensachlichkeiten zu zersplittern. (Man 
vergleiche sie nicht mit der Eysoldt. Die ist intuitiv, wo die Durieux 
bewusst ist. Die Durieux steht mit beiden Flissen auf dem Boden, 
die Eysoldt lasst sich von ihrer Eingebung tragen. Meine tiefere 
Liebe gehort Gertrud Eysoldt. — In der Gestalt der Katharina 
konnte Frau Durieux ihr ganzes fabelhaftes Konnen zeigen; der 
Eindruck ihrer Personlichkeit war machtig. 

Es ist in der Rolle begrundet, dass neben der Figur Katharinas 
alle anderen in den Hintergrund treten. Selbst ihr Geliebter, der 
Feldmarschall Menschikoff, ist eigentlich Nebenperson. Albert Stein- 
riick konnte nur manchmal zwingend wirken. Er bewegte sich 
weniger sicher, als wir es von ihm gewohnt sind und gab keinen 
einheitlichen Charakter. Der Zar Peter wurde von Herrn Basil 
kraftig und glaubhaft gestaltet. Sehr anmutig war Frl. Terwin 
als Prinzessin Sascha und auch Herr Schwanneke, der einen gecken- 
haften franzosischen Grafen spielte, tat sein Bestes. 

Hoffentlich wird das Stuck, das bei dieser privaten Aufflihrung 
sich als sehr wirksam bewahrt hat, und das schon mehrere 
Jahre alt ist, nun endlich auf den standigen Btihnen Eingang finden. 



Bemerkungen. 

Der unzuchtige Marquis. Einem Milnchner Staatsanwalt (er hort auf den 
Namen Dr. Hass, womit an und filr sich ja wenig gesagt ist) ist es ge- 
lungen, einen Gerichtsbeschluss herbeizuflihren, der geeignet scheint, 
dem schamhafteren Teil der bayerischen Biirgerschaft das begluckende 
Geftihl erhohter Moralsicherheit leinzuflossen. Es handelt sich um 
Zeichnungen des Marquis de Bayros, und der Dr. Hass wurde geradezu 
lyrisch, als er seinem Abscheu vor diesen Erzeugnissen Ausdruck gab. 
Der Maler hatte sich vor dem Schwurgericht verantworten sollen, 
war aber nicht gekommen, weil er, wie ihm von osterreichischen 
Aerzten bestatigt wurde, nervenleidend ist. Herr Dr. Hass schloss 
aus seinem Fernbleiben, dass er sich „dem beschamenden Schau- 
spiel, das ihn erwartete, durch die Flucht entzogen" habe und 
beantragte und bewirkte die Erlassunng eines Haftbefehls gegen 
den Marquis de Bayros und die Beschlagnahme seines in Deutsch- 
land befindlichen Vermogens. Sein nacktes Leben hat der Ktinst- 
ler, da er sich im Ausland befindet, glilcklich aus den Fingern der 
Justiz gerettet; die Beschamung bleibt also uns iibrigen. 



— 46 — 

Marquis de Bayros ist beschuldigt, „im Dezember 1907 in Mlin- 
chen 16 von ihm selbst gefertigte unzilchtige Zeichnungen dem 
Dr. Semerau *) zur Verbreitung mit dessen Werk „Die Geheimnisse 
am Toilettentisch" iibergeben und ein Mappenwerk „Die Purpur- 
schnecke" angefertigt, feilgehalten und verkauft zu haben, das gleich- 
falls unzilchtige Bilder enthalte." — Der Staatsanwalt fand die Seele 
des deutschen Volkes dadurch bedroht, dass der Angeklagte seine 
graziosen Laszivitaten einem kleinen Kreise von Bekannten zugang- 
lich gemacht hat (an denen wahrscheinlich doch nichts mehr zu ver- 
derben war), und dass besagtes deutsches Volk Gelegenheit er- 
hielt, bei Anlegung eines Vermogens von etwa 100 M. aus seiner 
Unschuld und Harmlosigkeit roh aufgeschreckt zu werden. Der 
Herr Staatsanwalt musste sich hollisch anstrengen, um seinen Zweck 
zu erreichen. Er musste Schiller und Goethe zitieren und sich auf 
den von ihm „hochverehrten Michelangelo" berufen, um die Ver- 
worfenheit des Angeklagten ins rechte Licht zu stellen. Da er 
sich auf das Zeugnis des Professors Stuck stiitzen konnte, der er- 
klart hat, dass ihm die Zeichnungen des Herrn de Bayros „trotz ihrer 
kilnstlerischen Ausfiihrung, infolge der dargestellten Vorgange aus- 
serst widerwartig" seien, so verfolgt jetzt (wir schreiben 1911) einen 
anerkannten Kilnstler um seiner Produktion willen ein Steckbrief. 

Die Anstrengungen des Staatsanwaltes Dr. Hass, in dem Mar- 
quis den Verbrecher zu entlarven, und der Gerichtsbeschluss, in 
dem die Auffassung recht behalt, dass man einen Kilnstler vom 
Range de Bayros' nicht frei herumlaufen lassen darf, sind zwar wert- 
volle Beitrage zum Kapitel Justiz und Leben, — viel interessanter 
aber scheint mir das kollegiale Gutachten des Herrn Professors 
Stuck. Wir haben uns zu vergegenwartigen: Stuck erbietet sich, 
vor Laien — man lese es in Oscar Wildes Lebensgeschichte nach, 
wie Schwurgerichte gegen Kulturmenschen zusammengesetzt werden 
— die Meinung zu vertreten, dass Kunstwerke nicht nach ihrem 
Ausfilhrungswert, sondern nach den dargestellten Vorgangen zu be- 
urteilen sind. Damit begibt sich der Herr Professor unzweideutig 
auf den Standpunkt der Pornographenjager Kausenschen Kalibers. 
Ausgerechnet Stuck, dessen harmlos-damonische Leibermalerei ihn 
ehedem in den Geruch der Hypermodernitat brachte, und iiber 
dessen Modernitat man heute milde zu lacheln geneigt ist. 

Will man das Wort „Pornographie", mit dem ein heilloser 
Unfug getrieben wird, iiberhaupt gelten lassen, so darf es nur die 
Bedeutung haben: unkunstlerische Darstellung geschlechtlicher Si- 
tuationen. Besser ware es schon, man verzichtete ganz auf Aus- 
drlicke, die in sich selbst eine moralische Betonung haben. Wenn 
aber jetzt Kilnstler selbst antreten und sich moralisch iiber Werke 
entrtisten, deren objektiven Wert sie anerkennen mttssen, dann ent- 
steht die ttble Begriffsverwirrung, die die Beurteilung asthetischer 
Werte dem Kadi und gar den Geschworenen ubertragt. 

Strafte der § 184 einfach den, der geschlechtliche Vorgange dar- 
stellt mit Gefangnis, den, der sexuelle Spezialitaten im Bilde zeigt, 
mit Zuchthaus, so ware seine Anwendung ebenso trocken, gemiitlos 



*) Nach Fertigstellung dieses Heftes kommt die Nachricht 
von der im Ausland erfolgten Verhaftung des Dr. Semerau. Die 
ungeheuerliche Tatsache dieser Verhaftung kann hier leider nicht 
mehr gebiihrend gewiirdigt werden. Man gedulde sich einen Monat. 
Ich hole inzwischen aus. 



— 47 — 

und ungerecht wie die eines jeden andern Gesetzparagraphen, aber 
immer noch weitaus ertraglicher als das Operieren mit dem vagen 
Begriff „unsittlich" oder „pomagraphisch" oder gar die Diskussion, 
vor der Richterbarre, ob einem Werke ktinstlerische Bedeutung 
beizumessen sei oder nicht. Die Verhandlung liber das Werk des 
Marquis de Bayros hat ja gezeigt, wohin die Handhabung des ge, 
lenkigen Paragraphen heutzutage fuhrt: der Staatsanwalt ktimmert 
sich um den klinstlerischen Wert der Zeichnungen und der Kunst- 
sachverstandige um ihr Thema. Der Hass wird lyrisch und der 
Stuck ethisch, — der Angeklagte aber hat sich dem beschamenden 
Schauspiel durch die Flucht entzogen. 



Georg Hirth wird in diesen Tagen siebzig Jahre alt. Man 
wird ihn in Festartikeln und beim Wein feiern, wie es sich am 
Ehrentage eines um den Geschmack unsrer Tage sehr verdienten 
Mannes gehort. Ich mochte nicht zuruckstehen, und ich glaube, 
Herr Doktor Hirth wird den Gllickwunsch zu achten wissen, der 
sich nicht am Weihrauchstreuen genug tut, sondern kritisch wertet, 
wie sich das Lebenswerk eines ehrlichen Kulturwillens heute dar- 
stellt. Als die „Jugend" gegriindet wurde, wirkte sie wie ein Freu- 
denschuss in der Nacht. Das deutsche Lesepublikum, an die 
kitschigen Bilderdrucke der „Gartenlaube" und des „Daheims" ge- 
wohnt, wurde plotzlich gewahr, dass es ilber die Genremalerei hinaus 
eine Kunst gibt, die in Ausdruck, Farbe und Geste jugendliche 
Lebendigkeit hat. Es wurde erinnert, dass der Mensch nackt auf 
die Welt kommt, dass er frohliche Sinne hat, und dass die bisher 
ilberall muckerisch verhiillten Formen des menschlichen Korpers schon 
genug sind, um sie zur Freude des Auges und des Gteistes auch 
ausserhalb der Museen im Bilde zu zeigen. In lustigen Karikaturen 
wurde der pfaffische Feigenblattgeist verulkt; in Skizzen, No- 
vellen und Versen sagten von der Wohlanstandigkeit angstlich ge- 
miedene Dichter ketzerische Bekenntnisse, und munterer Witz er- 
schtitterte den fundierten Respekt vor alien traditionellen Dogmen. 
Trotz ihrer patriotischen Richtung — die „Jugend" war ein revo- 
lutionares Blatt, ein Blatt der Neuerung und Hoffnung, das seinem 
famosen Titel Ehre machte. Bildende und schreibende Klinstler, 
von denen die Menge nichts gewusst oder die sie spottisch und ar- 
gerlich belachelt hatte, wurden popular, und Georg Hirth war der 
Mann, dessen Energie, Opfermut und fortschrittlicher Geist, un- 
beirrt durch Kabalen und Ranktinen, durch Angriffe und Sittlich- 
keitsgezeter, der heiteren Festlichkeit der „Jugend" zum Erfolg ver- 
half. Das beste Zeugnis, das man einem Menschen ausstellen kann, 
Georg Hirth hat es verdient: er hat gewirkt. Ihm danken wir eine 
Lauterung des Geschmacks bei der grossen Masse, die vor 15 Jah- 
ren noch unmoglich schien. Man vergegenwartige sich nur die 
Variationen des Werlbegriffs „Jugendstil". Als das Wort aufkam, 
war es das Kampfgeschrei der „Modernen". Den Vielen galten 
die Linienarabesken der neuen Ornamentik als ubelste Geschmack- 
losigkeiten — bis sie sich durchsetzten; bis sie in alien Massen- 
artikeln der Warenhauser prangten, — bis sie — so ist es heute — 
uns als uberlebter Kitsch zum Speien zuwider geworden sind. Der 
„Jugendstil" gehort der Vergangenheit an, und das ist uberaus 
erfreulich, denn es zeigt, dass sein Aufkommen der Entwicklung 
einen so kraftigen Stoss nach vorwarts gab, dass er selbst sich nicht 



— 48 — 

so lange festsetzen konnte, wie der Gute-Stuben-Stil der drei Jahr- 
zehnte vorher. Hirth's Verdienst. Und Hirth's Verdienst ist es 
auch, dass der Anstoss, den die „Jugend" selbst der kiinstlerischen 
Einsicht des deutschen Volks gegeben hat, so stark war, dass der 
Geschmack der Zeit das, was die „Jugend" im Anfang bot und 
heute noch bietet, langst iiberholt hat. Dass die „Jugend" nicht 
schrittgehalten hat mit der Zeit, ist nicht Hirts Verschulden. Er 
hat deutlich gezeigt, was er wollte: die Jungen an der Spitze mar- 
schieren lassen. Hirth hat so lange wie wenige zu den Jungen ge- 
hort. Heut aber sieht er wohl nicht mehr, dass die Jugend schon: 
ganz woanders ist wie die „Jugend". Der ist das Publikum nach- 
gertickt, und die Zeitschrift, die einst die Standarte im frohlichen 
Kampfe war, hat ihr garend Drachengift zur Milch der frommen 
Denkart gerinnen lassen und ist heute ein Familienblatt, das in 
keinem besseren Haushalt fehlt. Das aber ist das Schlimmste, dass 
ihr der Charakter als Familienblatt bewusst geworden ist, dass sie 
Riicksichten nimmt auf den Spiesser, der ihr Abonnent ist, und dass 
sie das Draufgangertum, das Junge, das Kraftige und Neue jetzt 
Schulter an Schulter mit dem Philister bekampft. Hirth ist nicht 
verantwortlich dafilr, dass die Mitarbeiter an seinem Blatt heute 
nicht mehr nach Talent und frischem Wollen gefragt werden, son- 
dern nach bravem Lebenswandel und loyaler Gesinnung. Moge er 
die „Jugend" eines Tages wieder von neuem, freiem, kampferischem 
Geist belebt sehen, der sie ihres Namens wert mache! Das ist 
mein Wunsch fur den Siebzigjahrigen. 

Die nervenschwache Polizei. Ein weitverbreitetes Vorurteil meint, 
dass es der Polizei vor gar nichts graust. Erinnert man sich der abge- 
schlagenen Hand in Breslau, des Totschlags an dem Arbeiter Her- 
mann oder des Selbstmords des Studenten Dubrowsky in Berlin, so 
konnte diese Ansicht berechtigt erscheinen. Sie ist es aber nicht. Die 
Mlinchner Polizei namlich, die klirzlich an der Leiche eines gesturzten 
Gauls Strassenschlachten schlug, hat jetzt ihr empfindsames Gemlit ent- 
deckt. — Der Wiener Maler Max Oppenheimer veranstaltet gegen- 
wartig in der „Modernen Galerie" bei Thannhauser eine Ausstel- 
lung seiner Werke. Eines der Bilder wilnschte der Klinstler Bis 
Vorlage zum Plakat der Ausstellung zu verwenden. Es stellt einen 
nackten Mann dar, der sich mit den Handen die Brust aufreisst, aus 
der das Blut stromt. Die Polizei hat den offenflichen Anschlag des 
Plakats verboten mit der Begrundung, dass es ihr obliege, fur die 
Wahrung des guten Geschmacks zu sorgen. Die Nacktheit des dar- 
gestellten Mannes kann filr die Polizei kein Grund zum Einschreiten 
gewesen sein. Denn das, worauf sich bei Aktbildern das Konfis- 
kationsinteresse der Behorde zu konzentrieren pflegt, ist auf dem 
Oppenheimerschen Plakat nicht sichtbar. Es bleibt nun also keine 
Annahme ilbrig als die, dass es dem Mlinchner Zensor vor dem 
roten Farbfleck auf der Brust des Junglings gegraust hat. Leute, 
die etwas davon verstehen, finden die Ausstellung Oppenheimers 
ausserordentlich schon; die Munchner Polizei besinnt sich auf ihren 
Beruf als Huterin des guten Geschmacks und bewahrt das Publi- 
kum vor dem Anblick der blutigen Aftiche. Die Mlinchner Polizei 
kann offenbar kein Blut sehen, — wenigstens kein gemaltes. 

Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach. Miinchen, Baaderstr. 1 u. 1 a. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaders«-, la. Tel. 2355. 



An die Leser! 



Das Weitererscheinen der Zeitschrift „Kain" ist gesichert. Wer 
aus Furcht um scinen Taler bisher kein Jahresabonnement wagen 
wollte, mag das Blatt jetzt getrost bestellen. — Sobald wie moglich soil 
der „Kain" ohne Preiserhohung in grofierem Umfange erscheinen. 
Die zahlreichen Zuschriften, die ich erhalte, und die teils die zweite 
Nummer auf Kosten der ersten, teils die erste auf Kosten der zweiten 
loben, bestatigen mir, dafi ich in der Redigierung der Zeitschrift so 
fortfahren soil, wie es mir richtig scheint. Wem meine Art gefallt, 
der werbe fiir das Blatt. 



M ii n c h e n , Akademiestr. 



Erich Muhsam. 



Geldsendungen, Bestellungen, Reklamationen richte man aus- 
sell Iklil kh an die Geschaftsstelle: Kain-Verlag, Miinchen, Baaderstr. la. 

Personliche Briefe, Biicher, Tauschexemplare etc. an den Heraus- 
geber: Akademiestrafie 9. 

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zufiillen und auszuschneiden und an den Kain-Verlag oder eine Buch- 
handlung einzusenden. 



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Bucherzettel. 



An 



Mil 
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frankieren. 



Don 

eridt) muDfam 

crfcDieiirn folgende BUd)tr. 



OlC ItJUftC* CedUfcte. 1904. m. 2.-W. 

Dft KtdtCt* 0emo)tc. 1909. m. 2.- 

DlC !}Od[)ItdplCr* luMptel. 1906. m.i.- 

Zu brzicljcn durct) icilf Burtiljandlung und den 
KaiivDcrlag, mundjcn, Baadcrftrafce la. 



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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Munchen, Baader- 
strasse 1 a.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Adresse: 



Name: 



*) Nichtgewiinschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgang I. 



No. 4. Jul* 19H- 



KMN 

Zeif/chrffffur 

hen/chd'chM 
HemuJgeber; 

(jr ichfluhiojn 




I n h a 1 1 : Widmung. — Menschlichkeit. — Tagebuch ans dem Gefang- 
nis. — Bemerkungen. — Fur Wedekind. — Tariftreue. — Ken- 
tucky und Berlin. — Der Herr Rektor. — Semerau. 



Kain-Verlag Miinchen. 

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aus dem Verlage Max Steinebach in Miinchen, Baader- 

strasse 1 a. Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder 

direkt vom Verlag. 

Geschichte des deutschen Arbeiterstandes Mk. 1. — 

von Staatsarchivar Dr. Christian Meyer. 

Die vorliegende Schrift behandelt nach einer kurzen Einleitung 
iiber die geschichtliche Entwicklung des Verhaltnisses zwischen Arbeit 
und Besitz, die Geschichte des deutschen Arbeiterstandes von der 
altesten Zeit der unfreien Frohnhofwirtschaft an bis herab in unsere 
Tage der Grossindustrie mit Maschinenbetrieb. Namentlich das alte 
Handwerksgesellentum mit seinen merkwiirdigen, zuletzt vielfach ver- 
schnbrkelten und grotesken Einrichtungen und Gewohnheiten hat eine 
sorgfaltige Darstellung erfahren. 



Geschichte des deutschen Bauernstandes Mk. 1. — 

von Staatsarchivar Dr. Christian Meyer. 

Eine gedrangte Geschichte des deutschen Bauernstandes von 
der Zeit der altesten festen Siedelungen nach dem Schluss der grossen 
Wanderungen an bis herab in das 19. Jahrhundert, das in den Stiirmen 
des Jahres 1848 auch die letzten Reste der alten Grunduntertanigkeit 
unseres Bauernstandes beseitigt und die vollige staatsrechtliche 
Gleichstellung desselben mit den iibrigen Gesellschaftsklassen des 
Staates proklamiert hat. 



Beschichte des deutschen Adelstandes Mk. 1.50 

von Staatsarchivar Dr. Christian Meyer. 

Eine gedrangte, ubersichtliche Geschichte des deutschen Adels 
ist bisher ein Bediirfnis des gebildeten Lesepublikums gewesen. Die 
vorliegende Schrift versucht diese Liicke auszufiillen. Neu und eigen- 
artig ist die durch alle Phasen der geschichtlichen Entwicklung als 
Grundinhalt des Adelsbegriffs festgehaltene und konsequent durch- 
gefiihrte Definition des Adels als einer politischen Machtinstitution. 



Die Kunst und unser Leben Mk. — .60 

von Privatdozent Dr. Artur Kutscher. 

Grundlage zu einer kritischen Wiirdigung von Kunstwerken. 
Die Schrift bildet eine Polemik gegen Proffessor Max v. Gruber. 



Jahrgang I. Miinchen, 

No. 4. Mi 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fur Me ns chlichkei t . 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

fr |..| 1,11, | < .|,,H..,M. >■■>. <■<< It 4-1 l-l ■* ■ I 1 >i 1. 1 .l.l.l I i.l J-l J, ■ ,., I.,.,,!, 1..1.I, I ,1, 1 ,1, I ,1, I .I.mFTOT.1 .|,.|.1„1,.. 

„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einraal. Der Preis betragt 
fur das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
raent 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an ,,Kain-Verlag", 
Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 

Mitarbeiter dankend verbeten. 

j.u.i.1 i i ni l.i 1 1 i. i . i -i.i.ijM i .t.jjimj.iJi, i-i,.i.i,.i..j.i.j...j..,i.,l,t,ii-i. | ,l.f ■.)..iM.i...i...i .i .ii I i. 



W idmung. 

Tin alien friichten unbedenklich lecken; 
■* * vor G ott und Teufel nie die W affen strecken; 
Kiinftiges miBachten; friiheres nicht bereuen; 
den Augenblick nicht deuten und nicht scheuen; 
dem leben zuschau'n; A ndrer G Kick nicht neiden; 
stets S pielkind sein, neugierig noch im Leiden; 
am eignen S dicksal unbeteiligt sein: 
Das heiftt genieBen und geheiligt sein. 



— 50 — 

Menschlichkeit. 

Der Untertitel dieser Zeitschrift hat zu Missverstand- 
nissen Anlass gegeben, was mir durch mehrere Besuche 
und durch mehrere Briefe, die ich empfing, deutlich 
geworden ist. Ich halte es daher fur angezeigt, ehe mein 
Blatt in den von mir durchaus nicht erstrebten Ruf einer 
Wohltatigkeitsanstalt kommt, den Lesern mitzuteilen, was 
ich unter Menschlichkeit begreife. 

Die Tatsache, dass ich plotzlich Herausgeber einer 
Zeitschrift geworden bin, muss — trotz der ehrlichen 
Mitteilungen ans Publikum, wie die Finanzlage des Unter- 
nehmens bei seiner Griindung beschaffen war — bei 
manchen Leuten den Verdacht erweckt haben, ich sei 
Kapitalist. Einige von ihnen traten an mich heran und 
wollten mich anpumpen, wobei sie sich darauf beriefen, 
dass ich als offentlicher Verkunder der Menschlichkeit 
doch zu allererst zur charitativen Betatigung dieser Eigen- 
schaft verpflichtet sei. 

Die mit solchen Ansichten und Absichten zu mir 
kamen, waren in zwei Irrtumern befangen: erstens tauschten 
sie sich darin, dass sie mich fur einen beguterten Herrn 
hielten, zweitens darin, dass sie meinten, das Fremdwort 
Menschlichkeit heisse auf deutsch Charitas. 

Um vorweg eine eindeutige Definition zu geben: 
Menschlichkeit bedeutet die unverdorbene, naturliche, 
wechselseitige Einstellung der Menschen zueinander; auf 
ehrlichem Urteil und anstandiger Gesinnung ruhende 
Beziehungen; Wille zu Gerechtigkeit und Nachstenliebe 
und Kampf auf bis zur Geistigkeit erhohtem Niveau. 

Mit dem Titel dieser Zeitschrift habe ich ausdriicken 
wollen, dass ich es mit den Schlechtweggekommenen halte, 
die keine Duckmauser sind, sondern Selbstandige, Starke, 
zur Rebellion Bereite, und die gewillt sind, Zustande 
reinlicher Menschlichkeit, da sie bis jetzt nirgends vor- 
handen sind, schaffen zu helfen. Mit Humanitat im Sinne 



— 51 — 

von Mildtatigkeit hat die Menschlichkeit, die ich meine, 
garments zu tun. 

Die Tatsache, dass Humanitat und Menschlichkeit 
nach allgemeinem Sprachgebrauch und nach den lateinischen 
und franzosischen Vokabularien Synonyme sind, ist mir 
allerdings bekannt. Mir ist aber auch bekannt, dass die 
Romer das Wort humanitas hauptsachlich gebrauchten, 
um damit eine freundlichere Behandlung der Sklaven aus- 
zudriicken, als sie allgemein ublich war. Und ferner ist 
mir aufgefallen, dass die deutsche Sprache die Anwendung 
fremdlandischer Bezeichnungen besonders da liebt, wo 
eine Entwertung und Herabwurdigung des deutschen Be- 
griffs beabsichtigt ist. Es wird niemand leugnen wollen, 
dass es z. B. weitaus hoflicher ist, von dem Gesicht einer 
Dame zu sprechen, als von ihrer Visage. Wer seine 
Geliebte hochachtet, wird sie ungern als seine Maitresse 
bezeichnet horen. Der Besitzer eines neuen Hutes oder 
Regenschirmes wird wenig erfreut sein, wenn man seine 
schonen Dinge zum Chapeau und Parapluie erniedrigt, 
und ein Ritter ist ein viel mannlicherer Kerl als ein 
Kavalier, den man sich bios im Smoking vorstellen kann. 

Gradeso ist die Humanitat eine verwaschene, korrum- 
pierte, unbeseelte Abart der Menschlichkeit, und dass man 
dieses Wort kaum mehr anders als in der Bedeutung der 
Humanitat gebraucht, beweist nur, dass alle wirkliche 
Menschlichkeit iiber Politik und Geschaft verloren 
gegangen ist. 

Heutzutage glaubt man, es wer weiss wie weit in all- 
gemeiner Menschlichkeit gebracht zu haben, und preist 
diese Zeiten des Fortschrittes und der Kultur als himmel- 
hoch erhaben iiber jene fluchwiirdige Vergangenheit, in 
der unzahlige Menschen ihresgleichen als Sklaven horig 
waren. Es sei hier nur nebenbei die Frage aufgeworfen, 
ob die Einrichtung der Sklaverei denn wirklich aufgehort 
hat. Ich glaube: nein. Der Unterschied ist nur der, dass 
ehemals der Arbeiter als Sklave nur einem einzigen Herrn 



— 52 — 

gehorte; jetzt gehort er demganzen Stande der Herren, den 
man das Unternehmertum nennt. Ob dieser Zustand viel an- 
genehmer ist fur den Exploitierten als der fruhere, muss da- 
hingestellt bleiben. Freiheitlicher ist er ganz gewiss nicht. 

Aristoteles ist der Ansicht, dass die Sklaverei durch 
die Naturordnung bedingt sei, da das Niedere dem Hoheren 
dienen musse. Die in unseren Tagen das Wort Sklaverei 
emport von sich weisen, den Kapitalismus aber — das 
ist das Recht auf den Arbeitsertrag der „Niederen" — 
ebenfalls als durch die Naturordnung bedingt hinstellen, 
sind nicht lauter klugere, freiere und menschlichere Leute 
als Aristoteles. 

Man mag mich gemutlos schelten, wenn ich den Ver- 
gleich zwischen den Zeiten der Sklaverei und denen der 
Menschlichkeit noch ein wenig fortfuhre. Stirbt heutzu- 
tage einem Gutsbesitzer ein Pferd oder eine Kuh, so ist 
das ein Verlust, der recht empfindlich ist. Im Viehstall 
wird daher auf gute Versorgung des Bestandes viel Miihe 
gewandt. Stirbt ein Knecht — diese Wurde steht viel 
hoher als die eines Sklaven — so ist das sein eigenes 
Missgeschick. Fur den Gutsherrn ist er schnell und ohne 
Unkosten zu ersetzen. Als die Wohlhabenden noch 
Sklaven hielten, war es anders. Da reprasentierte jeder 
Arbeiter fur seinen Herrn einen positiven Wert — wie 
heute das Pferd und die Kuh — , sein Tod war schmerz- 
lich fuhlbar. Daher lag es sehr im Interesse des Brot- 
gebers, dem Arbeiter lebenerhaltendes Unterkommen und 
auskommliche Verpflegung zu sichern. Ebenso wurden 
die leibeigenen Frauen vorsichtig und in aller hygienischen 
Sorgfalt gehalten, damit sie im Stande blieben, gesunde 
und arbeitsfahige Sklaven zu gebaren, und die Kinder, 
die einmal diese Sklaven werden sollten, wurden naturlich 
erst recht gehutet und vor Unterernahrung und schwachen- 
den Einflussen angstlich bewahrt. 

Heute schutzt dieser rohe Sklavenhalter-Egoismus die 
Kinder nicht mehr vor Not und Hunger. Skrophulose 



— 53 — 

und ahnliche Symptome mangelhafter Lebenshaltung kenn- 
zeichnen die Entwicklung der Menschlichkeit am Korper 
der Kinder. Vater Staat, dessen Interessen mit denen 
seiner besitzenden Sachw alter identisch sind, hat wich- 
tigere Dinge zu tun, als sich um die Proletarierbalge 
anders zu qualen, als durch Zufuhrung religioser Zuver- 
lassigkeit und vaterlandischer Begeisterung. Gottseidank 
finden aber alternde Damen Musse genug, sich des Jam- 
mers der Hungernden zu erinnern, deren Ausdunstung 
ja nicht in die Bezirke ihrer Villen dringt. Und sie 
arrangieren Wohltatigkeitsbazare mit Orchideen und 
Pommery, vergnugliche Maskenballe, Gartenfeste oder 
gar Dilettanten-Auffuhrungen. 

Kurzlich trug man die Menschlichkeit sogar auf die 
Strasse. Jedermann musste Margeriten kaufen, damit den 
nicht auf dem Wege uber das Standesamt gezeugten 
Kindern das Elend der ersten Lebensjahre erleichtert 
werde. In Munchen kamen gegen hunderttausend Mark 
dabei heraus, und der gute Burger, der an jenem Tage 
auch ein Blumchen im Knopfloch trug, kann frohen 
Herzens ein Lied summen, da er zu dem Werk der 
Menschlichkeit sein Scherflein beigetragen hat. Wirwerden 
namlich nun wohl nachstens lesen, dass fur das Geld ein 
Fursorgeburo fur uneheliche Kinder errichtet wird, zu 
dem soundsoviele Beamte engagiert werden und dessen 
Instandhaltung soundsoviele tausend Mark jahrlich kostet. 
— Auch werden gewiss manche Kinder ihren lockeren 
Muttern abgenommen und frommen Familien zu einer 
Erziehung zugefuhrt werden, die die hereditaren Einflusse 
der bedauerlichen Herkunft in der Seele des Kindes zu 
verwischen geeignet ist. Ob nicht in mancher dieser 
frommen Familien die Sorge um das Kostgeld grosser 
sein wird als die um das Kind, wird im einzelnen Fall 
wohl schwer zu kontrollieren sein. 

Dieser der hoheren Menschlichkeit gewidmete Mar- 
geritentag war fur mich ein Tag der Qual. Die aller- 



— 54 — 

liebsten jungen Madchen, die im besten Glauben an ihre 
menschenfreundliche Mission mit leuchtenden Augen und 
frohen Gesichtern uberall auf einen zukamen und in 
wirklich ruhrender Erfulltheit zum Kauf von Margeriten 
zuredeten, abweisen zu mussen, war nicht immer ganz 
leicht, und ich sah oft in Mienen, die ob meiner Lieb- 
losigkeit ganz traurig wurden. Aber mein Knopfloch blieb 
leer. Ich konnte mich nicht dazu entschliessen, auch nur 
mit einem Groschen den frivolen Unfug zu unterstutzen, 
als der sich mir der Versuch darstellt, die grauenvollste, 
furchterlichste Schmach unserer unmenschlichen Zustande, 
die Hungersnot unter den Kindern, mit der Arrangierung 
eines charitativen Sportfestes zu ubertunchen. 

Nichts will ich mit dieser Art Menschlichkeit gemein 
haben, die die Bevorzugten gegen die Unglucklichen iiben, 
um die seltenen schwachen Regungen eines schlechten 
Gewissens zu beruhigen. Nichts mit einer Menschlich- 
keit, die sich in dem unverfrorenen Sprichwort spreizt, 
dass Armut nicht schande. Als ob nicht Armut in diesen 
Zeiten das einzige ware, was in Wahrheit schandet! Wen 
unverschamte Ausniitzung einer zufalligen Macht zum 
Milliardar gemacht hat, der gilt unter den Menschen 
als ein hoheres Wesen. Man feiert, ehrt und beglotzt ihn, 
und wenn er gar noch eine wohltatige Stiftung zur Be- 
lohnung fur Lebensretter macht, preist man ihn als Vor- 
bild edelster Menschlichkeit. Der Arme aber wird uber- 
all und ganz unverhullt als Mensch zweiten Grades 
gewertet. Die Gesellschaft dessen, die keine gestarkte 
Wasche tragt, ist anruchig; die Umgangsmoglichkeit ent- 
scheidet sich nach der Vollkommenheit der Garderobe. 
— Dem armen Kinde schon ist die Moglichkeit ver- 
schlossen, die moderne Konversationsbildung aufzunehmen. 
Dem vermogenslosen Jungling sind alle Wege zu den 
eintraglichen Pfrunden des Erwerbslebens versperrt. Er 
ist zum Opfer der Ausbeutung bestimmt — ohne Riick- 
sicht auf Charakter, Veranlagung und Neigung, und um 



— 55 — 

ihm seine Minderwertigkeit noch deutlicher fiihlbar zu 
machen, wird er gezwungen, durchaus gegen seinen Wunsch, 
gegen seine Einsicht und gegen sein Interesse, langer als 
die Besitzenden und in niedrigeren Chargen die Mord- 
instrumente zu tragen, mit denen er das Kapital, das sein 
Blut saugt, zu schutzen hat. Alles das unter Berufung 
auf Ideal, Christentum und Menschlichkeit. 

Somit haben alle humanitaren Bewegungen und Be- 
strebungen, soweit sie innerhalb des Staates, des Kapitalis- 
mus, der Knechtschafts-Einrichtungen sanftigend und ver- 
sohnend wirken sollen, keine Beriihrung mit der Mensch- 
lichkeit, die ich fordern mochte. Diese Menschlichkeit 
will Menschenbewusstsein, Solidaritat, Freiheit, Gerech- 
tigkeit und Erfulltheit vom heiligen Berufe Mensch zu 
sein; will Liebe unter den Menschen, die auf Gleichheit 
und Geselligkeit fusst; will Kraft und Schonheit, und will 
hitzigen Streit, emporte Abwehr gegen jede Art Unter- 
driickung, Luge, Vergewaltigung, Unrecht und Tartufferie. 

Die Menschlichkeit, von der ich rede, besteht noch 
nicht, sowenig wie Gerechtigkeit oder Kultur besteht. 
Sie soil erkampft werden mit den Mitteln, die dereinst 
ihre Fundamente sein werden; durch Bund und Aus- 
lese, durch Klarheit, Wahrheit, Festigkeit und seelische 
Freiheit. Menschlichkeit ist Hass und Abwehr gegen 
Durftigkeit und Gemeinheit, ist Liebe zum Schonen, 
Wahren und Ewigen und Wille zum Wesentlichen. 



Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung). 

Und jetzt? Die Tage vor meiner Verhaftung waren, veran- 
lasst durch die Haussuchung, die die Berliner Polizei im Auf- 
trage der Mtinchner bei mir vornahm, Notizen durch die Blatter 
gegangen, wonach ich an der grotesken Mlinchner Bombenaffare be- 
teiligt gewesen sein sollte. In der Tat wurde mir von den Be- 
amten, die mein Zimmer und meine Taschen durchstoberten (in 



— 56 — 

Uebereinstimmung mit der Wahrheit)*) gesagt, ich solle mit den 
Verhafteten, die (dieses Unternehmens beschuldigt wurden, ofters 
gesehen worden sein. Da fur Leute, die keinen Einblick in mein 
Tun haben konnen, der Eindruck entstehen musste, diese Zeitungs- 
notizen kompromittieren den Miihsam schwer in der Angelegenheit, 
erliess ich im „Berliner Tageblatt" und im „Lokal-Anzeiger" Erkla- 
rungen, in denen ich die Unsinnigkeit solcher Kombinationen nach- 
wies. Danach glaubte ich alien Gefahren uberhoben zu sein und 
ohne Geheimniskramerei in die Schweiz abreisen zu konnen. Und 
nun doch die Verhaftung: wegen fortgesetzten Vergehens gegen 
§§ 128, 129, 73. ) Zwar hatte ich bei der Protokollierung meiner 
Identitat den Polizeikommissar ersucht, mir den Inhalt dieser Para- 
graphen anzuvertrauen, aber der hatte sie mir so schulerhaft vor- 
gelesen, dass ich nur den Sinn des § 73 des Strafgesetzbuches 
verstand, der nichts wie Strafausfuhrungsbestimmungen enthalt, die 
namlich, dass bei Verletzung zweier Paragraphen das Strafmass des 
schwerer zu suhnenden Vergehens in Anwendung zu bringen sei. 
Was das eigentliche Delikt anlangt, so war ich in den Stunden, 
die ich eben beschreibe, noch vageren Kombinationen uberlassen 
als vorher. § 130, das wusste ich, betrifft die Aufreizung zu Gewalt- 
tatigkeiten verschiedener Bevolkerungsklassen gegen einander. Da- 
fur bin ich schon mal bestraft worden. 128, 129 konnten nicht sehr 
Unahnliches betreffen, da sie so dicht danebenstehen: Aber wel- 
ches potisiche Verbrechen konnte ich „fortgesetzt" begangen ha- 
ben? Ich war mir keines bewusst. Nur soviel gestand ich mir doch, 
dass deutsche Behorden nicht so rasch zur Verhaftung eines Men- 
schen schreiten, der, wie ich, einen bekannten Namen hat, wenn 
sie nicht mindestens starke Grilnde fur ihr Vorgehen zu haben 
meinen, und dass die Freilassung — mogen die gegen mich er- 
hobenen Vorwlirfe noch so falsch sein — nicht mit einem Feder- 
strich und in ein paar Stunden zu erzielen sein wurde. — 

Solche Ueberlegungen beherrschten etwa die Stimmung, in der 
ich mich nun in der Kellerzelle des Charlottenburger Polizeigefang- 
nisses am Vormittage des 30. Oktober befand. Ich erhielt in- 
dessen den Besuch eines beleibten, vollbartigen Herrn mit Kneifer 
und Zigarre, der sehr von oben herunter auftrat und mich in schnei- 
digem Beamtenton nach Namen und Stand fragte. Er kicherte 
dabei und verschwand wieder. Dann kam noch ein sehr ernst schauen- 
der, offenbar hoherer Beamter, der mich nur musterte. Ich hatte bei 
beiden die Empfindung: die wollen sich das rare Tier mal ansehen, 



*) Als ich dies schrieb, war mir der Name des Hauptbeteiligten 
noch unbekannt. Den sah ich zum ersten Mal vom Zuschauerraum 
des Gerichtssaals aus, in dem er abgeurteilt wurde. 



— 57 — 

das man ihnen da hereingebracht hat. Inzwischen schlug die omi- 
nose Uhr Mittag, und ich bekam eine greuliche dicke Graupensuppe, 
wieder mit einem Riesenklumpen klebrigen Brotes. Da ich sehr aus- 
gehungert war, zwang ich mich, moglichst viel davon zu essen. 
Gegen 1 Uhr wurde mir endlich eroffnet, dass ich mich beredt ma- 
chen solle zur Ueberflihrung. Ich hatte kaum Zeit, mir die Stiefel 
anzuziehen und den Kneifer aufzusetzen. Die Hosentrager wollte mir 
der Aufseher nur so in die Hand geben. Er empfahl mir, sie in 
die Tasche zu stecken. Ich uberrumpelte ihn aber, indem ich — 
eins, zwei, drei — Jacke und Weste auszog und die Hose sorgfaltig 
befestigte, ehe ich mich bereit erklarte. Jetzt wurde ich einem 
uniformierten Charlottenburger Polizisten attachiert, der mich zu eineim 
Polizeiwagen begleitete, einem von alien Seiten geschlossenen dumpfi- 
gen Kasten, vor den zwei Schimmel gespannt waren. Ich schlug 
vor, auf meine Kosten eine Droschke zu nehmen, man bedeutete 
mir aber, dass ich das vorher hatte sagen sollen (als ob ich dazu 
Gelegenheit gehabt hatte, wo ich keinen Schimmer hatte, was mit 
mir werden sollte). In dem Wagen sassen schon vier Personen 
drin, alle ehrpusselig in einer Reihe. Ich setzte mich ihnen gegen- 
iiber, ganz vorn, von wo ich durch eine Lilcke unterhalb des Kut- 
schersitzes auf die Strasse sehen konnte. Der Schutzmann setzte 
sich auf das gleiche Brett in die hintere Wagenecke, wo fur ihn 
eine Decke lag, und ordnete die Packete, die meine und meiner 
Leidensgefahrten Habe enthielten. Die Karre setzte sich also in 
Bewegung, und ich hatte Zeit, wahrend der schweigsamen Fahrt 
zum Gerichtsgefangnis meine Mitreisenden zu betrachten. Mir gegen- 
ilber sass ein Mann von etwa 50 Jahren, eine Gestalt, wie man sie 
in Herbergen, Warmehallen, Kaschemmen und ahnlichen Orten mas- 
senhaft antrifft. Fur meine Gruppe „Vagabund" des Sozialistischen 
Bundes, die ja leider nicht mal zustande kam, und filr deren Nicht- 
verstehen durch Unbeteiligte ich anscheinend jetzt hier sitze, schien 
mir der Mann indessen nicht zu taugen. Dazu sah er mir ncht ver- 
zweifelt genug aus, auch nicht ingrimmig genug. Sein Gesicht hatte 
eher einen sozusagen demiitig-verdrossenen Ausdruck. Neben die- 
sem armen Teufel sass ein junger Mensch, sehr lang und blass und 
von unintelligentem, fast stupidem Aussehen. Er hielt in der Hand 
krampfhaft seine Hosentrager und schien seine Lage mit eineim 
stumpfsinnigen Widerwillen zu ertragen. Die beiden anderen Wa- 
geninsassen waren Madchen. Eine grosse, ziemlich uppige, nicht 
hassliche, aber etwas verlebte Person, die ich filr eine Prostituierte 
in mittlerer Preislage hielt, und ein nettes, junges, zartes, blondes, 
verangstigtes Geschopfchen, das um, wer weiss was filr einen klei- 
nen Ladendiebstahl die traurige Fahrt mitmachen musste. — Zuerst 
fuhr der Wagen in die Kirchstrasse zum Krankenhaus, holperte dort 



— 58 — 

iiber die steinerne Hofschwelle durchs Portal, dass wir alle fast 
durcheinandergefallen waren, und liess die grossere und altere der 
Frauensleute dort aussteigen und vom Personal in Empfang nehmen. 
Armes Wurm, das man nur gesund werden lasst, um es den Tor- 
turen der „Gerechtigkeit" zu uberliefern! — So fuhren wir dann, 
eine Person weniger, weiter zum eigentlichen Gefangnis. — — 

Ich habe eben mein Abendbrot verzehrt. Gleich werde ich 
ins Bett geschickt. So will ich fur heute schliessen, und die Be- 
gebenheiten vom zweiten Tage meiner Gefangenschaft und \om 
Betreten der zweiten Station an morgen weiterschildern. 

(Fortsetzung folgt.) 



Bemerkungen. 



Fiir Wedekind. Die Kinderstube Deutschland, in der die Krabben 
ihrer eigenen Zimmerreinheit so wenig zutrauen, dass sie das grobe 
Kindermadchen Polizei bei keiner Verrichtung entbehren konnen, 
scheint endlich Schauplatz einer kleinen geistigen Revolte werden zu 
wollen. Einige Grossergewachsene wollen sich nicht mehr abhalten 
lassen. Sie wollen ttber ihre Bilder und Leseblicher selbst bestimmen, 
sie wollen sich die wlirdelose Beaufsichtigung ihrer Spiele durch die 
tappische Magd nicht mehr getallen lassen und klindigen ihren Willen 
zur Selbstandigkeit in einer erfreulich energisch gehaltenen Protest- 
kundgebung an. 

Die Zeitungen brachten einen Aufruf gegen das sinnlose, unge- 
schickte, muckerische Vorgehen der Polizeizensur gegen die Werke 
Frank Wedekinds. Eine Reihe sehr betrachtlicher Klinstler und Kunst- 
freunde fordert zum Zusammenschluss aller derer auf, „denen das 
Schaffen Frank Wedekinds wert erscheint, vor einer systematischen 
Verdrangung au» der Oeffentlichkeit bewahrt zu werden." Ein Drittel 
der gesamten dramatischen Kunst Wedekinds werde infolge Polizei- 
verboten an keiner deutschen Bilhne zur Auffilhrung zugelassen. Alle 
Anzeichen deuten darauf hin, dass bei der Polizei der Entschluss 
feststeht, den Dichter von „Frilhlings Erwachen" mit seinen Ueber- 
zeugungen, die er in zwanzig Tahren nach der Niederschrift der Kin- 
dertragodie gewonnen hat, auf der Blihne nicht mehr zu Wort kommen 
zu lassen. Durch sein Aultreten auf der Bilhne den Beweis zu er- 
bringen, dass in seinen dramatischen Arbeiten ein tiefer sittlicher 
Inhalt liege, sei dem Dichter, soweit es seine von der Polizei ver- 
botenen Dramen betreffe, ein fiir allemal unmoglich gemacht. Es 
stehe zu beftirchten, dass die Polizeibehorden entschlossen sind, auch 
diejenigen Dramen allmahlich von der Blihne zu verdrangen, die bis 
jetzt zur Auffilhrung freigegeben wurden. Die Unterzeichneten 



— 59 — 

bieten die Hand zur Wahrung des aus Wahrheitsliebe und 
Schonheitsverehrung hervorgegangenen dramatischen Lebenswerkes 
Wedekinds, „indem wir dem bald Flinfzigjahrigen den Weg ebnen 
wollen, den er gehen muss, um sein Werk zur Geltung zu bringen. 
Die Freunde Wedekindscher Kunst werden daher gebeten, ihren 
Namen dem Verlagsbuchhandler Georg Mliller in Miinchen, Joseph- 
platz 7, bekannt zu geben." 

Unter den Unterzeichnern des Aufrufs befinden sich die aus- 
gezeichnetsten Manner, die das kiinstlerische Leben Deutschlands und 
Oesterreichs zu stellen hat. Ihnen geblihrt Dank und Anspornung. 
Bei der Schlafmiitzigkeit, die das Verhalten der Geistigkeit gegen 
das Herumwlihlen subalterner Seelen in kulturellen Werten allgemein 
kennzeichnet, bedeutet der Aufruf fur Wedekind einen ersten mann- 
lichen Vorstoss. Nur mochte man wiinschen, dass die Kundgebung 
nicht in einer Namenstabelle mit lediglich statistischem Wert um- 
kommt. So lohnend es ist, einmal zu erfahren, wer bis jetzt die da- 
monische Kraft des genialsten lebenden Dichters erkannt hat, so wichtig 
ware es doch auch, das Solidaritatsbekenntnis fur einen Dichter gegen 
die Staatsgewalt zu einer kraftigen und dauerhaften Aktion derer, 
die sich nicht mehr bevormunden lassen wollen, zu erweitern. Dazu 
gehort freilich mehr als ein gelegentlicher Protest, wenn einem zufallig 
einmal die Spitze eines Polizeihelms unter das eigene Kinn stosst. 
Dazu gehort die Erkenntnis, dass die ganze Institution der Beauf- 
sichtigung der Menschen in ihrem privaten Verhalten unwurdig und 
fur selbstbewusste Naturen unertraglich ist. Wer sich willig von der 
Polizei um drei Uhr nachts zu Bett schicken lasst, wer kritiklos zu- 
sieht, wie die Polizei sich in jede privateste Privathandlung, etwa 
ins erotische Leben, einmischt, der darf sich nicht beklagen, wenn sich 
die Flirsorge der hohen Behorde auch mal bis in seine eigenen inner- 
lichen Erlebnisse und Bedtirfnisse erstreckt. Die Macht, die die Poli- 
zei ausubt, ist ihr von der Oeffentlichkeit zuerteilt worden. Schlimm 
genug fllr den kultivierten Teil der Menschheit, dass er stets lang- 
mtitig zusieht, wie die Oeffentlichkeit ausschliesslich vom unkultivierten 
Teil reprasentiert wird. In Wedekinds Werk ist sozialer Drang, so- 
ziales Bekennen und sozialer Protest genug — drum eben sucht ihn die 
Offentliche Gewalt mit jedem Mittel mundtot zu machen. Wer auf 
Freiheit des Worts und der Ueberzeugung halt, der stelle sich mit 
der ganzen Breite seiner intellektuellen und seelischen Bedeutung 
der Einrichtung entgegen, die auch in seinem Namen Freiheit, Selbst- 
standigkeit und Eigenleben unterdruckt. Erst wenn die anmassliche 
Vorherrschaft des Polizeisabels auf alien Gebieten des offentlichen 
Lebens zuruckgedrangt sein wird, werden wir erwarten dttrfen, dass 
Kunst und Kultur sich ungestort ausbreiten konnen, und dass kul- 
turelle Vorstellungen vor kulturlosen Nachstellungen sicher sein werden. 



— 60 — 

Tariftreue. Die Art, wie die deutschen Arbeitergewerkschaften 
um vorteilhafte wirtschaftliche und menschliche Existenzbedin- 
gungen „kampfen", hat bei kritisch veranlagten Revolutionaren 
schon immer arges Bedenken erregt. Da gibt es kein Losschlagen 
im gunstig erscheinenden Augenblick, kein Streiken im Moment der 
Hochkonjunktur, wenn die Arbeiter am notigsten gebraucht werden, 
also am leichtesten Zugestandnisse von den niemals sentimentalen 
Unternehmern erzwingen konnen, kein Sichverlassen aufEnergie, Ent- 
schlossenheit und Opferwilligkeit der Einzelnen, sondern immer nur 
ein behutsames Erwagen und Zogern, ein Abwalzen der Verantwor- 
tung auf „Vertreter", ein Erlaubniseinholen und Direktivenem- 
pfangen von den Zentralstellen. Im Gegensatz zu den radikalen, 
selbstandigen Arbeitersyndikaten in den romanischen Landern (die 
syndikalistische Bewegung der Lokalorganisationen in Deutschland 
ist verhaltnismassig sehr schwach), die aggressiv vorgehen und 
standig auf dem Qui vive ? liegen, verzichten bei uns die zentrali- 
stischen Gewerkschaften mehr und mehr auf Angriffstreike, sie lassen 
es auf Aussperrungen ankommen, jammern dem Unbeteiligten vor, 
dass sie schuldlos seien an dem Konflikt und stehen der rucksichts- 
loseren Arbeitgeberschaft in der Defensive und folglich im Nachteil 
gegenuber. Aus dieser Unlust, dieser Bequemlichkeit und Saumigkeit 
erklart sich das sehnslichtige Bestreben nach langfristigen Tarifver- 
tragen. Man findet sich mit den Unternehmern in einer Tarifgemein- 
schaft zusammen, ein aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu- 
sammengetztes Tarifamt entscheidet in Streitfallen, man hat fur eine 
Reihe von Jahren Lohnhohe und Arbeitszeit vertraglich gesichert, 
und — nach Ablauf dieser Jahre, wenn man natilrlich mit neuen 
Forderungen anruckt, tritt einem die Prinzipalschaft wohlvorbereitet, 
gewappnet und geeinigt mit einem ktihlen Nein oder gar mit Ver- 
schlechterungen der Arbeitsbedingungen entgegen. 

Was es mit den grossen Vorteilen der Tarifgebundenheit fur 
den Arbeiter auf sich hat, das illustriert ein in mehrfacher Hinsicht 
uberaus bemerkenswerter Konflikt im Berliner Zeitungs Grossbetrieb. 
In August Scherls Druckerei, in der der ,, Berliner Lokal-Anzeiger", 
der „Tag", die „Berliner Abendzeitung" und etliche periodische Zeit- 
schriften hergestellt werden, wurde 7 Maschinenmeistern gektindigt und 
zugleich von den ilbrigen Arbeitern Uberstunden verlangt. Die Erbitte- 
rung darliber flihrte zu Reibereien, die vom Tarifamt zu schlichten 
waren. Der Spruch des Amts fiel nicht zur Zufriedenheit der Ar- 
beiter aus, die zwei Vertrauensleute mit deutlich formulierten For- 
derungen und mit Streikandrohung vorschickten. Neue Verhandlungen 
vor dem Tarifamt, das — wohlgemerkt: es ist zur Halfte von Arbeit- 
nehmern besetzt! — die Arbeiter abwies und der Firma anheimgab, 
die beiden Vertrauensleute, weil sie den Auftrag ihrer Kollegen er- 
fiillt hatten, zu entlassen. Das tat die Druckerei, und die — wie 
man denken sollte: selbstverstandliche — Folge war, dass die ubrigen 
Maschinenmeister sich mit denen, die nur ihren Willen ausgedruckt 
hatten, solidarisch erklarten und die Arbeit niederlegten. Soweit 

ware der Vorgang nicht weiter absonderlich; der Solidaritatsakt 
war anstandig, — aber es ware unanstandig gewesen, wenn er 
unterblieben ware. Scherl wandte sich nun an die Betriebe 
von Mosse („Berliner Tageblatt") und Ullstein („Morgenpost") 
mit der Bitte um Hilfe. In wohlverstandner Gemeinsamkeit der 
Unternehmerinteressen wollten die ihr Personal der bedrangten 



— 61 — 

Firma zur Verfiigung stellen. Die Arbeiter der Konkurrenz weigerten 
sich jedoch — wieder ganz naturlich und im Bewusstsein ihrer 
Solidaritat, — die zugemuteten Streikbrecherdienste zu leisten. Da 
die Scherischen Blatter infolgedessen nicht erscheinen konnten, 
geschah das Unerwartete, dass Mosse und Ullstein sich mit der 
Konkurrenz solidarisch erklarten und ihre Blatter ebenfalls nicht er- 
scheinen liessen. Das war klug und anstandig gehandelt, und es ist 
vom „Vorwarts" dumm und unanstandig, dass er die Solidaritat 
unter den Arbeitgebern anders wertet, als die unter den Arbeit- 
nehmern, und die Verleger der Zeitungen an ihre Lieferantenpflicht 
den Abonnenten gegenuber erinnert 

Soweit ist keinem der Beteiligten ein Vorwurf zu machen. Der 
Vorgang zeigt einen Ausschnitt aus dem gewerblichen Klassenkampf, 
wie er sich in sauberen Formen vollzieht. Schabig aber, erbarmlich 
und ttber die Massen kummerlich war das Verhalten der beteiligten 
Arbeiterorganisation, des Buchdruckerverbandes. Um der „Tarif- 
treue" willen, zu deutsch: um der Buchstabentreue, der Paragraphen- 
glaubigkeit, der Konfliktsangst willen, erklarte der Verband: dem 
Spruch des Tarifamts ist unbedingt Gehorsam zu leisten. Hat das 
Tarifamt entschieden, die Entlassung der Wortfuhrer der Maschinen- 
meister sei zu Recht erfolgt, so haben die, deren Wort geflihrt 
wurde, kein Recht mehr zur Solidaritat. Den Arbeitern der Firmen 
Mosse und Ullstein wurde versichert, wenn sie sich von ihren 
Prinzipalen an die verwaisten Maschinen der Scherischen Druckerei 
kommandieren liessen, so begingen sie keinen Streikbruch, und zu 
allem Uberfluss wurden die beiden Generalsilnder, dafur, dass sie 
sich von ihren Kollegen hatten abordnen lassen, im frohen Ein- 
verstandnis mit der Gewerkschaft aus der Tarifgemeinschaft aus- 
geschlossen, und in den Extrablattern der Unternehmerorgane, die 
an Stelle der ausfallenden Zeitungen erschienen, stand die Erklarung 
der Verbands-Vertrauensmanner, dass die Arbeiter schwer geslindigt 
haben, und dass die Arbeiterorganisation alles getan habe, um den in 
Agitationsversammlungen ach! so geschmahten Unternehmern in ihrem 
Recht auf tariftreue Ausbeutung der Kollegen beizuspringen. 

Der groteske Fall ist deshalb so schauerlich ernst zu nehmen, 
weil er in seltener Helligkeit die Konsequenz der sozialdemokratischen 
Tarifmeierei zeigt. Die Organisation, die da ist, das Interesse der 
Proletarier gegen ihre Exploiteure zu wahren, stellt sich bei Gelegen- 
heit eines nicht bios begreiflichen, sondern durchaus gebotenen 
Solidaritatsstreiks auf die Seite des Kapitals, fordert die Arbeiter 
der Konkurrenzbetriebe zu heimtuckischer Verraterei auf und infamiert 
die eigenen Kollegen, die fur die gemassregelten Genossen einstehen: 
alles von wegen der „Tariftreue". Kommen sich vor wie Ethiker 
und sind Schlappschwanze. 

Kentucky und Berlin. Einer der Vereinigten Staaten von Nord- 
amerika hat sich ein Gesetz dekretiert, wonach nur mehr iiberfuhrte 
und rechtskraftig verurteilte Verbrecher filr das Verbrecheralbum 
photographiert werden dlirfen. Das „Berliner Tagblatt", erschlittert 
von einem solchen Grade freiheitlichen Edelmuts, interpellierte so- 
gleich das Berliner Polizeiprasidium um Auskunft, wie es hierzulande 
mit der Komplettierung des Verbrecheralbums gehalten werde. Oer 
Gehilte des Herrn v. Jagow versicherte dem Gehilfen der offent- 
lichen Meinung, ganz so leichtsinnig wie die amerikanische Republik 



— 62 — 

dilrfe man nicht verfahren. Immerhin bemlihe man sich auch in 
Berlin um Zuruckhaltung. Ausser den schon abgeurteilten gemein- 
gefahrlichen Verbrechern photographiere man nur noch solche, die 
dringend verdachtig seien, gewerbsmassig Verbrechen zu begehen . . . 

Als ich im Jahre 1906 zum ersten Male einen Prozess ange- 
hangt bekam (wegen „Aufreizung"), wurde ich zur allerersten 
Vernehmung — also ehe das Verfahren uberhaupt eroffnet war 
— aufs Polizeiprasidium zitiert. Nach einem kurzen Verhor wurde 
ich trotz meines Widerstandes und obgleich kein Haftbefehl gegen 
mich erlassen war, unter Anwendung von Gewalt gezwungen, mich 
im Atelier des Polizeigebaudes am Alexanderplatz photographieren 
zu lassen. Unter meinen anarchistischen Genossen ist kaum einer, 
dessen Konterfei und Fingerabdrucke noch nicht in Polizeiarchiven 
festgehalten wtirden. Dass in Munchen nicht einmal die Einleitung 
eines Strafverfahrens notig ist, um politisch verdachtige Leute einzu- 
sperren, zu photographieren und zu daktyloskopieren, daftir habe ich 
in Nr. 1 des „Kain" („Bayerische Freiheitlichkeit)" schon Material 
geliefert. 

Trotzdem fallt es mir nicht ein, dem Polizeiprasidenten wegen 
seiner Auskunft ans,. Berliner Tageblatt" der Verbreitung unwahrer An- 
gaben zu bezichtigen. Ich glaube die Psychologie polizeilicher Wurden- 
trager genilgend zu kennen, um ihre Mitteilungen mit der Wahrheit 
einigermassen in Einklang bringen zu konnen. Unsereiner, der die 
Einrichtung der politischen Polizei nicht eben fur eine Kulturerrungen- 
schaft halt, macht sich schon durch diese Ansicht dringend verdachtig, 
gewohnheitsmassiger Verbrecher zu sein. Da die Dressur der Polizei- 
hunde aber vorlaufig noch nicht soweit gediehen ist, dass die Tiere 
auch verbotene Ansichten aufschnuppern konnten, so muss sich die 
Behorde mit dem Verbrecheralbum behelfen, in das die Bilder solcher 
Leute geklebt werden, die gewohnheitsmassigen selbstandigen Denkens 
verdachtig sind. Ohne diese Sicherheitsmassregel glaubt das Berliner 
Polizeiprasidium nicht auskommen zu konnen, und von ihrem Stand- 
punkt hat sie sicherlich recht. 



Der Herr Rektor. In dem widerlichen Handel des Rektors des 
Mlinchener Luitpold-Gymnasiums, Oberstudienrats Dr. v. Orterer, 
bayerischen Kammerprasidenten, gibt es einen versohnenden Moment. 
Als der Beschluss des Lehrerkollegiums, die Gymnasiasten, die am 
Tanzunterricht teilgenommen hatten, von der Schule zu jagen, den 
Opfern solcher Padagogik drei Tage vor dem Abiturium mitgeteilt 
wurde, versuchte einer der jungen Manner, sich auf den Herrn Rektor 
zu stlirzen und personlich Rache zu nehmen. Das war die natilrliche 
Abwehrgeste des lebendigen Blutes gegen die froscherne Schleimig- 
keit eines Paragraph gewordenen Zelotenhirns. — Die Tagesschreiber 
haben den Eltern der Schiller geraten, das Luitpold-Gymnasium zu 
boykottieren, solange Herr Dr. v. Orterer daran als Rektor wirkt. 
Ein solches gemeinschaftliches Vorgehen der Eltern wiirde freilich 
den Etat der Schule herabdrilcken, es hatte aber zur Folge, 
dass sich der Erziehungs-Fanatismus des Lehrerkollegiums mit 
verdoppelter Intensitat auf die geringere Anzahl der Gymnasiasten 
konzentrierte, deren Eltern mit dem Herrn Rektor der Ansicht 
waren, Zweck jeglicher Belehrung sei, Individualitat zu vernichten 
In Wahrheit ist dies der Zweck jeglicher Autoritat, der elterlichen 



— 63 — 

ebenso wie der padagogischen. Es scheint daher nicht immer rich- 
tig zu sein, die Zucht des Elternhauses als Rettung vor der Zucht des 
Schulhauses anzusehen. Der Versuch des Gymnasiasten, sich zu 
rachen zeigt an, bei wem die Macht steht, auch ehe die Verzweiflung 
da ist, schon abzuwehren: beim Schliler selbst. Stiesse der Herr 
Rektor bei seinen schimpflichen und lacherlichen erzieherischen Gewalt- 
ilbungen bei den jungen Leuten, die doch keine kleinen Kinder 
mehr sind, auf rabiaten Widerspruch und bei Massregelungen auf 
starke Solidarity, dann konnte kein Zentrum, keine Kirche und kein 
Wehner ihn auf seinem Posten halten. Die Jungen zwangen ihn, 
abzutreten und seine drakonische Frommigkeit fortan ausschliesslich 
auf ihre Vater loszulassen, sofern die es bis zu Landtagsabgeord- 
neten gebracht haben. Den Eltern aber kann nur ein Rat gegeben 
werden: sie mogen so erziehen, dass jeder Zwang, der gegen ihre 
Kinder versucht wird, ganz selbstverstandlich der rlicksichts- 
losesten Ablehnung begegnet. Hatten sie selbst nicht ihre Spross- 
linge von klein auf an Zwang und Autoritat gewohnt, dann bediirfte 
es gewiss keiner Elternvereinigungen zum Schutz der Sonne gegen 
Herrn Rektor Dr. von Orterer. 



Semerau. Packt ihn, zwackt ihn, greift ihn, kneift ihn, 
Fangt ihn, haltet ihn und schleift ihn 
In des Kerkers Schauerbau, — 
Den Herrn Doktor Semerau. 
Ha! Schon setzt ihm nach die Menge. 
Voll verletzter Sittenstrenge 
Schmeisst man ihn ins Loch sogleich, 
Fern im Lande Oesterreich. 
Die in Arco, die in Milnchen 
Mochten den Herrn Doktor lynchen, 
Welcher, alles Anstands bar, 
Kompagnon des Bayros war. 
Wer sein Buch las, kennt das Grausen, 
Und speziell Herr Doktor Kausen 
Zahlte manchen goldnen Fuchs, 
Dass ihm die Emporung wuchs. 
In die Paragraphenschraube 
Mit dem Daumen, dass ihm Glaube 
Wiederkehre und Moral 
Warnungsvoll furs nachste Mai. 
Frau Justitia mach uns stark, oh! 
Dass wir, kommt er erst aus Arco, 
Ihn vertilgen langre Zeit, 
Namens der Gerechtigkeit. 



— 64 — 

An die Leser! 

Freundlich fur den „Kain" interessierte Leser mahnen mich, neue Er- 
zeugnisse meiner Lyrik zu bringen und bei der Redaktion des Blattes die 
Literatur mehr als bisherzu berucksichtigen. Ich kann versichern, dass 
ich selbst die Vermehrung des Inhalts nach dieser Seite am meisten 
wtinsche. Der ausserst enge Raum, der mir zur Verfilgung steht, 
verhindert mich aber immer wieder, alles was ich zu sagen habe, 
drucken zu lassen. Es ist schmerzlich genug, trotz aller Kunste der 
Setzermeister, moglichst viel unterzubringen, aus jeder Nummer 
schon gesetzte Beitrage wieder herausnehmen zu mussen. Ich hoffe 
aber, dass bald Rat geschafft wird, wie die Zeitschrift ausserlich 
ansehnlicher und innerlich reicher erscheinen kann. Die Vergrosse- 
rung des Blattes, bezw. die schnellere Folge seines Erscheinens 
wird bewirkt werden, sobald der Andrang der Abonnenten und Kaufer 
dem des zu bewaltigenden Materials einigermassen entspricht. 

Miinchen, Akademiestr. 9. Erich Muhsam. 



Friiher erschienen: 

KAIN, Heft 1. Inhalt: Kain (Gedicht). — Die Todesstrafe. 
— Tagebuch aus dem Gefangnis. — Mtinchner Theater. — 
Bayerische Freiheitlichkeit. — Die voile Mass — Oeffent- 
licher Dank. 

KAIN, Heft 2. Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch 
aus dem Gefangnis. — Blicher. — Schonherrs Plagiat. — 
Krawall, Revoke, Revolution. — Jagow und Kerr. — Humor. — 
Correspondenz. 

KAIN, Heft 3. Inhalt: Aufruf zum Sozialismus. — Tage- 
buch aus dem Gefangnis. — Mtinchner Theater. — Der un- 
zuchtige Marquis. — Georg Hirth. — Die nervenschwache 
Polizei. 

Preis je 30 Pfg. Zu beziehen durch die Post, durch 

jede Buchhandlung oder direkt vom Kainverlag, Munchen, 

Baaderstrasse 1 a. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Muhsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Munchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



Abonnement-Bestellungen nimmt nicht der Heraus- 
geber des Kain an, sondern jede Buchhandlung oder die 
Geschaftsstelle: Kain-Verlag, Miinchen, Baaderstrasse la 
Telefon 2355. 

Von jetzt ab kann auch durch die Post abonniert 
werden. 

Geldsendungen, Bestellungen, Reklamationen richte man aus- 
schlieBlich an die Geschaftsstelle: Kain-Verlag, Miinchen, Baaderstr. la. 

Personliche Briefe, Biicher, Tauschexemplare etc. an den Heraus- 
geber: AkademiestraBe 9. 

Bei Abonnementsbestellungen empfiehlt es sich, die Karte aus- 
zufiillen und auszuschneiden und an den Kain-Verlag oder eine Buch- 
handlung einzusenden. 



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An 



Mit 
3 Pfennig 

zu 
frankieren. 



Don 

endt) miiftfam 

crfdiienrn folgende BUdxr. 



Oft KtdtCt* ecdKfttt. 1909. m. 2.- 
DlC ROdtJltaplCr. lunrpiei. iw. m .2 .- 

Zu bezictjen durrt) ictir BudttoanMung unci den 
Kdin-DcrliiH, muiifftcn, DaadcrftrdSc la. 



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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Ad r esse: 



Name : 



*) Nicht gewiinschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgangl. No. 5. August 1911. 

KMN 

Zeif/chrifffur 

rien/ch(ichf\eir 
HemuJgeber; 

(rich Huh/am 




Inhalt: Sittlichkeit. — Tagebuch aus dem Uefitngnis. — Miinch- 
ner Theater. — Bemerkungen. Mottl, ein Opfer der „Munchener 
Post". — Der heilige Jatho. — Architektur und Behorde. — Be- 
kanntmachung. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfa. 



Friiher erschienen: 

KAIN, Heft 1. Inhalt: Kain (Gedicht). — Die Todesstrafe. 
— Tagebuch aus dem Gefangnis. — Miinchner Theater. — 
Bayerische Freiheitlichkeit. — Die voile Mass. — Oeffent- 
licher Dank. 



KAIN, Heft 2. Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch 
aus dem Gefangnis. — Biicher. — Schonherrs Plagiat. — 
Krawall, Revoke, Revolution. — Jagow und Kerr. — Humor. — 
Correspondenz. 



KAIN, Heft 3. Inhalt: Aufruf zum Sozialismus. — Tage- 
buch aus dem Gefangnis. — Miinchner Theater. — Der un- 
ziichtige Marquis. — Georg Hirth. - Die nervenschwache 
Polizei. 



KAIN, Heft 4. Inhalt: Widmung. — Menschlichkeit. — Tage- 
bueh aus dem Gefangnis. — Fur Wedekind. — Tariftreue — 
Kentucky und Berlin. — Der Herr Rektor. — Semerau. 



Preis je 30 Pfg. Zu beziehen durch die Post, durch 

jede Buchhandlung oder direkt vom Kainverlag, Miinchen, 

Baaderstrasse 1 a. 



Jahrgang I. Miinchen, 

No. 5. August 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fur Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

■I I,M | ..|. M-I.J4.i.* : |.J-J..Im|..|.,M..I.M..I .|.J.. | ..|..|..M. .H^ 

„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vam Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend vettaeten. 

MM»M"M"4"*i.M<.4..l..«.n.^i..in..i i.Lt.n, „■!■. ii. t. .I. .^.i., « i..j. «,!,,:.<. 4 7T^i^;,i,ir»-j"i .-4.. »..4*4..»"«. 'i ■- . 4..f»«Mi» S. 

Sittlichkeit. 

Die Sittlichkeit ist in diesem Lande in einem Umfang 
ausgebrochen, dass energische Massnahmen schleunigst 
geboten erscheinen. Leute, denen man eine gewisse Vor- 
geschrittenheit glaubte zutrauen zu diirfen, sind plotzlich 
mit Sittlichkeit geschlagen und setzen so bedrohliche Mie- 
nen auf, dass man meinen mochte, es handle sich um 
schlechtgefiillte Masskriige. Herrn Dr. Kausens Sieg ist 
vollkommen; er hat sich bereits von Otto von Erlbach 
eine pessimistische Betrachtung schreiben lassen. Herr 
Dr. Hass empfing von dem gebiildetsten seiner Geschwo- 
renen eine geharnischte Beschwerde wegen der Mangelhaf- 
tigkeit des Strafgesetzbuches, worin eine Ausdehnung der 
Bestimmungen des Viehseuchengesetzes auf die Porno- 
graphen verlangt wurde. Der Staatsanwalt begluckwiinschte 
das Schicksal zu der glucklichen Zusammenstellung der 
Geschwornenbank, die sich ziemlich ausschliesslich aus 
Bauern rekrutierte: man versteht, dass ein Staatsanwalt 
es in einem Prozess, in dem es um die Beurteilung lite- 
rarischer Produkte geht, nicht glucklicher treffen kann. Der 
Hass redete den landlichen Richtern in ihrer eigenen Mund- 



— 66 — 

art und mit einer Derbheit zu, die er — ohne sich zu 
allarmieren — nicht im Buchhandel vertreiben diirfte, und 
die fur kraftige Aeusserungen sehr empfanglichen Bauern 
quollen iiber von Sittlichkeit. Der angeklagte Dr. Semerau 
wurde einerseits dieserhalb, andererseits, weil er sich von 
zwei preussischen Anwalten verteidigen liess, zu acht Mo- 
naten Gefangnis verurteilt. Die Sittlichkeit aber schlug 
Wellen, die aus Sachverstandigen-Hirnen aufspritzten und 
uns aus klerikalen und liberalen Annoncen-Gefilden ent- 
gegenplatscherten. 

Was tat der Angeklagte? Er nutzte die Konjunktur 
und schrieb fiir begiiterte Lebemanner Bucher, die sexuelle 
Dinge in deutlichen Kennzeichnungen behandelten. Ich 
habe die Bucher nicht gelesen, weil ich fiir wahrschein- 
lich literarisch unbetrachtliche Erzeugnisse kein grosses 
Geld iibrig habe, und weil ich selbst geniigend geschlecht- 
liche Phantasie besitze, um auf die eines Schriftstellers, 
der die Lebewelt damit versorgt, fuglich verzichten zu 
konnen. Aber gesetzt den Fall, der Schwurgerichts-Prozess 
betraf ein Zotenwerk, eine Arbeit, fiir die kunstlerische 
Massstabe keine Geltung haben, so setze ich mich gleich- 
wohl fiir Herrn Dr. Semerau ein, so verteidige ich gleich- 
wohl seine Bemuhung, undifferenzierte Geschlechtsnerven 
zu kitzeln: und zwar aus Griinden der Sittlichkeit. 

Ich begebe mich einige Stockwerke abwarts und stelle 
mich auf die Warte des Staatsbiirgers. Nun habe ich 
die Perspektive, in der sich die Unsittlichkeit von der 
Ebene des Korrekten, Normalen, Unanstossigen deutlich 
abhebt. Ich gewahre, dass sich in den Zonen der Unsitt- 
lichkeit ausschliesslich sexuelle Falle abspielen, und ich 
uberzeuge mich an der Hand des Gesetzbuches, das ich 
als Badeker benutze, dass das normale Rechtsempfinden 
in der Tat in den Begriff der Unsittlichkeit nicht etwa 
Handlungen und Regungen der Bosheit und Verschlagen- 
heit fasst, wie Jobberei, Diplomatic und Journalismus, 
sondern solche, die ausserhalb der standesamtlichen Kon- 
zession aus geschlechtlichen Reizungen erwachsen. Ich 



— 67 — 

stelle fest, dass mein Vorurteil, Verbrechen sei, was die 
menschliche Sozietat gefahrdet (also Mord, Bedrohung, 
Freiheitsberaubung, oder, um ein Beispiel aus der Sexua- 
litat zu nehmen: Notzucht an Kindern und Wehrlosen), dass 
dieses Vorurteil falsch war, und das9 in der Perspektive 
des Staatsbiirgers auch das verbrecherisch ist, was die 
„Rechtsprechung" objektiv unzuchtig nennt. Diese Wort- 
fiigung ist keine contradictio in adjecto, wie einer glauben 
konnte, dem das Urteil iiber zuchtig oder unzuchtig Ange- 
legenheit des subjektiven Geschmacks zu sein scheint. Ob- 
jektiv unzuchtig ist vielmehr, was das Gericht, dem der 
jeweilige Fall zur Aburteilung zufallt, als objektiv unzuch- 
tig zu Recht befindet. Das zu verstehen ist schwierig, 
aber man muss es lernen, will man der „Rechtsprechung" 
einer Justiz entgehen, die auch bayerisch-bauerischen Ge- 
schwornen obliegen kann. 

Um bei meiner Rechtsbelehrung zu bleiben: Als Un- 
sittlichkeit ist u. a. eine Handlung anzusehen, bei der 
sich zwei erwachsene Menschen in gegenseitigem Einver- 
standnis ohne staatlichen Erlaubnisschein vergnugliche Ge- 
fuhle bereiten. Der staatliche Erlaubnisschein kann ent- 
weder fur beide Beteiligte ausgestellt sein, dann heisst 
ihr Einverstandnis Ehe; oder er kann nur dem weiblichen 
Teil gehoren, dann heisst es Gewerbe-Unzucht und ist 
im Sinne des Gesetzes nicht objektiv unzuchtig. Sind beide 
Vergnugungssuchtige mannlichen Geschlechts, so tritt § 175 
in Aktion, sind sie weiblichen Geschlechts, so ist eine 
Lucke der Gesetzgebung durch vernehmlichen Abscheu 
auszufullen. — Soweit ist die Sache ganz einfach. Schwie- 
riger wird sie, wenn die unsittliche Handlung nicht mehr 
in der Ausiibung sexueller Greueltaten besteht, sondern in 
der Schaffung von Moglichkeiten, Gefallen an solchen 
Greueltaten zu wecken. Doch ist dieses Delikt nur straf- 
bar, wenn die Moglichkeit einer Lusterzeugung offentlich 
geschaffen wird, mit andern Worten: wenn Herr Doktor 
Kausen (dies ist weniger ein Name als eine sittliche Ein- 
richtung) die Moglichkeit fur moglich halt. Meistens ge- 



— 68 — 

schient die Moglichkeit zur Anregung durch teure und 
schwer erhaltliche Druckschriften oder Bilder, aber der 
Kausen erhalt sie schon und wetzt alsbald den Para- 
graphen 184. Erschwert wird dem Mann, dessen Beschafti- 
gung es ist, seinen Mitmenschen sozusagen mit der Laterne 
unter die Hosentur zu leuchten, sein Amt dadurch, dass oft 
die Moglichkeit einer Lustanregung in idealer Konkur- 
renz mit kunstlerischer Bedeutsamkeit auftritt. Dann kann 
namlich das, was objektiv unzuchtig ist, subjektiv zuchtig 
sein. Dieser Eventualitat dankt das Institut der Sachver- 
standigen sein Dasein. 

Wem diese zusammenfassende Erklarung des im 
staatsburgerlichen Sinn objektiv Unsittlichen in seiner 
Unterscheidung vom objektiv Sittlichen nicht geniigt, dem 
ist nicht zu helfen. Was mich betrifft, so ist es nicht 
so sehr der Anblick, wie der Duft solcher Moral, der 
mich aus ihrer Nahe schreckt. Ich steige also wieder 
empor zu dem Platze, auf den ich gehore. 

Oben angelangt, frage ich mich: Warum versteht 
der Burger — und mithin der Staatsanwalt, der Richter, 
der Geschworene — unter Sittlichkeit statt, nach des Wortes 
naturlichem Sinn, Anstandigkeit der Gesamtpersonlichkeit 
nur noch korrekten Wandel des Geschlechtslebens? — 
Ich antworte: Weil die staatliche Beschaffenheit der Gesell- 
schaft eine in jedem Betracht reinliche Lebenshaltung 
nicht zulasst; weil die Kapitalswirtschaft den riicksichts- 
losesten Kampf aller gegen alle bedingt (die Gesetze min- 
dern die Rucksichtslosigkeit nicht, sie regulieren sie bloss, 
z. B. durch die sophistische Unterscheidung zwischen Ge- 
schaft und Betrug); weil an den Sexualtrieb der Menschen 
im Gegensatz zu alien ubrigen Kategorien der gesell- 
schaftlichen Beziehungen mit zahlenmassigen Berechnun- 
gen der Nutzlichkeit oder Schadlichkeit fur das Staatsge- 
schaft nicht heranzukommen ist und daher die apodik- 
tische Norm einer Moral eingeschaltet werden muss; und 
weil schliesslich die kongruenten Interessen von Kirche 
und Staat das Dogma der Geschlechtssunde brauchen, 



— 69 — 

um der Gefahr der Sinnenfreude, freiheitliche Empfindun- 
gen zu wecken, durch die systematische Kontrolle der 
seelischen Erlebnisse des Menschen vorzubeugen. Dass 
der Staat bei der Beurteilung sexueller Aeusserungen in 
Literatur und Kunst das asthetische Moment gelten lassen 
muss, ist fur ihn unbequem genug. Die Notwendigkeit 
ergibt sich ihm aber daraus, dass hier der einzige Fall 
ist, in dem die sonst sozial ganz indifferenten Kreise der 
Geistigkeit eine gewisse Festigkeit des Willens zeigen, und 
dass der Staat viel besser als diese Kreise weiss, wie 
machtig der geeinte Wille kulturvoller Menschen zu wir- 
ken vermag. 

In Wirklichkeit lage es viel mehr im Nutzen der 
Staats-Sittlichkeit, Werke zu verfolgen, die, aus sinnlicher 
Glut geboren, sinnliche Glut erregen, als solche, deren 
Zotigkeit einem kultivierten Geschmack die Sinnlichkeit 
eher verleiden konnen. Mag hier einmal in aller Deut- 
lichkeit ausgesprochen werden, was benervte Menschen 
langst wissen: die Zote wirkt sinnlichkeiterregend nur 
auf Moralisten; die Zote bietet dem Staat die sicherste 
Gewahr fur die Erhaltung ihrer sexualsittlichen Tenden- 
zen. Denn: die Zote ist der starkste Ausdruck sexueller 
Unfreiheit. Nur wem die Schonheit, die Gute, die Rein- 
heit des Sinnengenusses im tiefsten Innern fremd ist, 
kann es iiber sich bringen, Begierde und Leidenschaft der 
Liebe mit misstonigem Feixen zu bewitzeln. Nur wer bis 
zum Halse im Sumpf der traditionellen Moralitat steckt, 
kann an Darstellungen und Schilderungen sexueller Dinge 
Gefallen finden, die nicht aus personlichem Beteiligtsein 
und Ergriffensein entstanden sind. Der Burger grinst iiber 
die Zote, weil sie ihm das Sundige des Geschlechtslebens 
zum Bewusstsein bringt, und sein Appetit nach verbotenen 
Friichten sattigt sich in der Kummerlichkeit seiner Phan- 
tasie. 

Wo der Staat ohne Hass zu Werke geht, weiss er das 
alles selbst sehr gut. Seine Zensur lasst in Varietes und in 
Tingeltangeln die zotigsten Chansons, bei deren Absingen 



— 70 — 

alte Schachteln ihre Beine bis an den Plafond schmeissen, 
gern passieren. Wedekinds „Totentanz" aber, das Be- 
kenntnis eines von Grund aus reinlich empfindenden 
grossen Dichters verbietet sie. Damit will ich den Staat 
nicht anreizen, nun auch der Zote das Lebenslicht auszu- 
blasen. Aber diejenigen, die gleich mir das Eindringen des 
Staates in geistige Spharen als unsittlich empfinden, mogen 
dahin wirken, dass seinen Organen die Moglichkeit ent- 
zogen werde, sich in Geschmacksdinge irgendwelcher Art 
einzumischen. 

Solange Zotenwerke Absatz finden, gibt es Leute, die 
der Bestatigung ihrer geschlechtsmoralischen Vorurteile 
bedurfen. Solange es solche Leute gibt, werden Zoten- 
werke — ob sie verboten sind oder nicht — immer wieder 
entstehen. Es ist in hohem Masse wahrscheinlich, dass 
Semerau seine Bucher nicht geschrieben hatte, wenn er 
nicht hatte annehmen diirfen, dass sie ihm von phantasie- 
losen Philistern mit schwerem Geld bezahlt wiirden. Wer 
Unrat nicht riechen mag, der meide die Platze, wo er 
gehauft wird, oder er halte sich die Nase zu. Wer ge- 
schlechtliche Darstellungen verabscheut, laufe nicht dahin, 
wo sie ausgestellt werden. Wem Bucher sexuellen Inhalts 
nicht passen, der kaufe sie nicht. Wem moralische Ent- 
riistung ein so unentbehrliches Erfordernis des seelischen 
Gleichgewichts ist, dass er unter Kosten und Muhen die 
Bader bereist, aus denen er sie schopft, dem wollen wir 
seine Perversitat mit derselben Duldsamkeit gonnen, 
die wir fur unsere Sexualitat verlangen. Wird aber seine 
Sittlichkeit zur offentlichen Plage, dann werden wir sie 
ihm ins Gedarm treten. 



Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Freitag, den 5. November 1909. 

Der Wagen fuhr, wie mir schien — derm durch meine Luke 
hatte ich wahrend der ganzen Fahrt immer nur ein paar Strassen- 



— 71 — 

Pflastersteine, ein Stuck Wagendeichsel und zwei weisse, sich bald 
zu einander hinbewegende, bald von einander abhlipfende Pferde-, 
aische gesehen — , durch mehrere Hofe vor das Portal des Ge- 
fangnisses. Der Schutzmann stieg aus, und als ersten Gruss aus 
der neuen Behausung horte ich eine ungeschmierte Beamtenstimme 
krachzen: „Nun mal alle raus dal" — Es war ein grosser Mensch 
mit Schnurrbart und Glatze, der uns vor dem Wagenschlag erwar- 
tete, ein Mittelding etwa zwischen einem Gerichtsschreiber und einem 
Kriminalbeamten, wenn ich aus seinem Benehmen auf sein Ge- 
schaft schliessen darf. Mit einer Handbewegung, als ob er jeden 
einzelnen im Vorbeigehen an den Hintern schlagen wollte, Hess er 
uns an sich vorbeidefilieren und schloss sich uns in der Haltung 
eines Viehtreibers an, wahrend er uns ins Haus schickte. Dabei 
kommandierte er im Unteroffizierston: „Links!" ,,Rechts!" „Gerade 
aus!" „Hier rauf!" „Hier rein!" — und schon befanden wir uns 
in einer kleinen, weissgekalkten Zelle mit einem kleinen, 
starkvergitterten Fenster, durch das man ein Stuck des Hauses von 
verschiedenen Seiten, ein Eckchen Gefangnismauer und ein bischen 
Garten sehen konnte. Unter „wir" sind zu verstehen: meine beiden 
mannlichen Fahrtgenossen und ich, — und zu uns wurde gleich- 
zeitig noch ein Mensch von vielleicht 25 Jahren eingelassen und 
dann hinter uns die Eisentur zugesperrt. Das kleine, blonde Mad- 
chen fiihrte der glatzkopfige Menschenbandiger in eine Zelle nebenan. 
Ich horte, wie er sie draussen barsch fragte: „Wie alt sind Sie?" 
Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass das geangstigte Tierrhen 
erst 21 Lenze zahlte. Ich uberlegte aber, was den pflichteifrigen 
Beamten wohl veranlassen mochte, das junge Madchen in diesem 
Augenblicke, wo er gar nichts aufzuschreiben, sondern sie nur 
provisorisch einzusperren hatte, nach dem Alter zu fragen. 

Unsere Zelle wies als einzige Einrichtung einen Kuchenstuhl 
auf, den der alteste von uns, der verdrossene Kunde, sogleich, 
besetzte. Wir anderen flillten den kleinen Raum im ubrigen fast 
vollstandig aus. Der neue Gefahrte, den wir hier kennen lernten, 
schien mit der Oertlichkeit schon vertraut zu sein. Jedenfalls be- 
nahm er sich, als sei er unser Hauswirt. Sein Gesicht uberstrahlte 
ein breites, unbesorgtes Lachen und hatte etwas clownmassiges. 
Seine Figur war untersetzt und sehr stammig. Er hatte Riesen- 
hande und den Anzug etwa wie ein Zimmermann. Ich taxierte 
ihn auf schwere Korperverletzung. Der brachte Unterhaltung zwischen 
uns, indem er zunachst den Alten auf dem Stuhl nach seinem 
Delikt fragte: „Du hast wohl jestohlen?' — Der Angeredete litt 
sichtlich und zuckte nur mit den Schultern. Darauf wandte sich 
der neugierige Herr an mich: „Na, und wat hast du jemacht ?" — 
Ich war etwas in Verlegenheit, wie ich verstandlich antworten sollte 



— 72 — 

und sagte dann kurz und politisch: „Politisch". Der Proletarier wurde 
von Respekt erflillt. Das war an dem Ton kenntlich, in dem er erwi- 
derte: „Det ha'k mir doch jleich jedacht. Se sind woll Redaktor?" 

— Er siezte mich schon, und ich antwortete: „Sowas ahnliches". 

— ,Ja, ja. Mit! det Schreiben — " meinte er dann und versank 
in Stillschweigen und Nachdenken. Nach einer Weile wurde er 
hinausgerufen. Kurz darauf: „Muhsam!" — Es war das erste 
Mai seit meiner Verhaftung, dass mir das Pradikat „Herr" ent- 
zogen wurde. Ich musste dem unsympathischen Glatzkopf folgen, 
der mir jede Weisung, ob ich links oder rechts zu gehen habe, in 
einem Ton gab, als ob ihn meine Existenz mit dem tiefsten Ab- 
scheu erflille. 

Ich gelangte iiber eine Treppe und durch mehrere Tliren in 
das Zimmer des Richters und sah mich einem grossen, eleganten 
Herrn gegenliber, der, wie ich spater erfuhr, auf den Namen As- 
sessor B. horte .... Er fragte mich hoflich nach den Personalien 
und eroffnete mir nun ganz offiziell, dass der Untersuchungsrichter 
in Mlinchen meine Verhaftung wegen Vergehens gegen die §§ 128 
und 129 angeordnet habe. Er las mir nun die Paragraphen klar und 
deutlich vor, und ich will sie hier abschreiben, damit ich mich, wenig- 
stens im allgemeinen und prinzipiellen, immer iiber die Verbrechen 
orientieren kann, die ich nach Meinung des Mlinchener Unter- 
suchungsrichters begangen haben soil. Ich kann das umso leich- 
ter, als mir Rechtsanwalt Caro gestern auf meinen Wunsch das 
Strafgesetzbuch fur das Deutsche Reich in Philipp Reclams prach- 
tiger 20 Pfennig-Ausgabe ins Gefangnis brachte. 

§ 128: „Die Teilnahme an einer Verbindung, deren Dasein, 
Verfassung oder Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten wer- 
den soil, oder in welcher gegen unbekannte Obere Gehorsam oder 
gegen bekannte Obere unbedingter Gehorsam versprochen wird, 
ist an den Mitgliedern mit Gefangnis bis zu sechs Wochen, an den 
Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Gefangnis von einem 
Monat bis zu einem Jahre zu bestrafen." 

§ 129: „Die Teilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken 
oder Beschaftigungen gehort, Massregeln der Verwaltung oder die 
Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern 
oder zu entkraften, ist an den Mitgliedern mit Gefangnis bis zu 
einem Jahre, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit 
Gefangnis von drei Monaten bis zu zwei Jahren zu bestrafen." 

Der § 73 enthalt nur Ausfuhrungsbestimmungen. Herr Assessor 
B. las ihn mir gleichwohl mit vor unli fragte mich, was ich darauf 
zu bemerken hatte. Ich gab hierauf die Erklarung zu Protokoll: 
„Ich bestreite, mich irgend einer strafbaren Handlung schuldig gemacht 
zu haben und lege gegen meine Verhaftung Beschwerde ein." Das 



— 73 — 

unterschrieb ich. Auf meine Frage, worin denn nun eigentlich 
meine Vergehen bestehen sollen, erfuhr ich, dass darilber hier gar 
nichts zu erfahren sei, dass die Akten von Munchen noch nicht 
eingetroffen seien, und dass der Richter hier darliber ebensowenig 
wisse wie ich. Hierauf bat ich, mich sofort mit meinem Anwalt Hugo 
Caro in Verbindung setzen zu dilrfen, nahm aber, wahrend ich die 
Bitte aussprach, zu meinem freudigen Erstaunen wahr, dass vor 
mir auf dem Tisch Caros Visitenkarte lag. Ich erfuhr dann auch, 
dass der Rechtsanwalt anwesend sei und mich zu sprechen wlinsche. 
Er wurde hereingelassen, und ich sah das erste bekannte mensch- 
liche Gesicht seit meiner Trennung von Lieschen. — Wir waren 
beide etwas betreten, Caro, wie mir schien, noch mehr als ich, aber 
ich hatte Gelegenheit, eine Reihe von Wlinschen anzubringen. Selbst- 
bekostigung und die Erlaubnis zu lesen und zu schreiben wurde mir 
sofort erteilt. Dann bat ich Caro, sich sogleich mit Jusitzrat Bern- 
stein in Munchen in Verbindung zu setzen, damit im Falle meiner 
Ueberflihrung dorthin alles vorbereitet sei. Er berichtete, dass mein 
Bruder ihn bereits antelefoniert habe und versprach, alles zu tun, 
was in meinem Interesse notwendig sei. Ich trug Caro Griisse an 
alle Freunde und Bekannte auf und entliess ihn mit dem beruhigenden 
Gefilhl der Sicherheit, dass die Verbindung mit der Welt ausserhalb 
der scheusslichen roten Mauer doch nicht unterbrochen ist. 

Ich hatte jetzt ebenfalls das richterliche Gemach zu verlassen, denn 
eben wurde der lange Mensch hereingeflihrt, der mir im Polizei- 
wagen mit dem Hosentrager in der Hand gegenilber gesessen hatte. 
Der peinliche Kahlschadel ubernahm wieder meine Fuhrung und 
brachte mich unter unhoflichem Antrieb in die kleine Kalkbude zuriick, 
wo ich den altlichen Kunden noch immer auf dem Stuhl sitzend 
antraf. Er sprach mich an: „Sie hat man aber lange dabehalten". 
Ich schloss daraus, dass er mit Gefangnisgepflogenheiten schon etwas 
Bescheid wisse und fragte ihn, weshalb er denn hierhergekommen 
sei: „Ich soil gestern was gestohlen haben", erwiderte er traurig. 
„Ich weiss aber nichts davon. Wenn es wahr is, dann muss ich 
ja wohl ins Krankenhaus. Denn weiss ich nich mehr, was ich tu 
und bin im Kopf nich richtig." — Er wurde herausgeholt, und ich 
blieb kurze Zeit allein, wahrend der ich aus dem offenen Fenster in 
den rot umschlossenen Garten sah. Dann kam der lange Jungling 
mit dem stumpfen Ausdruck wieder herein, und ich bemerkte, dass 
ihm die Hosentrager jetzt aus der Tasche hingen. Ich knilpfte mit 
ihm ein Gesprach an, indem ich auch ihn nach seinem Delikt 
fragte. „Zuhalterei", sagte er. „Aber sie konnen mir jarnischt 
beweisen. Na, meine Schwester hat heut morjen jleich nach'n 
Anwalt jeschickt." — „Sind Sie zum ersten Male in Haft?" — „Ja. Sie 



— 74 — 

haben mir heut morjen aus't Bette jeholt." — „Sie waren auf nichts 
vorbereitet?" — „Keene Ahnung. Wo kann een Mensch daruf 
kommen ?" — 

(Fortsetzung folgt.) 



Miinchner Theater. 

Ueber das Kunstler-Theater soil hier gesprochen werden, wenn 
wir mehr von der Reform der Operette wissen, als uns die herr- 
liche Auffuhrung der „Schonen Helena" und die Verschwendung 
guter Krafte an das missratene Liebesspiel „Themidore" sagen konnen. 
Was wir bis jetzt sahen, bestatigt Reinhardts fabelhafte Qualitaten 
als Regisseur und Ernst Sterns und Oskar Grafs grosse Begabungen 
als Ausstattungs-Kunstler. Ausserdem prasentierte sich uns ein Komi- 
ker, dessen gleichen es nicht zum zweiten Male gibt: Pallenberg. 
Warten wir also, was weiter kommt. Wenn jetzt noch zu einem 
Vorschlag Zeit ist, so sei fur das weitere Programm des Theaters 
eine Inszenierung des „Mikado" angeregt. Da weiss man wenigstens, 
dass einem eine gute Operette vorgesetzt wird, und da finden, wie 
bei Offenbach, wieder alle guten Geister da draussen Gutes zu tun. 

Im Lustspielhaus fiihrte man uns die in Berlin verbotene Kriminal- 
groteske „Fiat Justitia" vor, zu der Lothar Schmidt die Routine und 
Heinrich Ilgenstein die Gesinnung beigesteuert hat. Eine hyper- 
bolische Verulkung des Polizei- und Justizgeistes in dem nach Serbien 
verlegten Preussen, des Formalismus und der Arroganz der Behorden, 
der Unterschiedlichkeit in der Behandlung vornehmer und proletari- 
scher Delinquenten und der Weltfremdheit der Gesetze und ihrer 
Anwendung. Eine recht nette Satire, die niemand aufregen kann und 
die versohnlich und humorig ausklingt. Diesmal benahm sich zur Ab- 
wechslung die preussische Zensur lacherlicher als die bayerische. 
Die Darstellung war massig, der Erfolg gross. Tja, wenn der 
Rechtssinn des begliterten Pobels so anmutig gestreichelt wird 

Bedeutsameres ward in der dampfenden Julihitze im Schauspiel- 
hause gezeigt, wo Frank Wedekind an jedem Abend sein Werk per- 
sonlich von der Buhne herunter verktindete. Schon seit vier Som- 
mern ist das einmonatige Wedekind-Gastspiel gute Uebung des Schau- 
spielhauses, und die wir die Auffilhrungen jedes Jahr sahen, freuen 
uns liber die wachsende Wirkung aufs Publikum, das zuerst mit 
Hausschlilsseln arbeitete, allmahlich respektvoll aufmerken lernte und 
jetzt endlich freudig mitgeht mit dem Dichter und seinen Worten 
die enthusiastische Zustimmung nicht mehr schuldig bleibt. 

Es gab „So ist das Leben", „Der Marquis von Keith", Erd- 
geist", „Musik", „Hidalla", „Zensur" und „Der Kammersanger". 



— 75 — 

Dass es „Die Buchse der Pandora", „Tod und Teufel", „Oaha," 
und die Trilogie „Schloss Wetterstein" immer noch nicht gab, legt 
die Frage nahe, ob die Veranstalter des hier vor einem Monat er- 
wahnten Aufrufes fur Wedekind die Unterschriften, die daftir einge- 
laufen sind, nun im Schreibtisch des Verlagsbuchhandlers Mliller 
verfaulen lassen wollen, oder ob sie sich nicht endlich ilber Aktionen 
schliissig werden mochten, die dem Munchener Zensor (einem ge- 
wissen Dr. Bittinger) bei der Auslibung seiner Geschmacks-Diktatur 
einige Unannehmlichkeiten verursachen konnten. Ich bereite die 
Herren Aufrufer darauf vor, dass diese Frage hier noch ofter 
gestellt werden wird. 

Eine kritische Darlegung jeder einzelnen Leistung verbietet mir 
der allzuenge Raum dieser Zeitschrift. Was ich ilber Wedekinds 
Gesamterscheinung als Dichter und Schauspieler zu sagen habe, 
versuchte ich im Anschluss an die Juli-Aufflihrungen im vorigen 
Jahre in einem Artikel .„Der Schauspieler Wedekind" festzulegen, 
den damals die „Schaubiihne" veroffentlichte und aus dem einige 
Satze hier wiederholt seien: 

Ich bekannte darin die Auffassung, „dass der Dramatiker Frank 
Wedekind nicht allein auf die Anerkennung als kunstschopferisches 
Genie Anspruch hat, sondern dass er als Erster den Menschen- 
charakter entdeckt hat, der nach Shakespeare entstanden ist. Die 
Gestalten der Lulu, des Marquis von Keith, des Kammersangers, 
des alten Schigolch, des Hermann, des Casti Piani, der Frauen 
in „Hidalla", im „Totentanz", wie auch die Kindergestalt der Effie in 
„Schloss Wetterstein" ftihren aus Shakespeare heraus, indem sie, 
sehr unterschieden von den Ibsenschen Figuren, nicht mehr die Wir- 
kungen neuen gesellschaftlichen Geistes auf den stereotypen Charakter 
Ider Menschen zeigen, sondern, umgekehrt, die Wirksamkeit neu- 
entdeckter Individuen auf ihre Umwelt dartun. Lulu ist nicht, 
wie etwa Hedda Gabler, das Produkt ihres Milieus; im Gegen- 
teil ist die Welt, die sie umgibt, beeinflusst und somit im Wesen 
verandert durch die Zutat der bisher fremden Menschlichkeit der 
Lulu . . . Ebenso deutlich offenbart sich die Tatsache in Karl 
Hermann, dessen Tragik gerade daraus erwachst, dass sich die Um- 
welt nicht von der Psyche des in seiner Wesenheit einsamen Idealisten 
impragnieren lassen will . . . Das Wesentliche in Wedekinds Dramen 
ist nie die Agitation revolutionarer Ideen, sondern stets die neue 
Sinnlichkeit der Menschen, die neue Perspektive zum Weltgeschehen, 
aus der sich dann erst mittelbar Tendenzen und Theorien-Propaganda 
ergeben." 

Ueber Wedekinds Darstellungskunst: „. . . Die geringschatzige 
Beurteilung, die Wedekinds Darstellungskunst gerade von den Be- 



— 76 — 

rufsschauspielern erfahrt, ist ebenso ungerecht wie begreiflich. Sie 
hat die gleichen Ursachen, wie die vollige Verkennung des ethischen 
Gehalts, der die Wedekindschen Arbeiten viele Jahre hindurch aus- 
gesetzt waren. Wie des Dichters objektive Wahrheiten, ehe sie als 
Bekenntnisse erkannt wurden, filr paradox gehalten wurden, so ist 
es dem am Herkommlichen haftenden Schauspieler nicht gegeben, in 
der Selbstverstandlichkeit, mit der Wedekind seine neuen Menschen- 
typen auf die Blihne stellt, etwas anderes zu sehen, als Mangel an Ge- 
staltungstalent. Er vermisst die Unterstreichung von „Pointen" ; 
die Wedekindschen Menschen, die er fur groteske Karrikaturen 
halt, mochte er als Exzentric-Clowns dargestellt sehen, er findet sich 
nicht damit ab, dass der Dichter selbst die Rollen, die er — der er- 
fahrene Theater-Routinier — filr artistische Bravourstiicke halt, spielt, 
als ob er eine ganz leichte Aufgabe bewaltige . . . Das eben unter- 
scheidet Wedekind von der Mehrzahl seiner Kollegen auf den Brettern, 
dass es ihm um die Herausarbeitung des einheitlichen Charakters zu 
tun ist, und dass er deshalb die „Schlager" nicht als Schlager bringt, 
sondern als Wesensmomente der hinzustellenden Personlichkeit." 

Meine Eindriicke der frliheren Jahre wurden mir in diesem Jahre 
bestatigt. Wedekinds schauspielerische Leistungen dlirfen nicht mit 
demselben Masse gemessen werden, wie die der Berufsdarsteller. 
Worauf es ankommt, ist, dass seine Mitwirkung bei jeder einzelnen 
Auffuhrung sehr wesentlich zum Gelingen beitrug. Damit soil keines- 
wegs behauptet werden, wirkliche Schauspieler waren nicht imstande, 
seine Rollen zu spielen. Nur liegt die bedauerliche Tatsache vor, 
dass sie es nicht tun. Im ubrigen aber: den Karl Hetmann mochte 
ich gar nicht von jemand anders gespielt sehen, als von Wedekind 
selbst. Hier bringt Wedekind so viel Natlirlichkeit und so viel 
Leidenschaft auf und teilt die Empfindung, Erlebnis und Pathos aus 
erster Hand zu bekommen, so uberzeugend mit, dass kein noch so 
genialer Schauspieler ihn in dieser Rolle iibertreffen konnte. Er 
versagt, wo er eigentlich Theater macht, aber das ist kein grosser 
Nachteiii, weil kein Mensch von Wedekind Routine erwartet, und weil 
man bei der grossen Ehrlichkeit seines Spiels technische Schwachen 
gern ubersieht. 

Unter denen, die Wedekind in diesem Jahre wieder unterstutzten, 
seien zunachst aus dem standigen Mitgliederverband des Schauspielhau- 
ses die Herren Hans Raabe und Hans Steiner genannt. Beide haben 
im Laufe der Zeit ihren Rollen neue Feinheiten abgewonnen. So war 
Raabes Genussmensch im „Manquis von Keith" diesesmal ganz bril- 
lant charakterisiert und Steiner brachte den Afrikareisenden im „Erd- 
geist" zu sehr glaubwiirdiger und eleganter Wirkung. Von auswarts 
war Herr Ernst Rotmund vom Mannheimer Hoftheater gekommen, 



— 77 — 

der in den meisten Auffiihrungen mitwirkte und sich der Veranstaltung 
sehr niitzlich erwies, — und die wichtigsten Frauenrollen in samt- 
lichen Stiicken hatte Frl. Fanny Valliere aus Diisseldorf iibernommen. 
Bedenkt man, dass die Dame uberall neuen Aufgaben gegenliberstand, 
dass sie die sehr grossen Rollen zumeist nach zwei Proben spielen 
musste, und dass sie in einem fremden Ensemble wirkte, so ist ihre 
Leistung mit dem grobsten Respekt zu beurteilen. Eine so gute Grafin 
Werdenfels, eine so glaubhafte Clara Huhnerwadel haben wir hier noch 
nicht gesehen. Ihre Lulu, ihre Prinzessin Alma, ihre Kadjana 
waren Leistungen, die sich uberall zeigen durften, und wenn auch 
hier und da noch ein wenig Utriertheit und Theatralik zu iiberwinden 
ist, — wir hatten alien Grund zu wtinschen, dass die ausserordentlich 
schone und sehr begabte Schauspielerin dauernd filr Miinchen ge- 
wonnen wiirde. Wir konnten hier — die Terwin geht! — ein paar 
gute weibliche Krafte an alien Theatern noch sehr gut gebrauchen. 

Zum Schlilsse ein Wort an Herrn Direktor Stolberg. Noblesse 
oblige! — Es ist eine sehr hohe Ehre filr das Schauspielhaus, jedes 
Jahr einmal das ganze Werk Wedekinds, soweit es nicht von Polizei 
wegen gefesselt wird, im Zusammenhang vorftihren zu dlirfen. Da 
ware es doch wohl am Platze, filr Darbietungen zu sorgen, die der 
Grosse der Aufgabe wenigstens einigermassen entsprachen. Es macht 
sich bei fast alien Vorstellungen ein so bedauerlicher Mangel an Regie 
bemerkbar, dass darunter der Wert der ganzen Veranstaltung sehr 
empfindlich leidet. An den Mitwirkenden liegt eg nicht, aber es 
geht nicht, dass jeder Schauspieler sich selbst tiberlassen bleibt. Da 
spielt einer neben dem andern her, dass es einen Hund erbarmen 
mochte. Dass sich gute Krafte bereit finden, an der Interpretation 
der Wedekindschen Werke teilzunehmen, zeigt sich ja. Es mag ihnen 
aber in Zukunft durch eine saubere Inszenierung und eine sorgfaltige 
Regie ihre Arbeit erleichtert werden. Das verdienen sie, die nicht 
gern durch Umstande, filr die sie nichts konnen, um ihren Erfolg ge- 
schmalert werden; das verdienen wir, die wir jahraus jahrein hoffen, 
dass Wedekind endlich zu dem verdienten ausseren Erfolg kommen 
moge; das verdient vor allem der Dichter selbst, und er hat es um 
Ihr Theater, Herr Direktor Stolberg, hundertmal verdient. 



Bemerkungen. 



Mottl, ein Opfer der „H&nchener Post". Felix Monis personliche 
nahere Bekanntschaft blieb mir versagt, die Beurteilung seines kiinst- 
lerischen Lebenswerkes entzieht sich meiner Kompetenz. Sein Tod 
konnte daher hier stillschweigend ilbergangen werden, oder ich konnte 
mich mit dem respektvollen Grass filr einen Kiinstler begniigen, dem 
Hunderttausende erhohte Lebensstunden verdanken. Eine verhang- 
nisvolle Tatsache jedoch, die seiner Erkrankung und seinem Sterben 



— 78 — 

unmittelbar voranging, ruft den offentlichen Kritiker auf, der zu- 
nachst mit Beschamung gesteht, dass die Infamie, mit der die 
Katastrophe in Zusammenhang gebracht werden muss, bisher von 
keinem Nekrolog angeprangert wurde. 

In Munchen erscheint eine Tageszeitung, die sich als sozial- 
demokratisch ausgibt, und die ihre Aufgabe, die werktatige Be- 
volkerung sozialistisch aufzuklaren, in der Uebung zu erblicken 
scheint, ihren Lesern sensationelle Personalien vorzusetzen. Dies 
Blatt heisst „Miinchener Post". An dem Tage, an dem Felix 
Mottl, wahrend er im Prinzregenten-Theater Wagners „Tristan" diri- 
gierte, vom Herzkrampf befallen wurde, hatte die „Miinchener Post" 
unter der Ueberschrift „Die Versicherungs-Oberinspektors-Tochter" 
einen Artikel gebracht, der sich mir, seiner bevorstehenden Ver- 
mahlung, oder vielmehr — ich will gerecht sein: mit der standes- 
amtlichen Anzeige seines Heirats-Aufgebots befasste. Darin sollte 
— so legte das Blatt es auf den verschamten Vorwurf der „Munche- 
ner Neuesten Nachrichten", es habe eine „Geschmacklosigkeit" be- 
gangen, aus — das Standesamt wegen der gewiss dummen Ge- 
pflogenheit angegriffen werden, bei Aufgebots-Mitteilungen den Stand 
des Vaters der Braut zu publizieren, wahrend es liber den Vater des 
Brautigams schweigt. Warum hat sich das Hauptorgan der baye- 
rischen Sozialdemokratie gerade bei der Verlobung Mottls auf die 
„antiquierte Uebung" des Standesamts besonnen? Weil sich hier 
aus den Personalien eines berlihmten Kiinstlers und einer beruhmten 
Kiinstlerin ein Sensationellen herausschlagen liess. Wer lesen kann, 
sieht dem Artikel an, worauf es ankam: durch perfide Andeu- 
tungen Gelachter iiber Felix Mottls Herkunft zu erregen. Der 
kummerliche Versuch der Zeitung, nach der Erkrankung Mottls, 
iiber die sie keine Silbe berichtete, in dem Artikel „Stumpfsinn" 
ihre Schabigkeit zu bemanteln, andert nichts an der von nahen 
Bekannten des Opfers bezeugten Tatsache, dass sich der Kiinstler 
iiber den Artikel schwer aufgeregt und tief gegramt hat, und dass 
an dem Anfall, der die todliche Krankheit einleitete, die Anpobe- 
lung der „Munchener Post" mindestens mitschuldig war. In der 
Tat war die Riipelei so niedertrachtig, dass ich sie auf diesen 
Seiten, auf deinen Sauberkeit ich Wert lege, nicht abdrucken mag. 

Die Entschuldigung, es handle sich um eine abgeschmackte 
Verirrung, konnte man gelten lassen, ware nicht das Verfahren der 
personlichen Nachschnuffelung, das bis zur Verdachtigung und Ver- 
leumdung geht, als standige Einrichtung der „Munchener Post" 
nachweisbar. Wer in Munchen Bescheid weiss, kennt das Blatt in 
seiner Eigenschaft als entsicherten Revolver. In frischem Ge- 
dachtnis ist noch der Eifer, mit dem die „Munchener Post" einem 
sehr tiichtigen Hochschullehrer auf seine ausserehelichen Pfade folgte, 
bis es ihr wirklich gelang, ihn aus seinem Amt zu schaffen. Und 
mir selbst haben ihre Schmocke, da sie sachlich gegen mich 
und meine Ansichten nichts vorzubringen wussten, Jahre hindurch 
mit so hallunkenhaften Verleumdungen zugesetzt, dass ich in einer 
offentlichen Versammlung die Frage aufwarf: Sind die Leute, die 
so dumm und so frech verleumden, Trottel oder Schurken? — und 
darauf antwortete: Beides. 

Diese Zeilen sind eine Einleitung. Der „Miinchener Post" soil 
nichts geschenkt werden. 



— 79 — 

Der heilige Jatho. Die Wogen der Begeisterung — so nennt 
man bei uns eine dreitagige Leitartikel-Diarrhoe — sind abgeebbt. 
Der „Fall Jatho" hat seine Nummer gekriegt und liegt bis zur nachsten 
Ketzer-Affare im Schubfach. Nur noch in behaglicher Verdauung 
der genossenen Martyrerstimmung widmet hier und da eine liberale 
Seele dem abgesetzten Pfarrer einen weihevollen Rlilpser. Der 
neue Huss hausiert indessen in offentlichen Versammlungen mit 
seinen Scheiterhaufen-Spanen und klagt die evangelische Kirche an, 
weil sie an ihrem Dogma festhalt und durchaus nicht mit Jatho, 
pantheisteln will. Mich geht die ganze Geschichte am Ende nichts an; 
ich kann mich ganzlich unbeteiligt darliber amilsieren, wie die sancta 
simplicitas diesesmal gegen die Kirchenvater tobt, statt gegen den 
Ketzer. Mir ist dar ganze Vorgang nur ein neues Exempel fur die 
Naivetat der Deutschen, die sich mit ergreifender Konsequenz regel- 
massig an der unrechten Stelle begeistern. Mir sagt mein in Dingen 
des evangelischen Glaubens durchaus unstudiertes Laiengemut, dass 
die protestantische Kirche dazu da sei, protestantische Lehren zu 
•verbreiten. Die protestantische Lehre — habe ich mir berichten 
lassen — behauptet die Gottlichkeit Christi, und lasst sich von denen, 
die sie zur Proklamierung ihrer Lehrsatze anstellt, geloben, dass sie von 
der Wahrheit des evangelischen Dogmas ilberzeugt sind und andere 
Wahrheiten nicht predigen werden. Nun wird einem, der also Ver- 
pflichteten seine eigene Ueberzeugung verdachtig. Er entschliesst 
sich, sie zu revidieren, stiilpt sie um und ersetzt sie durch eine neue. 
Das ist sein gutes menschhches Recht. Komisch wird sein Verhalten 
erst dadurch, dass er sich darauf versteift, seine — den Dogmen 
der evangelischen Kirche nunmehr gegensatzlichen — Ansichten 
von der Kanzel einer ervangelischen Kirche herunter zu verbreiten. 
Dadurch entstehen groteske Missverstandnisse. Jatho lehnt das gemein- 
same Gebet, soweit es dogmatischer Formalismus ist, ab und will 
es nur noch als stille Versenkung gelten lassen. Hat er seine Glau- 
bigen vor sich, so mluss er sie natiirhch auch beten heissen. Man stelle 
sich vor, wie sich 100 Menschen auf Kommando in Gott „versenken" I — 
Dass die Kirchenvater dazu nicht schweigen, sondern dem Neuerer 
zu verstehen geben, er habe sich wohl im Lokal geirrt, solche Proku- 
risten konne die Firma nicht brauchen, kann ihnen ein einigermassen 
gerechtes Empfinden kaum verdenken. Wer wollte es einem Tem- 
perenzlerbund libel nehmen, wenn er einen Schnapsbrenner, dem 
in seinen Kreisen seine Ware anbietet, vor die Tlire setzte? — Die 
Zeitungsatheisten hingegen, die, wenn's die Konjunktur so mit sich 
bringt, auch mal katholisch-modernistisch oder protestantisch-liberal 
sind, erheben grosses Getose und schreien Zeter und Mordio, weil 
sich die Kirche nicht selbst erdrosseln will. Aus dem Pfarrer Jatho 
wird ein Heiliger und ein Held, und aus dem Toleranz-Geschrei 
der Presse eine Revolution des Geistes gemacht. Ach, Herrschaften, 
Revolutionen sehen anders aus. Revolutionen kennen keine Toleranz. 
Wir andern, die wir in Wahrheit Feinde der Kirche sind, — und 
zwar um der Freiheit willen — , wir pfeifen auf Pfarrer, die von der 
Kirche zur Freiheit Briicken schlagen wollen. 



Architektur und Behorde. Ein bayerischer Regierungsbaumeister 
schreibt mir: 

„Die moderne Architektur wird in Bayern von Staatswesen 
recht burokratisch behandelt. Das beweist die Prufungsordnung filr 



— 80 — 

den hoheren Staatsdienst, die aus dem Jahre 1872 herruhrt und 
an deren Paragraphen sich die alten Herren Bau„kiinstler" und 
Zensoren des Staates heute noch klammern milssen! Da sie selbst 
kein Urteil und Verstandnis filr neue Kunstformen haben, so zwangen 
sie eben die Prufungsentwtirfe der angehenden „Regierungsbaumeister" 
in eine erbarmungslose Notenskala, die ganz gedankenlos und mecha- 
nisch an jeden wie eine Daumenschraube angelegt wird. Junge 
Leute, die an der Hochschule von Theodor Fischer, von Friedrich 
v. Thiersch gelernt haben, mlissen nun plotzlich einsehen, dass 
ihr Konnen, mit den Augen der Herren Ministerialrate gesehen, 
unbrauchbarer Mist, als staatliche „Kunst" ungenilgend ist! 

Es ist faule Ironie, wenn man bei Einsicht dieser und anderer 
Mangel immer wieder zu der Ausrede greift: „das alles „wird" in 
Zukunft anders"! Damit trostet man kleine Kinderl Solche Miss- 
stande milssen eben jetzt sofort behoben werden. Die Zukunft 
junger Kilnstler ist kein Spielzeug fur veraltete Burokraten! 

Dass man bei der obersten Baubehorde ein schlechtes Gewissen 
hat, beweist die Verweigerung der Herausgabe der Prufungsent- 
wtirfe. Man filrchtet das Urteil anerkannter Autoritaten und be- 
halt die Arbeiten drei Jahre lang hinter Schloss und Riegel. Die 
Architektur gehort eben bei der obersten Baubehorde Bayerns nicht 
zu den freien Klinsten, sondern zu den Akten!" 

Ich habe geglaubt, der Beschwerde des Briefschreibers Raum 
geben zu sollen, obwohl ich es allgemein nicht als meine Aufgabe 
betrachte, innerhalb der total verfahrenen Gesellschaftszustande, in 
denen wir leben, fur Einzelheiten Remedur zu suchen. Da es hier 
jedoch um eine kunsflerische Sache geht, und da der Ton des Brie- 
fes die Verbitterung eines in seinem Kulturgewissen Gekrankten ver- 
rat, schien mir die Veroffentlichung geboten. Ob freilich eine 
Reform der Priifungsordnung viel andern wird, bezweifle ich. Gesetze 
und Verordnungen kommen immer nachtraglich und sind daher 
ihrer Naturbeschaffenheit nach notwendig reaktionar, umsomehr, 
da ja nicht „moderne" Menschen zu verordnen haben, sondern 
eine Vertretung des durchschnittlichen Geschmacks, und da bei 
jeder neuen Verfligung den direkt riickwarts strebenden Machten 
viel konzessioniert werden muss. Ich werde den Regierungsbeamten 
kaum davon uberzeugen, aber meine Meinung ist, dass auch in der 
Architektur aller Fortschritt nur gegen Staat und Behorden, nie 
mit ihnen beginnen kann. 

Bekanntmachung. Der Rechtsbeistand des Dichters Stanislaw 
Przybyszewski, Herr Dr. jur. Gustav Bohm, bittet mich um 
Veroffentlichung des folgenden: 

„Stanislaw Przybyszewski beabsichtigt eine Neuausgabe einiger 
seiner Werke, u. a. De profundis, liber deren Verlagsrecht zurzeit 
Unklarheit besteht. 

Um Kollisionen zu vermeiden, ersucht Stanislaw Przybys- 
zewski die betr. Verleger — mit Ausnahme des Verlags F. 
Fontane & Co., Berlin, und Richard Etzold, Munchen — etwaige 
Ansprliche Herrn Rechtsanwalt Dr. Gustav Bohm in Munchen, 
Dachauerstrasse 7, bekannt zu geben." 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Munchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Munchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



Abonnement-Bestellungen nimmt nicht der Heraus- 
geber des Kain an, sondern jede Buchhandlung oder die 
Geschaftsstelle: Kain-Verlag, Munchen, Baaderstrasse la 
Telefon 2355. 

Von jetzt ab kann auch durch die Post abonniert 
werden. 

Geldsendungen, Bestellungen, Reklamationen richte man aus- 
schlieftlich an die Geschaftsstelle: Kain-Verlag, Munchen, Baaderstr. la. 

Personliche Briefe, Biicher, Tauschexemplare etc. an den Heraus- 
geber: Akademiestrafie 9. 

Bei Abonnementsbestellungen empfiehlt es sich, die Karte aus- 
zufiillen und auszuschneiden und an den Kain-Verlag oder eine Buch- 
handlung einzusenden. 



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Bitte hier abzutrennen. 



Mit 
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frankieren. 



An 



Don 

erift mutifam 

crfdiieurn folgende BU$cr. 



OlC tOUftC* Cedlflte. 1904. m. 2.40. 

BCt Kt&tCt* ecdKfttt. 1909. m. 2.- 

DlC l20d[)ItdplCr* luflftrtel. 1906. m.2.- 

Zu brzicftcn durrt) icdc Budtjftandlung und den 
Kain <Dcrlag, llUuidirn, BaadrrftraBe la. 



Bitte hier abzutrennen. 



Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Munchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Adresse: 



Name: 



*) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgang I. No. 6. September 1911. 

KMN 

Zeif/chrffffur 

rWcMfchfteit 

HemuJgeber; 




Inhalt: Der marokkanische Krieg. — Tagebuch aus dem Gefang- 
nis. — Aus dem Miinchner Zensurbeirat. Offener Brief von 
Frank "Wedekind. — Bemerkungen. — Schiesse bei Zeiten. — 

Zweierlei Masskriige. — Walhalla. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfg. 



In einigen Wochen erscheint im KAIN- 
VERLAG zum ersten Male der 

Kain-Kalender 

fiir das Jahr 1912. 

Samtliche Beitrage sind vom. Heraus- 
geber des „Kain", ERICH MUHSAM. 

Der Kalender enthalt ernste und hu- 
moristische Arbeiten in Prosa und 
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und 
satyrische Gedichte, Aphorismen, 
Dramatisches u. s. w., u. s. w. 

Dem Kalender wird das Bild des Verfassers beigegeben. 



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Der Preis betragt fiir das 

Einzel - Exemplar 1 Mark. 

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Baaderstrasse la. 



Jahrgang I. Miinchen, 

No. 6. September 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fur Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

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„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 
Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitraye dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

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Der marokkanische Krieg. 

Wie lange soil das ode Gewasch noch gehen? Wie 
lange sollen Millionen kraftiger Manner, deren Frauen, 
Briider, Freunde, Geliebte, Eltern, Landsleute noch mit dem 
diplomatischen Zeitungstratsch genarrt werden, in dem 
um Kanonen und Kartatschen, um Menschenblut und 
Menschennot geknobelt wird? Wie lange wird sich die- 
ses Volk noch als Blindekuh im Kreise drehen lassen? 

Seit sechs Jahren und langer trompeten uns nun 
die geaichten Patrioten das Wort Marokko in die Ohren, 
und wir werden aufgefordert, uns fur die ideale For- 
derung zu begeistem, dass der Westfetzen dieses Lan- 
des „uns" gehoren soil. Uns? Wer sind wir? Wir sind 
die Herren Mannesmann nebst spekulatorischen Konsor- 
ten, und die andem, mit denen wir uns drum balgen 
sollen, der Feind, der „Erbfeind", das sind die Fran- 
zosen — nein, das sind ein paar franzosische Gross- 
spekulanten, die aus dem Bedarf ihrer Landsleute nach 
Eisenerzen oder Fetthammeln personlichen Millionenge- 
winn schlagen mochten. 



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Ich verstehe nichts von Kolonialpolitik — zugegeben! 
— Ich will auch gar nichts von Kolonialpolitik verstehen. 
Derm, scheint mir Politik selbst schon wahnwitziges Ge- 
tue, so diinkt mien Kolonialpolitik vollends unmenschliches 
Verbrechen. Wem gehort Marokko? Den Franzosen? Den 
Deutschen? Den Spaniern? Allen dreien? Meine Auf- 
fassung mag weltfremd sein; ich finde, Marokko gehort 
den Marokkanern. 

Das vaterlandische Marokko-Gezeter hat ethisch eins 
vor anderen Kolonial-Erhitzungen voraus. Die gemeinste 
Luge, mit der gewohnlich gearbeitet wird, hort man dies- 
mal seltener. Die interessierten Herrschaften betonen das 
rohe Interesse starker als in andern Fallen, wo aus den 
Raubziigen sittliche Expeditionen mit kulturtragerischer 
Mission gemacht wurden. Man landet Kriegsschiffe an 
den Kiisten solcher Lander, deren Bewohner „unkulti- 
viert" leben, und die man „wilde Volker" nennt, weil 
dort die Menschen in Frieden miteinander arbeiten, keine 
Ausfuhr noch Einfuhr haben, sondern gut und reichlich 
mit dem auskommen, was der eigene Boden tragt, keine 
Not leiden und sich nicht gegenseitig ausbeuten. Diesen 
Volkern tragt man europaische Kultur ins Land, bestehend 
in Branntwein, modernen Schusswaffen und geschmack- 
losen Kleidungsstucken zur Verdeckung dessen, was den 
Menschen dort bisher naturlich erschienen war. Als Aequi- 
valent fur diese guten Gaben brauchen die begliickten 
„Wilden" nur ihr Land, ihre Arbeitskraft, ihre Leiber, 
ihre Weiber und Kinder, samtliche Produkte ihres Bo- 
dens, ihre Freiheit, ihre Volksgewohnheiten und ihre naive 
heidnische ReUgion herzugeben — weiter nichts. Wer sich 
widersetzt, wird getotet, wer sich fligt, versklavt. Das 
sitthche Recht dazu ergibt sich aus der in der wirksamsten 
modernen Bewaffhung dokumentierten hoheren Kultur der 
Europaer. So sieht die KolonialpoUtik aus, fur die sich 
zu begeistern moralische Pflicht aller europaischen Na- 
tionen ist. 



— 83 — 

Und warum all die Niedertracht und all der Wahn- 
sinn? Weil die rationelle Bewirtschaftung des heimischen 
Bodens den wenigen, die inn mit alien Rechten besitzen, 
nicht soviel Profit brachte wie die absurde Ex- und Im- 
port-Schacherei, die die Kapitalverzinsung garantiert. Peter 
Krapotkin hat in seinem Buche „Landwirtschaft, Industrie 
und Handwerk") (vergl. auch sein grosses Werk „Ge- 
genseitige Hilfe in der Entwicklung" 12 ) einwandfrei nach- 
gewiesen, dass jedes Land bei intensiver Bodenbewirt- 
schaftung in der Lage ist, den eigenen Bedarf an Nah- 
rungsmitteln vollstandig zu decken. Heutzutage wird keine 
intensive Bodenkultur betrieben. In Deutschland lie- 
gen ungeheure Landflachen brach. In diesem Lande aber 
ruhen auf der Einfuhr des Notigsten hohe Zolle, die 
Ausfuhr von Getreide und Vieh hingegen wird pramiiert 
Dabei fehlt es Millionen Deutschen an der Moglichkeit, die 
dringendsten Bediirfhisse des Lebens voll zu befriedigen, 
Hunderttausende leiden buchstablich Not, Tausende ver- 
kommen in Elend und Schmutz. Die Inhaber des Landes 
aber wissen gar nicht, wo sie mit all ihren Schatzen blei- 
ben sollen und suchen an fernen Kiisten „Absatzgebiete". 

Deshalb nun also der Ruf nach Marokko! Ein halb 
Dutzend Jobber diesseits, ein halb Dutzend jenseits der 
Vogesen zanken sich urn die schonen Zipfel des 
Landes, und die nationale Ehre zweier Vaterlander 
ist soweit engagiert, dass hiiben und driiben gefahrlich 
mit der Plempe gefuchtelt wird. 

Wer wird schliesslich den armen Mauren das Fell 
endgiltig uber die Ohren ziehen diirfen? Das wird nun 
in der diplomatischen Giftkammer der beteiligten Regierun- 
gen ausgesotten. Kommt dabei kein fur beide Teile ge- 
niessbares Getrank zustande, so geht's an die ultima ratio 
— und die nationalen Leidenschaften der Volker werden 
mit Alkohol und Phrasen in den Zustand des erforderUchen 



) In der deutschen Uebertragung von Gustav Landauer beim 
Verlag des Sozialistischen Bundes, Berlin. 

2 ) Ebenfalls deutsch von Gustav Landauer bei Thomas, Leipzig. 



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Blutdurstes versetzt und mit Mordwaffen entsetzlichsten 
Kalibers gegen einander losgelassen. 

Jetzt erhebt sich aber die Frage: wer flihrt Krieg? 
Die Fiirsten? Die Regierungen? Die Parlamente? Die 
interessierten Borseaner? Mir scheint: die Soldaten fuhren 
Kriege. Und weiter: Was sind das flir Menschen, die Sol- 
daten? — Die Sonne der Fiirsten? Der Regierenden? 
Der Parlamentarier? Der interessierten Borseaner? Mir 
scheint: das Heer Soldaten besteht fast ausschliesslich aus 
Arbeitern und Bauern, aus solchen Leuten, auf deren 
Kosten der Preis des moglichen Sieges fruktifiziert wer- 
den soil. Diese Leute werden aus den Armen der Nach- 
sten, werden von Werkstatten und Scholle gerissen, mit 
Flinten und Sabeln beladen, aus der Heimat geschleppt, sie 
werden in Bataillone und Regimenter gruppiert, eben- 
solchen Bataillonen und Regimentern, die ebenfalls aus 
friedlichen Menschen gebildet sind, gegeniibergestellt, und 
ihnen befohlen, auf die fremden Menschen, die doch 
ihresgleichen sind, zu schiessen und zu schlagen und mog- 
Uchst viele von ihnen zu toten. Ebenso wird ihnen ge- 
sagt, dass es heldenhaft sei, sich von jenen erschiessen 
und erschlagen zu lassen, und dass sie sich dem Vaterland 
— wieviele von den Soldaten besitzen davon einen einzigen 
Quadratmeter? — niitzlicher erweisen, wenn sie sich von 
platzenden Granaten in Fetzen reissen lassen, als wenn sie 
ihren Kindern und Eltern den Ernahrer, ihrer Geliebten 
den Mann, ihren Gefahrten den Kameraden erhalten. 

Die Macht, auf die Entschliessungen der Herrschen- 
den einzuwirken, hat die Masse nicht, aus der sich die 
Armeen rekrutieren. Die Moglichkeit, solche Macht zu 
erringen durch wirtschaftliche Kampfe und kraftige Ini- 
tiative jedes Einzelnen, hat sie — in Deutschland wenig- 
stens — in unfruchtbarer vierzigjahriger parlamentarischer 
Politikasterei vertan; alle latenten Energien hat sie auf 
den lachhaften Popanz einer quantitatsprotzenden Wahl- 
pohtik nutzlos vergeudet. So muss sie willenlos zusehen, 
was bei der ausseroffentlichen Diplomatenhandelei her- 



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auskommt. — Noch viel weniger ist im Falle des Aus- 
bruches eines Krieges auf den passiven Widerstand der 
Soldaten zu rechnen. Eine solche Aktion ware auch gar 
nicht anzuraten, sie wiirde den wenigen, die sie viel- 
leicht versuchen mochten, unweigerlich den Kopf kosten. 

Ist der Krieg erklart, dann wird marschiert; da gibt's 
kein Drehen und Wenden. Anders liegt der Fall, solange 
die Gefahr des Krieges iiber den Volkern schwebt. Hat 
das Volk ein wirksames Prohibitivmittel gegen den orga- 
nisierten Massenmord des Krieges? 

Als im vorigen Jahre in Kopenhagen der internatio- 
nale Sozialistenkongress tagte, da stellten die Franzosen 
und Englander den Antrag, einer drohenden Kriegsge- 
fahr solle in den beteiligten Landern dadurch begegnet 
werden, dass fur alle Gewerbe der umfassende General- 
streik proklamiert werde. Die Wirkung solcher Aktion ist 
evident. Finem Lande, in dem auch nur fur drei Tage 
aller Verkehr gehemmt ist, in dem die Zirkulation der 
Waren unterbunden wird, in dem keine Bahn fahrt, kein 
licht leuchtet und kein Schlot raucht, in dem die Kranken 
nicht gepflegt und die Leichen nicht begraben werden, 
einem Lande, das keine Post erhalt und keine versenden 
kann, und dem obendrein das Gift der Zeitungen ent- 
zogen ist — solchem Lande stockt der Atem, und es 
hat fur lange hinaus fur seine leistungsfahigen Krafte 
bessere Verwendung, als sie an die Landesgrenze vor die 
Kanonenschlunde zu jagen. 

Sahen wir nicht eben erst in England, diesem Wirt- 
schaftslande aus dem Grunde, das noch kaum von sozial- 
demokratischen Schwatzern marxistischer Observanz ver- 
seucht ist, was schon ein partieller Streik zu wirken vermag? 
Bei den Seeleuten fing es an, griff auf Transportarbeiter, 
Fuhrleute und schliesshch auf die Eisenbahner iiber, und 
die friedfertigste aller Regierungen verlor den Kopf und 
griff mit dem klobigen Mittel der Militargewalt in den 
Kampf ein, der ohne diese Tapsigkeit nicht einen Tropfen 
Blutes hatte zu kosten brauchen. Die Arbeiter haben ihre 



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Forderungen, die an sich nicht wichtig waren, durch- 
gedriickt; sie haben die Regierung gezwungen, nach ihrer 
Pfeife zu tanzen. Und das in England, dem von alien Kapi- 
talisten so laut geriihmten Musterland fur wirtschaftliche 
Organisationen! Ja eben, die rein wirtschaftliche Struktur 
des Klassenkampfes! Die war es, die plotzlich — ohne 
sozialdemokratisch-politische Begriffsdeutelei — den wirk- 
lich soziahstischen Gedanken hervorbrechen Uess und eine 
Solidaritatsaktion von solcher Kraft, Entschlossenheit und 
Geradheit wachrief, dass einem das Herz hoher schlug. 

— Stande England jetzt vor einem Krieg — konnte es 
ihn fiihren? England wird noch lange zu scharfen haben, 
bis alles wieder im kapitahstischen Gleise korrekt funk- 
tioniert. 

Der Antrag der Englander und Franzosen fiel in 
Kopenhagen ins Wasser. Er scheiterte an dem Wider- 
spruch der Deutschen, die einen ihrer radikalsten und 
dazu einen ihrer kliigsten und ehrlichsten Vertreter, Herrn 
Ledebour, erklaren Uessen, die deutschen Sozialdemokra- 
ten miissten den Antrag ablehnen, weil sie sonst ihre 
pohtische Stellung unleidhch erschweren wiirden. Danach 
in Deutschland zum Generalstreik aufzufordem, ware sinn- 
los. Die ihn realisieren miissten, wiirden dem Rat nicht 
folgen, weil der Sand, der ihnen jahrzehntelang von der 
Parteipresse in die Augen gestreut wurde, ihnen jeden 
Blick fur das real Notige verschleiert hat. 

Die wir in Deutschland den Frieden wollen, haben 
von der deutschen Arbeiterschaft nichts zu hoffen. Deren 
Demonstrationsversammlungen und hochtrabende Reso- 
lutionen schrecken keinen Hund vom griinen Tisch und 
von den Kassenschranken. Wir miissen unsere Blicke ver- 
trauend nach Frankreich richten. Die Franzosen haben ihre 
Herve, Griffelhues, Yvetot, — radikale Naturen voll Leiden- 
schaft und Volksliebe, Manner, deren Feuer in den Massen 
ziindet und deren Worten sie freudig zustimmend folgen. 

— In Frankreich ist es soweit, dass die Regierung ihre 
Arbeiter und Bauem nur mit Zittern zum Kriege rufen 



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konnte. Dort steht der klare Wille des Volkes stark und 
gross gegen die verschlagene Klugheit der Advokaten. 
Dort spricht aber auch ein Umstand mit, dessen wir 
hierzulande nur mit Scham und wehmiitigem Neid ge- 
denken konnen: dort steht der Geist geeint auf der Seite 
des Volkes, dort stellt sich der Geist der Dichter und 
Kiinstler in den Dienst der Menschheitssache. 

Wo lebt uns ein Anatole France? — Die in Deutsch- 
land den Geist reprasentieren, schlafen. Deutsche Dich- 
ter und Kiinstler, wollt ihr nicht endhch auch zur Posaune 
greifen? — 1st es nicht Blut von eurem Blut, das fiir 
Marokko fliessen soil? — Wollt ihr nicht endlich er- 
wachen und euch dem Volk einen, das Volk schaffen, 
ohne, das euer Werk Schatten und Schaum ist? — Geist 
und Volk gehoren zusammen! — Mag der Tag nicht fern 
sein, da sie auch in Deutschland vereint stehen gegen 
Junker und Borse, gegen Diplomaten und Pfaffen und 
gegen die journalistischen Paukenschlager! 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

In einer solchen Lage, in der man selbst vollig 
unilbersehbaren Dingen gegenlibersteht, und wo einem selbst libel 
genug zu Mute ist, vergeht einem die Neigung, anderen Trost 
zuzusprechen. Man orientiert sich einfach ttber das Schicksal des 
Nachbars und wendet seine Gedanken alsbald dem eigenen zu. So 
brachen wir die Unterhaltung kurz aE> und ich dachte mir: jetzt wird's 
bald 3 Uhr sein. Jetzt ungefahr kame ich in Zurich an, und heut 
oder morgen hatte ich dort liebe Freunde wiedergesehen, die befreun- 
deten Anarchisten aufgesucht, im Cafe Terrasse gesessen und mit 
Doktor Brupbacher die Probleme Sozialismus, Demokratie, Anarchis- 
mus und Individualismus diskutiert und darliber gestritten, ob sich 
der Enthusiast der Freiheit in seinen praktischen Massnahmen auf 
den Produzenten- oder auf den Konsumentenstandpunkt zu stellen 
habe, gestritten ttber die gleichen Themata und mit der gleichen 
Hitzigkeit wie vor fttnf Jahren, und seitdem, so oft ich durch Zurich 
kam. 

Der arme alte Kerl, der selbst nicht wusste, ob er wusste, was er 
tat, wurde zurttckgebracht, und unser Dompteur ftthrte uns nun die 
Treppen hinunter ttber einen Hof und durch den Garten, den ich durch 



das vergitterte Fenster gesehen hatte, an eine Tur, ttber der zu 
lesen stand: „Eingang zum Gefangnis". Dann kommandierte er uns 
in ein sonderbares Gelass, schlug die Tlire zu und schloss sie mit 
brutaler Vernehmlichkeit ab. Den waren wir jetzt los. Der Raum, 
in dem wir unsere weiteren Bestimmungen jetzt erwarteten, war 
grosser, aber noch unfreundlicher als der, von dessen Fenster wir 
wenigstens den Garten gesehen hatten. Er war lang und rechteckig, 
das Fenster war klein und sehr hoch angebracht, sodass die Zelle 
Halbdunkel war. Ueber die Einrichtung dieses Gemaches gab ein 
kleines Plakat Aufschluss, das an der Wand hing. Ich glaube, ich 
bringe die Gegenstande, die darauf verzeichnet waren, noch aus dem 
Gedachtnis zusammen. Ihre Anzahl war nicht gross genug, um fur die 
Aufzahlung einen Mnemotechniker zu erfordern. Die Ueberschrift 
hiessstolz:„Inventarium". Dann stand sauber untereinander: „1 Nacht- 
geschirr aus Steingut, 1 Nachtgeschirr-Deckel, 1 Wandbrett, 1 Spuck- 
napf, 1 Wasserkanne, 1 Trinkbecher, 1 Bank. 2 Sttihle. 1 Zellen- 
lampe. 1 Leibstuhl." — Unter dem „Leibstuhl" ist ein in eine Ecke 
gebautes Holzgestell zu verstehen, ein Dreifuss, der aber nur zwei 
Fttsse hat, weil den hinteren die Wandecke vertritt, in die das Gestell 
eingeschlagen ist. Zwischen diesen Fttssen befinden sich in massigem 
Abstand ubereinander zwei nach vorn runde Bretter, auf deren unterem 
das Steingutnachtgeschirr mit dem Metalldeckel steht, deren oberes 
aber nur der Rand um ein kreisrundes Loch ist, das so genau um 
das Geschirr passt, dass man dessen Deckel gerade noch an seinem 
Knopf herausholen kann, um ein ganz prachtiges, gebrauchsfertiges 
wasserloses Geruchkloset zu haben. — In dem so beschaffenen 
Raum sass ich nun zusammen mit dem unbewussten Dieb und dem Zu- 
halter, dem nichts zu beweisen war, ich selbst ein Staatsverbrecher, 
der sein Staatsverbrechen noch gar nicht kannte. Denn was half mir 
die Kenntnis des Wortlautes der Paragraphen, deren Verletzung man 
mich beschuldigte, wo ich bei angestrengtestem Nachdenken nicht 
auf die Straftat kam, mit der ich sie verletzt haben sollte? — Man 
liess uns lange warten, Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun, 
als dass einer ein Gesprach begonnen hatte. Nur manchmal knurrte, 
einer von uns dreien: Wie lange sollen wir denn hier noch sitzen ? 
Klimmert sich denn kein Mensch weiter um uns ? oder ahnliches. 

Endlich kam ein Aufseher, ein gutmutig aussehender Mann in 
einfacher blauer Uniform mit roten Aufschlagen. „Sind Sie Herr 
Muhsam ?" fragte er, wahrend er auf mich zukam. Dann hiess er mich 
ihm folgen und ftihrte mich eine hohe Treppe hinauf bis zu einem 
Absatz, an dem stand: Zweites Stockwerk. Dort ubergab er mich 
einem ebenso gekleideten Beamten, der nicht minder freundlich aus- 
sah und mich aufforderte, mich auf einen Stuhl zu setzen, der auf 
dem Korridor neben einem Tische stand. Ich merkte, dass ich unmit- 



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telbar vor dem Ziele stand. Denn ich sah mich im Winkel eines 
hellen, langen Korridors, dessen beide Schenkel von nummerierten, mit 
schwerem Eisengriff und dicken schwarzem Schlusselloch versehenen 
Eisentiiren flankiert waren. Dieser Korridor war eine Art Brilcke. 
Denn gegenilber den Zellen war ein richtiges Gelander, ilber das man 
nach unten und nach oben sehen konnte, dass das untere und das 
obere Stockwerk diesem zweiten ganz gleichartig gebaut war. Jenseits 
des Gelanders lag der tiefe, von der nackten Wand begrenzte droh- 
nende Hausraum, und unten an der Wand sah man gleich einer 
Raupe das gewellte, rotgestrichene Rohr der Zentralheizung dahin- 
kriechen. In der Hohe des zweiten Stockwerks aber, also in 
gleicher Hohe, mit mir, hing, eingeklemmt in die Wandecke, wie das 
Auge des Gesetzes, das zugleich nach mehreren Richtungen sehen 
mochte, eine grosse, runde, martialisch ernsthafte Uhr mit breitem 
rotbraunem Rand, auf dem in machtigen Lettern die Worte standen: 
„Normalzeit der Sternwarte." — Die Zeiger belehrten mich, dass 
er kurz nach vier Uhr war. Auf dem Flussboden des Korridors, 
auf dem ich der Anweisung einer Zelle harrte, lagen, angelehnt an das 
hohe eiserne Brlickengelander, viele hohe Stapel seltsam zurechtge- 
schnittenen Papiers. Nach einiger Ueberlegung kam ich dann da- 
hinter,- dass sich so prapariertes Papier ausgezeichnet zum Tuten- 
kleben verwenden lassen mttsse. Indem ich mich den Assoziationen 
hingab, die sich an derlei Wahrnehmungen zu knlipfen pflegen, 
kam der Aufseher wieder und schloss vor mir die Zelle 42 auf, 
in die er mich eintreten hiess. Hinter mir schloss er sie wieder ab 
und ich hatte nun hinlanglich Zeit, mich in meinem neuen Heim 
umzuschauen. Die Zelle war vielleicht sechs Schritte lang- und so 
schmal, dass ich die Arme noch nicht ganz auszustrecken brauchte, 
um an jede Wand eine flache Hand mit der ganzen Innenseite anzu- 
lehnen. Die Hohe war nicht gering. Gegenilber der Tur war das 
Fenster, dessen unterer Rand nahezu zwei Meter liber dem Fussboden 
lag. Das Fenster, wenn man nicht lieber von einer Luke reden will, 
war horizontal geteilt, und zwar konnte man den oberen Teil halb 
auf- und zuklappen. Statt eines Fensterkreuzes hatte die Scheibe 
sich mehrfach schneidende eiserne Stangen, und dahinter sah man 
auch aussen noch ein eisernes Gitter die Sicherheit der Abschliessung 
gewahrleisten. Die Scheibe war graues, dickes, gewelltes, undurch- 
sichtiges Glas, sodass mir auch ein Klimmzug, mit dem ich mein 
Auge in die geeignete Hohe hatte bringen konnen, nichts geniitzt 
hatte, um hinauszusehen. Links der Tlire, in die Wandecke eingezim- 
mert, befand sich ein „Leibstuhl" von derselben Art, wie ich schon 
beschrieben habe. Ihm gegenliber ein Spucknapf. An der linken 
Wand hing, angekettet, eine Schlafpritsche, d. h. ein eisenbeschla- 
genes Holzgestell, zwischen dem und der Wand eine Strohmatratze 



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eingeklemmt war. An der Erde darunter lag ein Keilkissen, aus 
dessen Lochern Strohhalme herausragten. Ich bemerkte, dass unter 
dem Gestell mit Scharnieren Eisenbeine befestigt waren, die nach 
dem Losketten das Bett zu tragen hatten. An der rechten Seite des 
Zimmers hing ein zweifacheriges Holzbord an der Wand, auf- unter 
und in dem, sauber nach einer daneben hangenden gezeichneten 
Tabelle geordnet, folgende Gegenstande untergebracht waren: Ein 
neues Testament, ein Trinkbecher, ein Wasserkrug, eine Schuh- 
und eine Kleiderblirste, ein Essnapf, ein Loffel, ein Salzfass, eine 
Waschschussel, ein Seifennapf, ein Kamm, eine Miillschippe mit 
Handfeger, ein Handtuch, ein Geschirrtuch und ein Scheuerlappen. 
Weiterhin war eine Tischplatte mit einem Bein an der Wand be- 
festigt, und meine Versuche ergaben, dass auch dieses Mobel sich 
hochklappen liess. Das gleiche zeigte sich bei der etwas kiirzeren 
und schmaleren, gleichfalls auf ein Bein gestutzten Bank, die sich nicht 
vor, sondern hinter dem Tisch befand, sodass ich mit Schrecken 
gewahrte, dass ich, wenn ich schreiben wollte, das Licht immer von 
hinten bekommen musste, was mir fur meine ohnehin nicht luchs- 
naften Augen kaum vorteilhaft schien. — Damit habe ich, falls ich 
nichts vergass, alles aufgezahlt, was die Einrichtung der Zelle aus- 
machte. An der rechten Wand zogen sich nicht sehr hoch liber 
dem Fussboden zwei gut geheizte Rohre der Zentralheizung hin. 
Naturlich vergass ich noch etwas: die gezeichnete Anordnung fur 
den sogenannten „Spind" erwahnte ich schon, aber mit ihr hingen an 
diesem Spind ein vollzahliges „Inventarium" und ein gedrucktes Heft- 
chen, das sich „Verhaltungsvorschrift" nannte und aus dem ich die 
Tagesordnung der Anstalt und noch manches Wissenswerte erfahren 
konnte. Ferner vergass ich ein Plakat, das auf jeder Seite einen 
frommen Spruch zur Besserung siindiger Menschen enthielt und 
eine Petroleumlampe, die einen hochst seltsamen Schirm hatte, aus' 
Blech namlich, den man wie einen Parapluie liber den Zylinder zog. 
Das war nun aber wirklich wohl das gesamte Inventar, mit dem 
mich vertraut zu machen ich fiir die Lebensaufgabe meiner nachsten 
halben Stunde hielt. 

(Fortsetzung folgt.) 

Aus dem Mlinchner Zen s urb e ir a t . 

Munchen, den 16. August 1911. 

Sehr geehrter Herr Miihsam! 

Darf ich Sie zur Veroffentlichung folgender Erorterungen um 
die Gastlichkeit Ihrer Monatsschrift „ K a i n " bitten. Voraussicht- 
lich erscheint im Laufe dieses Herbstes ein modernes Myste- 



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r i u m von mir, dem ich diese Polemik als Vorwort vorauszuschicken 
denke. Sie wiirden mich aber, sehr geehrter Herr M ii h s a m , zu 
besonderem Dank verbinden, wenn Sie diese Zeilen durch Wieder- 
gabe im „K a i n" jetzt schon zur Kenntnis Ihrer Leser gelangen 
lassen wollten. 

Mit dem Ausdruck vorzuglichster Hochschatzung 

Ihr ergebener 

Frank Wedekind. 

Nachdem die Munchner Polizeibehorde wieder einmal die Auf- 
flihrung eines meiner harmlosesten Theaterstucke „Oaha" verboten 
hatte, suchten Herr Direktor Stollberg vom Munchner Schau« 
spielhause und ich um eine Unterredung mit dem Herrn Polizei- 
prasidenten nach, die uns giitig gewahrt wurde. In seiner Be- 
grilndung des Verbotes berief sich der Polizeiprasident uns gegenuber 
auf ein Gutachten, das ein Sachverstandiger ilber mein Drama aus- 
gestellt hatte. Das Gutachten, aus dem uns der Polizeiprasident 
einige Kraftstellen zum besten gab, war meinem Urteil nach ein 
Produkt absoluter Verstandnislosigkeit. Wer es abgefasst hat, das 
blieb fur uns nattirlich tiefstes Geheimnis. An eine Zurucknahme des 
Verbotes war nicht zu denken. 

Wenige Wochen vorher hatte ich nun Gelegenheit gehabt, zwei 
Gutachten von Mlinchener Autoritaten, auf deren Urteil sich die 
Polizeibehorde bei ihren Massnahmen zu stlitzen pflegt, genauer 
kennen zu lernen. Es handelte sich dabei um meinen 
Einakter „Totentanz" oder „Tod und Teufel", den ich 
seit Jahren in Mlinchen, Wien, Hamburg, Dresden, Prag, Berlin, 
Budapest, in einigen Stadten sogar wiederholt, offentlich vorge- 
lesen habe und der durch sein Feuer, seine Leidenschaftlichkeit und 
seine dramatische Steigerung uberall das Publikum 
in gespanntester Aufmerksamkeit hielt. Diese Tat- 
sachen finden in unzahligen liber die Vorlesungen erschienenen Kri- 
tiken und Besprechungen ihre Bestatigung. Um diesen Einakter 
nun wenn moglich auch fur eine offentliche Auffiihrung in Munchen 
frei zu bekommen, wandte ich mich an Herrn Dr. Franz Muncker, 
Konigl. Professor fur deutsche Literatur an der Universitat Mlinchen 
und an Herrn Dr. Sulger-Gebing, Kgl. Professor fur deutsche 
Literatur an der technischen Hochschule in Mlinchen. Herr Prof. 
Sulger-Gebing erklarte sich in liebenswiirdigster Weise bereit, mir 
ein Gutachten iiber meinen Einakter auszustellen, wahrend mir Herr 
Prof. Muncker in einer langeren kritischen Bewertung meines Einakters 
schrieb, dass er nicht in der Lage sei, noch einmal ein Gutachten 
darliber auszustellen, da er das der Polizeibehorde gegenuber schon 
einmal getan habe. Beide Herren beweisen mir nun, durch die 



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mir iibermittelten Schriftstiicke, dass ihnen ganz einfach die Fahig- 
keit fehlt, meinen Einakter zu lesen, dass sie fur dessen kilnstlerische 
Qualitaten kurzweg stockblind sind, dass sie vor meiner Arbeit 
ebenso verstandnislos stehen, wie ein Kind, das nie einen Vers gehort 
hat, vor einem gedruckten Gedicht. Beide Herren beweisen durch 
ihr abgegebenes Urteil, dass sie auf dem Gebiet, fiir dessen Pflege 
sie vom Staate besoldet werden, ganz einfach nicht Bescheid wissen. 
Fiir diese Behauptungen, die ich notgedrungen in Wahrung meiner 
kiinsflerischen Ehre aufstellen muss, erbiete ich mich, jeden Moment, 
vor jedem Publikum, auch vor den akademischen Horem, die die 
Kollegien der beiden Herren besuchen, den Beleg zu erbringen. 

Allerdings sprechen sich beide Begutachter fiir die offentliche 
Auffiihrung meines Einakters aus, was ich dankbar anerkennen muss. 
Da sie meiner Arbeit aber k e i n e r 1 e i kilnstlerische Qualitaten: 
zuerkennen, sondern im Gegenteil die Moglichkeit einer kiinstlerischen 
Wirkung rundweg in Abrede stellen, hat eine konsequente ge- 
wissenhafte Behorde nicht die geringste Veranlassung, auf Grund 
dieser Gutachten eine Zurucknahme des Verbotes in Erwagung zu 
Ziehen, obwohl beide Gutachter dies Verbot fiir unberechtigt halten. Um 
so mehr Veranlassung und Berechtigung habe ich als Autor, mich 
gegen die falsche und ungerechte Beurteilung meiner Arbeit zu ver- 
wahren. Ich verzichtete daher auch von vornherein darauf, die 
beiden Schriftstiicke der Polizeibehorde vorzulegen. Ich zog es vor, sie 
als unumstossliche Beweise fiir mich zu behalten, in der festen Zu- 
versicht, dass Ihre Beweiskraft von Jahr zu Jahr wachsen wird. 

Da nun die Moglichkeit, meiner Kunst offentliche Geltung zu ver- 
schaffen, behordlicherseits von den Kunstanschauungen derartiger 
Autoritaten und vollig verstandnisloser Sachverstandiger abhangig 
gemacht wird, und da die iibrigen iiber meine Arbeiten abgegebenen 
Gutachten im grossen ganzen vielleicht nicht auf mehr Verstandnis be- 
ruhen werden, als die beiden in meine Hande gelangten, halte ich 
mich fiir berechtigt, diese beiden Zeugnisse literarischer und kiinst- 
lerischer Verstandnislosigkeit, die von jedem Laien miihelos als solche 
erkannt werden konnen, zu veroffentlichen. 

Herr Prof. Dr. Franz Muncker schreibt u. a.: „Ferner 
kann man ^t wohl zweifeln, ob Erorterungen iiber das von Ihnen 
behandelte Thema, mo gen sie noch so theoretisch blei- 
ben (oder vielleicht eben, weil Sie theoretisch 
bleiben) auf die Biihne gehoren, ob sie nicht vielleicht eher zu 
einem Lesedrama passen." 

Herr Prof. Dr. Sulger-Gebing schreibt u. a.: „Ein Zensur- 
verbot scheint mir diesem Einakter gegeniiber nicht gerechtfertigt. 
Ich halte ihn fiir undramatisch und darum fiir wenigbiihnen- 
w i r k s a m . . . Die Personen ergehen sich fast ausschliesslich 



— 93 — 

in langatmigen t he or e t i s c he n A u s e i n a n d e r s e t - 
zungen. " 

Aus der Tatsache, dass die beiden Literaturprofessoren fur die 
Lisiska- Verse in meinem Einakter vollstandig unempfindlich sind, lasst 
sich leider kein so kinderleicht beweisbares Exempel fur die Grenzen 
ihrer Fahigkeit statuieren, wie daraus, dass sie beide den Einakter 
fur undramatisch halten. Es muss genugen, diese Tatsache zur Auf- 
klarung der literaturbeflissenen Schiller der beiden Herren hier fest- 
zustellen. 

Sollte nun nicht schon allein die Tatsache, dass fur die kilnstleri- 
schen Qualitaten meiner Arbeiten, die sich zu dutzendmalen in den ver- 
schiedensten Stadten als wirksam erwiesen haben, zwei Milnchner 
Hochschulprofessoren der deutschen Literatur vollstandig blind sind, 
eine genilgende literarische Rechtfertigung filr die offentliche Auf- 
fuhrung meines Einakters bedeuten? 

Natilrlich werden mir die beiden Herren entgegnen, dass an der 
Wirkung des Einakters aufs Publikum nur meine Vortragsweise 
schuld sei. Gutl Dann sollen die beiden Herren ihre Kollegien 
ilber die deutsche Literatur doch auch einmal so vertragen, dass sie 
im Publikum den Eindruck von Feuer, Leidenschaftlichkeit und 
dramatischer Steigerung hervorrufen. 

Gutachten 

des Herrn Professor Dr. Franz Muncker. 

Sehr geehrter Herr Wedekind ! 

Als ich gestern abend die ersten zwei Seiten Ihres Dramas 
„Tod und Teufel" gelesen hatte, war ich mir klar, dass ich das 
Werk schon kannte; nur wegen des nicht scharf bezeichneten Titels 
hatte ich mich nicht sogleich daran erinnert, als Sie mir das Stuck 
brachten. Ich las das Stuck aber dennoch gestern noch einmal 
langsam zu Ende und las dann auch die mir vorher noch unbekannte 
„Zensur". 

Nun erinnere ich mich auch genau, dass ich selbst unter denen 
war, die etwa vor einem Jahr „Tod und Teufel" von der Polizei- 
direktion zur Begutachtung erhielten. Was ich damals geschrieben 
habe, weiss ich im einzelnen nicht mehr. Ich glaube aber, dass 
ich mich fur Zulassung der Aufflihrung ausgesprochen habe. Be- 
stimmt weiss ich auch das nicht mehr, und diese Ungewissheit dlirfen 
Sie mir nicht verubeln, denn ich habe gerade im vorigen Jahr mehrere 
Stlicke zu ahnlichem Zweck von der Polizei erhalten, und da ver- 
wischt und verwirrt sich die Erinnerung leicht. Ferner kann man 
ja wohl zweifeln, ob Erorterungen tiber das von Ihnen behandelte! 
Thema, mogen sie noch so theoretisch bleiben (oder vielleicht eben, 
weil sie theoretisch bleiben), auf die Biihne gehoren, ob sie nicht 
vielleicht eher zu einem Lesedrama passen. Auch scheint mir Ihre 
ernste Absicht nicht uberall deutlich, so dass kein Missverstandnis 
moglich ist, herauszukommen, und die Erorterungen, die Sie jetzt 
beilegten, die zur Klarung freiliche viel beitragen, die fehlten eben 



— 94 — 

damals noch. Aber da dies alles keine Bedenken gegen die Sitt- 
lichkeit des Stiickes sind, und da wir in der Zensurkommission nur 
sittliche und nicht asthetische Bedenken zu wlirdigen haben, so glaube 
ich, ich werde mich vor einem Jahr so wenig fur ein Verbot Ihres 
Dramas ausgesprochen haben, wie ich es heute tate. Dann aber er- 
gibt sich die notwendige Folge, dass ich entweder von anderen Mit- 
gliedern der Kommission uberstimmt worden bin, oder dass die 
Polizeidirektion ihr — von Anfang an betontes — Recht gewahrt hat, 
auf eigene Verantwortung auch einmal gegen die Mehrheit der Zensur- 
kommission zu entscheiden. Jedenfalls aber kennt die Polizeidirektion 
bereits meine Ansicht liber Ihr Stuck; ich bin also nicht in der Lage, 
diese Ansicht noch einmal zur Information der Behorde auszusprechen. 
Doch konnten vielleicht Sie die erklarenden Bemerkungen iiber 
Ihr Stlick der Polizei noch vorlegen; freilich bezweifle ich, dass das: 
zu einer Aenderung ihres Beschlusses fuhren wird. Oder wollen 
Sie Dr. H a 1 b e und etwa Prof. Dr. Sulger-Gebing, Prof. 
Dr. v. Du Moulin, die vermutlich noch nicht von der Polizei 
gefragt worden sind, zu einem Gutachten veranlassen. Leider kann 
ich, wie Sie mir gewiss zugestehen werden, in diesem Falle, so wie 
die Dinge aun einmal liegen, nicht Ihnen zu Diensten sein. Ich lege 
die beiden gedruckten Exemplare und Ihre handschriftlichen Er- 
orterungen diesen Zeilen wieder bei. 

Mit den besten Empfehlungen 

Hochachtungsvoll 

gez. M u n c k e r . 

Gutachten 

des Herrn Professor Sulger-Gebing. 

Frank Wedekind, Tod und Teufel. 

Ein Zensurverbot erscheint mir diesem Einakter gegeniiber nicht 
gerechtfertigt. Ich halte ihn fur undramatisch und darum filr wenig 
buhnenwirksam, aber nicht filr unziichtig oder sittenverderblich. Die 
Personen ergehen sich fast ausschliesslich in langatmigen theore- 
tischen Auseinandersetzungen liber die Stellung der Frau zum Mann, 
Liebesgenuss und kaufliche Liebe. Doch sind diese heiklen Fragen 
mit Ernst und mit einer fast trockenen Sachlichkeit behandelt, und 
so mancher nicht verbotene franzosische Schwank bietet dem Publikum 
weit anfechtbarere, weil durch und durch leichtsinnige Moral, die 
noch dazu viel verfuhrerischer auftritt. Lasst sich bei Wedekind 
der Zuschauer von den theoretischen Auseinandersetzungen fesseln, 
so wird er rein intellektuell beschaftigt und gelangt iiber die Personen 
und ihre Anschauungen zu der Auffassung, die der Verfasser in 
den beigelegten Erlauterungen ausgesprochen hat. Verliert aber der 
Zuschauer die Geduld, den Reden aufmerksam zu folgen, so ist 
auf der Biihne nichts gegeben, was die Sinnlichkeit reizt, und er wird 
sich bloss langweilen. Das einzige anstossige erscheint mir der 
Ort, wo das ganze sich abspielt, das Bordell. Hier aber hat sich 
der Verfasser sehr gemassigt — er hat, wie er sich ausdruckt, jede 
Annaherung an die Wirklichkeit auf das Sorgfaltigste und Gewissen- 
hafteste vermieden, — und ich kann deshalb auch darin besonders 
im Hinblick auf so manche von der Zensur gestattete Schlafzimmer- 
und Entkleidungsszene in franzosischen Possen, keinen Grund zu 
einem Verbot erblicken. 



— 95 — 

Der Ernst der Behandlung und die Scharfe der Dialekte stellt 
Wedekinds „Tod und Teufel", insbesondere wenn es zusammen 
mit dem ebenfalls vorwiegend theoretische Auseinandersetzungen 
gebenden Einakter „Die Zensur" aufgeflihrt wird, hoch liber so 
manches, was unbeanstandet liber unsere heutige Buhne geht. Ich 
sehe deshalb keinen Grund ein, warum der Dichter nicht mit diesem 
Einakter auch auf der Buhne zu Wort kommen sollte. 

Miinchen, den 3. April 1911. 

gez. Prof. Dr. Sulger-Gebing. 



Bemerkungen. 



Schiesse bei Zeiten! Ihre komische Geste rechtfertigt nicht 
immer die unernste Beurteilung einer Handlung. Der Prinzipal der 
Berliner Schussmannschaft, Herr v. Jagow, hat eine besondere Me- 
thode gestartet, da Gelachter hervorzurufen, wo Wut und Emporung 
entstehen mlissten. Man denke einmal an die praktischen Folgen 
seines Wirkens und zwinge sich, Herrn v. Jagow so ernst zu nehmen, 
wie er sich selbst nimmt. Dann bekommen seine Massnahmen und 
Erlasse ein verteufelt gefahrliches Gesicht. Er hat es bekanntlich mit 
der Schneidigkeit, — das ware unbedenklich, brachte es nicht die 
Tatigkeit, fur die er von seinen Opfern bezahlt wird, mit sich, 
dass seine Schneidigkeit sich im Benehmen seiner Schussleute zu pro- 
duzieren hat. Die Sanftesten sind die blauen Moabiteriche ohne- 
hin nicht; seit sie nicht „zu spat" schiessen dlirfen, wird man sie 
aber als konstante offentliche Bedrohung betrachten miissen. Das 
Verhaltnis zwischen Berliner Einwohner und Berliner Schussmann wird 
sich jetzt in die Formel ftigen lassen: Wer zuerst schiesst, lacht 
zuletzt. Das sind heitere Zustande und die Berliner Verkehrssicher- 
heit, zu deren Schutz angeblich Jagow und seine Mannen engagiert 
sind, wird fortan hauptsachlich in der Form von Ruhestorungen 
aus Browninglaufen in die Erscheinung treten. — Jedenfalls stehen 
auch interessante Prozesse in Aussicht, und die Entscheidungen der 
Gerichte werden in ihren scharfsinnigen Abstraktionen das beste 
sein, was Jagows Betriebsamkeit dem Logiker wird zu prasentieren 
haben. Erschiesst jemand einen Schussmann, der auf ihn zukam, 
um an ihm vorbeizugehen, — wird der Verteidiger, der auf Putativ-Not- 
wehr plaidiert, recht behalten. Und warum wird er nicht recht 
behalten, sondern der Schlitze wegen Totschlags verurteilt werden? 
— Wie wird umgekehrt der Freispruch des Schussmanns begrtindet 
werden, der die alte Dame niederknallt, die ihn nach dem nachsten 
Briefkasten hatte fragen wollen? Wir wollen es abwarten und horen, 
was Herr v. Jagow als Sachverstandiger daruber aussern wird. 

Unangenehm ist aber doch immer die Irreparabilitat der Scha- 
den, die durch hervorragend forsche Leute verursacht werden. Da 
gab es frliher in Berlin zwei bedeutende Juristen, den Landgerichts- 
direktor Brausewetter und den Staatsanwalt Benedix, denen man 
besonders gern politische Delinquenten in die Fange gab. Die 
beiden Herren knallten ihren Opfern Freiheitsstrafen auf den Buckel, 
dass es dampfte. Alle beiden starben in geistiger Umnachtung. 
Es unterliegt keinem Zweifel, dass ihre Hirne schon krank waren, 
als sie noch ihre Rechtspraxis ausiibten. Denen aber, die von ihnen 
abgeurteilt waren, niitzte die nachtragliche Erkenntnis ihrer Beschaffen- 



heit nichts mehr. Sie waren und blieben im Gefangnis, bis ihre 
Zeit verstrichen war. Wie nun — um hier gleich das tertium com- 
parationis zu nennen, — wenn Herr v. Jagow eines Tages, beispiels- 
weise wegen allgemeiner Unbeliebtheit (ich will nicht bitter werden 
und etwa sagen: wegen menschlicher Regungen, wo er bloss Zensor sein 
soil) — wenn er also wegen Mangel an Gegenliebe bei den Ber- 
linern zum Zylinder greifen muss? Dieser Mangel an Gegenliebe 
hat — daran zweifelt wohl keiner — langst bestanden, und ihm 
werden zum Teil die Taten zuzuschreiben sein, die seine Schussleute 
zum „rechtzeitigen" Eingreifen veranlassen. Wer dabei eine Kugel 
in den Bauch bekommen hat, dem bleibt die Narbe oder die Witwe 
ubrig; daran wird kein Nachfolger Jagows etwas andern konnen. 
Das beste ware schon, der Prinzipal der Berliner Schussmann- 
schaft wiche moglichst bald einem Nachfolger. Wie man ihn dazu 
veranlassen konnte, weiss ich freilich nicht. Aber die linksseitigen 
Volksbegllicker und Zeilensoldner wissen doch sonst immer so viele 
gute Mittel, um den ehernen Willen der Massen emphatisch zum Aus- 
druck zu bringen. 

Zweierlei Hasskriige. Den Munchnern steht eine neue Gaudi 
bevor. Es wird schon wieder ein Prozess wegen schlechten Ein- 
schenkens angekilndigt. Ein fiebernder Reporter wusste sogar zu 
melden, dass es diesmal nicht bloss den Kellnern und Pachtern an 
den Kragen soil, sondern dass der Staatsanwalt hoher hinaufgreifen 
und auch die Besitzer der Brauereien selbst auf die Anklagebank 
notigen wolle. Unmoglich! — Zwar lasst sich die Richtigkeit einer 
Berechnung schwer anzweifeln, wonach die moralische Triebkraft der 
Manipulationen, die das Mitglied des Vereins gegen betriigerisches 
Einschenken in den Zustand der Wichtigkeit fur die menschliche 
Gesellschaft versetzen, beim Profit der Brauer zu suchen ist. Aber 
wenn ein Reporterchen" dem Redakteur einer Zeitung eine sensa- 
tionelle Allarmnachricht bringt, die nicht stimmt und zugleich das 
Objekt der journalistischen Findigkeit und das Lesepublikum, das 
wahre Begebenheiten erfahren will, schadigt, — geschieht die Ver- 
offentlichung etwa nicht, weil der Verleger davon seinen Profit 
hat? — Und hat schon jemals ein Staatsanwalt den Besitzer eines 
Blattes, statt seiner abhangigen Redakteure vors Gericht geladen? 
— — Das ware ja noch schoner, wenn plotzlich Knorr und Pschorr 
mit Krethi und Plethi in einen Rechtstopf geworfen werden sollten! 



Walhalla. Ein fruherer Musiker, namens Herwarth Waiden, 
ktindigt eine Druckschrift an, die den Titel fiihren soil: „Goethe, 
Nietzsche und Kraus". — Gemeint ist Herr Karl Kraus, Herausgeber 
der „Fackel", Wien, IV. Bezirk. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9, 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2356. 



KAIN, Heft 4. Inhalt: Widmung. — Menschlichkeit. — Tage- 
buch aus dem Gefangnis. — Fiir Wedekind. — Tariftreue. — 
Kentucky und Berlin. — Der Herr Rektor. — Semerau. 

KAIN, Heft 5. Inhalt: Sittlichkeit. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Mottl, ein Opfer der 
„Miinchener Post". — Der heilige Jatho. — Architektur und 
Behorde. — Bekanntmachung. 



Pregrelationsbureau „ftanfa" 

Ulfpt). Ami mojbtt mi Berlin NW 25 ■*■ holfielnfr Ufer 7 ♦ 

Jtih.: Jng. III. Kraufe 
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Kunft, literatur, IDiffenftDaft 

fdmeil — uollftandig — prcisiuert. 

HSddemifrt) und literarifd) gebildete i'ehtoren. 
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crfdiieurn folgende BU$cr. 



OlC tOUftC* Cedlflte. 1904. m. 2.40. 

BCt Kt&tCt* ecdKfttt. 1909. m. 2.- 

DlC l20d[)ItdplCr* luflftrtel. 1906. m.2.- 

Zu brzicftcn durrt) icdc Budtjftandlung und den 
Kain <Dcrlag, llUuidirn, BaadrrftraBe la. 



Bitte hier abzutrennen. 



Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Adresse: 



Name: 



*) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgang I. No. 7. Oktober 1911. 

KMN 

Zeit/chriftfur 

rWchlkhfteit 

HemuJgeber; 

(rich Huh/am 




Inhalt: Bebel t- — Tagebuch aus dem Gefangnis. — Miinchner 
Theater. — Bemerkungen. — Kiew. — Mainz. — Munchen. — 
Korrespondenz. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfg. 



In einigen Wochen erschei nt im KAIN- 
VERLAG zum ersten Male der 



Kain-Kalender 

fiir das Jahr 1912. 

Samtliche Beitrage sind vorn Heraus- 
geber des „Kain", ERICH MUHSAM. 



Der Kalender enthalt ernste und hu- 
moristische Arbeiten in Prosa und 
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und 
satyrische Gedichte, Aphorismen, 



Dramatisches u. 



w., 



Dem Kalender wird das Bild des Verfassers beigegeben. 



Der Preis betragt fiir das 
Einzel - Exemplar 1 Mark. 



Bestellungen nehmen jetzt schon entgegen die Buch- 

handlungen und der „KAIN-VERLAG", Munchen, 

Baaderstrasse la. 



Jahrgang I Miinchen, 

No. 7. Oktober 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fur Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 
Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage deser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
MHarbeiter dankend verbeten. 

Bebel f 

August Bebel ist tot; im Alter von 71 Jahren an Ent- 
kraftung und Herzschwache gestorben. Er lebt? — Er ist 
tot, sage ich euch, und es ist hochste Zeit, ihm den Nekro- 
log zu schreiben. In Jena hauchte er, am 14. Septem- 
ber 1911, seine revolutionare Seele aus, umringt von seinen 
Getreuen, die seine letzten Atemziige, seine letz- 
ten Seufzer aufBngen, um in ihrem Geiste weiterzuleben, 
weiterzukampfen, weiterzuwursteln. 

August Bebel war eine Kampfematur, — das soil 
ihm unbestritten bleiben. Er war ein Draufanger vom 
alten Schlage, einer der seine Ueberzeugung, sein Ideal 
und seine Sehnsucht hatte. Leidenschaftliches Tempera- 
ment hatte er nicht, — das ware zu viel gesagt. Aber 
er konnte es haben, wenn er wollte. Er konnte seine 
prachtige Beredsamkeit zu Ausbriichen befeuem, dass 
es eine Lust war, inn zu horen. Und, wahrend er sprach, 
war Bebel immer ehrlich. Hatte er sein Temperament an- 
gekurbelt und liess es nun haltlos ablaufen, so glaubte 
er selbst jedes Wort, das ihm der Moment eingab, so hatte! 



— 98 — 

er keine Ahnung, dass er vorher ganz anders geredet 
hatte und nachher wieder ganz anders reden wiirde. Wer 
August Bebel je fur einen iiberragend intelligenten Kopf 
gehalten hat, verkannte inn durchaus. Er war nur ein 
eminent politischer Kopf. Seine Intelligenz erhob sich nie 
iiber das Niveau der durchschnittlichen Klugheit bele- 
sener Proletarier. Was inn vor seinen werktatigen Stan- 
desgenossen auszeichnete, war ausschliesslich die Gabe der 
Beredsamkeit. Aber auch die musste man mit Vorsicht 
beurteilen. Sie beruhte namlich keineswegs auf der Fulle 
einander iiberjagender Einfalle und Gedanken, auch nicht 
auf sonderlich geschickter Diktion oder sauberem Stil, 
sondern durchaus nur auf dem wundervollen hellschal- 
lenden Organ des Marines und auf der lebendigen Beweg- 
lichkeit seiner Gesten. Wer ihn horte, wurde gepackt und 
oft erschiittert und mitgerissen. Las man nachher aber 
die Reden auf dem Druckpapier nach, da fand man nicht 
mehr viel vor von dem Feuer, der Begeisterung, der 
Ueberzeugungskraft des gesprochenen Wortes. Dann 
waren es meistens gar nicht besonders geschickt aufgebaute 
Satze, aus denen die Rede bestand, aber viel Ausrufungs- 
zeichen, Fragezeichen, Schlagworte. Hinter denen stand 
zumeist: Bravo! Lebhafter Beifall! Stiirmischer Beifall! 
— und man besann sich, dass die schlagkraftigen rheto- 
rischen Wendungen immer am Ende einer Gedanken- 
reihe erfolgten und auf diese Weise auf den nachsten 
Teil der Rede vorbereiteten. Auch die Aeusserungen, auf 
die Heiterkeit! und Sturmische Heiterkeit! folgte, erwiesen 
sich nachtraglich bei der Lektiire als recht billige Witz- 
chen und Anrempelungen, die gewiss keinen Humoristen 
zum Urheber hatten. Las man gar, was er geschrieben und 
dem Druck ubergeben hatte, so stellte sich sein Stil als 
iibeistes Zeitungsdeutsch heraus. Wer in funfzigjahriger 
Schreibpraxis so wenig Sprachzucht gelernt hatte, war 
gewiss kein geistiges Phanomen. 

Aber ein PoUtiker war Bebel. Er hatte stets den 
richtigen Instinkt dafiir, warm er temperamentvolle Fan- 



— 99 — 

faren zu schmettern und warm er in leidenschaftsloser 
Sachlichkeit zur Ruhe zu mahnen hatte. Der sachsische 
Drechslergeselle lebte in ihm bis zum Ende, und als 
sachsischer Drechslergeselle stand er den Dingen des 
Lebens, des offentlichen Geschehens und der Partei ge- 
geniiber. Er empfand alle Vorgange, mit denen er sich 
zu beschaftigen hatte, ganz und gar als Proletarier, — 
das war das Geheimnis seiner unerhorten Popularitat. 
Die Meinung, die er in Versammlungen, im Reichstag, 
auf den Parteitagen vertrat, war der Ausdruck der wirk- 
lichen Grundstimmung der sozialdemokratisch geleiteten 
Massen. Dieses in seiner Herkunft begriindete Mitschwin- 
gen seines Geistes mit dem Fiihlen und Denken der 
Millionen Proletarier gab ihm jederzeit die Sicherheit 
seines Auftretens, das im letzten Dezennium geradezu 
diktatorische Alliiren annahm. In dieser absoluten Sicher- 
heit seines jeweiligen Standpunktes war er sogar seinem 
vor ihm verstorbenen Genossen Paul Singer voraus, der 
sich tief in das Wesen der Arbeiterseele hineingearbeitet 
hatte und Bebel an Intelligenz weit iiberlegen war. 

Was Bebel sagte, konnte man stets als den Ausdruck 
der jeweiligen Massennansicht annehmen. Er war ein Baro- 
meter der Stimmung unter den deutschen Arbeitern, und 
wenn er von Jahr zu Jahr einen revolutionaren Grund- 
satz nach dem andem preisgab, so reproduzierte sich darin 
die Wirkung der marxischen Kathederweisheiten auf das 
Volksgemiit. 

Die Aktionsfeindschaft des historischen MateriaUsmus 
verurteilt den Marxisten zur Realpolitik, d. h. zum grund- 
satzlosen, zielvergessenen taktischen Manoverieren inner- 
halb der angefeindeten bestehenden Verhaltnisse. Das 
revolutionare sozialistische Prinzip musste bei der wach- 
senden Erkenntnis der von Marx inaugurierten Ideen bei 
der Masse zur Phrase werden, und wurde somit auch bei 
Bebel in immer steigendem Masse zur Phrase. Solange 
die Massen an ein Zukunftsideal glaubten, solange sie 
noch wahnten, ihre BeteiUgung am Kampf der pohtischen 



— 100 — 

Parteien miisse binnen kurzem zur Realisierung ver- 
schwommener sozialistischer Traume flihren, solange war 
auch August Bebel der Fiirsprecher eines radikalen Drauf- 
gangertums gewesen. Er konnte, wenn er Temperament 
einschaltete, geradezu fanatisch werden in seinem Zorn 
gegen die biirgerliche Gesellschaft und war am sympa- 
thischsten, wenn er einmal — ganz der Mann des Volkes 
und seines Wahns — den Blick fur das Wirkliche total 
verlor und sein unklares Zukunftsstaats-Gebilde schon 
zum Greifen nahe geriickt sah. Das war der Bebel, der in 
der Geschichte fortleben wird und um dessen Tod auch wir 
trauern, die wir seine Wege nie gegangen sind: der 
fur das Jahr 1898 den grossen Kladderadatsch prophezeite, 
der schwor, bis zum letzten Atemzuge der Todfeind der 
biirgerlichen Gesellschaft bleiben zu wollen, der keine 
Biindnisse und keine Konzessionen wollte, der Drauf- 
ganger und couragierte Attackenreiter. 

Als seine Haare weiss wurden, wandelte sich Bebel 
zum wagenden Taktiker. Derm inzwischen hatten die 
Diplomaten und Advokaten in der Partei Oberwasser 
bekommen, und die Massen fiihlten sich regierungsfahig 
im kapitahstischen Staat. Bebel hatte so wenig wie das 
Gros der Arbeiterschaft die Kraft, sich dem Strudel des 
wohlfeilsten Reformer-Ehrgeizes zu entreissen. Er geriet 
mitten hinein in die kleinbiirgerliche Tagespolitisiererei, 
die seine Krankheit wurde und seinen Tod herbeifiihrte. 

Von 1867 bis 1911 — welch ein Niedergang! Der 
hartkopfige Revolutionar, der Verfolgungen, Gefangnis- 
strafen, Bedriickungen aller Art auf sich nimmt; dann 
der Wortfuhrer des Volks, wo es um ernste Dinge geht, 
der drohende Wachter iiber kummerUche Rechte; und 
endhch der General belfemder Gernegrosse, staathch kon- 
zessionierter Umstiirzler, allerdevotester Opponenten! 

Seit Bebel im Reichstag erklart hatte, wenn einst die 
Grenzen des Deutschen Reiches bedroht waren, wiirde 
er selbst das Gewehr iiber seinen alten Buckel laden und 
mitmarschieren gegen den Feind, war das Ende voraus- 



— 101 — 

zusehen. Mit der Marokko-Rede in Jena hat der alte 
Revolutionar ausgerochelt. Da hat Bebel vor dem Impe- 
rialismus glatt kapituliert. Wer sich noch schamen kann, 
errote! 

Erinnert man sich, wie Bebel in friiheren Jahren iiber 
alle KolonialpoUtik urteilte? Als es um die Boxer-, um die 
Hererokampfe ging, ausserte er Ansichten, die den hier 
vor einem Monat entwickelten gar nicht sehr unahnlich 
waren. In Jena aber fuhrte Bebel aus: 

„Nun soil gar nicht bestritten werden, dass Marokko 
zu denjenigen Landern gehort, die bei verniinftiger Wirt- 
schaft einer grossen Entwicklung fahig sind, dass, wenn 
in der Tat mit den geeigneten Mitteln, gegen die wir 
auch, wenn sie die rechten waren, nichts einzuwenden 
hatten, die Kolonisation Marokkos betrieben wiirde, der 
Handelsverkehr gewaltig stiege und damit auch grosse 
Vorteile fur Deutschlands Handel in Aussicht standen. 
Das eine glaube ich aber in erster Linie postuheren zu 
miissen: Wir Sozialdemokraten, die wir der ganzen 
MarokkopoUtik .... feindhch gegeniiberstehen, und 
wie sie jetzt betrieben wird, feindlich gegeniiberstehen 
miissen, wir haben das natiirliche Verlangen, dass 
Deutschlands Handel und Deutschlands industrielle Ent- 
wicklung unter den gleichen Bedingungen in Marokko 
sich vollziehen kann, wie die jedes anderen Staates 
(lebhafte Zustimmung), dass also alle Staaten unter 
voller Gleichberechtigung in Marokko ihre Interessen 
verfechten diirfen, dass keiner dem andern vorgezogen 
wird, keiner seine Stellung missbraucht, um die andern 
zuriickzudrangen, wie man das ja — und das ist die 
Hauptursache des Konflikts — der franzosischen Re- 
gierung vorwirft, indem sie die Bestrebungen deut- 
scher Interessenten, in Marokko Fuss zu fassen und 
dort Ausbeutungsinstitutionen zu schaffen, hintanzuhal- 
ten sucht." 

Herr Bebel wendet sich also gegen die Art, wie 
Marokko kolonisiert werden soil. Gegen „geeignete Mit- 



— 102 — 

tel" zur Kolonisation des Landes, „wenn sie die rechten 
waren", hat er nichts einzuwenden. Amiisant ist, dass in 
der gleichen Woche, in der diese Rede gehalten wurde, 
der auch in Jena wieder von Bebel angeriipelte Maximi- 
lian Harden in seine „Zukunft" einen Artikel „Weh dem 
Sieger!" schrieb, worin Deutschlands Anspriiche in Ma- 
rokko energisch bestritten werden. Bebels Patriotismus 
stellt also den des Patrioten Harden in der Marokko- 
Angelegenheit weit in den Schatten. 

Aber die Bebeische Verbeugung vor den alldeutschen 
Expansionspolitikern war wohl notwendig, urn das Be- 
kenntnis vorzubereiten, dass die deutsche Sozialdemokratie 
nicht gesonnen sei, wirksame Massnahmen gegen den Aus- 
bruch eines Krieges zu veranstalten. Bebel legte dieses 
Bekenntnis ab, indem er in sehr aggressiver Weise gegen 
die Aktion eines Massenstreiks polemisierte. Er machte 
das so, dass er die Situation eines Landes schilderte, das 
sich im Kriegszustande befindet, und deduzierte alsdann 
folgendermassen: 

,J3ie Preise der Lebensmittel erreichen eine uner- 
schwingliche Hohe, obwohl sie heute schon kaum er- 
schwinglich sind. Dann aber wird das die allgemeine 
Hungersnot tatsachlich bedeuten. Was glaubt man denn, 
was aus einer derartigen Situation entsteht? Da fragen 
die Massen nicht nach Massenstreik. (Lebhafter Beifall.) 
Da schreien sie nicht nach dem Massenstreik, da schreien 
sie nach Arbeit und Brot, (sturmische Zustimmung) — 
so liegen die Dinge — , nach Arbeit und Brot, die mit 
Ausnahme der Industrien und Gewerbe, die direkt am 
Kriege interessiert sind, niemand ihnen bieten kann." 

Sehr richtig, Herr Bebel! So wird es aussehen, wenn 
eure lotterhafte Geschaftspolitik den Krieg nicht zu ver- 
hindem gewusst hat, wenn ihr in eurer straflichen Angst 
vor dem Vorwurf der Vaterlandslosigkeit euch zu keinen 
kraftigeren Entschliissen aufraffen konnt, als zu leeren 
phrasenklingenden Resolutionen, in denen ihr den Krieg 



— 103 — 

wie weiland Homer „mannermordend" nennt, und erwar- 
tet, „dass insbesondere die deutsche Arbeiterklasse jedes 
mogliche Mittel anwendet, um einen Weltkrieg zu verhin- 
dern". Von dem einzig moglichen Mittel aber wollt ihr 
nichts wissen. 

Herr Dr. David aus Mainz musste nach der schonen 
Rede Bebels, die das Entziicken aller liberalen Lesepapiere 
bewirkte, schleunigst einen Antrag auf Schluss der Debatte 
einbringen, damit Dr. Liebknecht verhindert wurde, die 
peinliche Frage zu stellen, was fiir Aktionen derm nun 
eigentlich gleich erfolgen sollten. Die „Harmonie" durfte 
nicht gestort werden. Derm sonst hatte der ganze Zweck 
der Uebung durchkreuzt werden konnen. 

Welcher Zweck? Sich fiir die in vier Monaten stei- 
gende Reichstagswahl den patriotischen Spiessern freund- 
lichst empfohlen zu halten! 

Der sich zu diesem widrigen Manover hergab, war 
August Bebel, der alte Bebel, der keine Konzessionen 
machi" und mit dem Kopf durch die Wand geht. 

August Bebel ist tot. Klappt den Sargdeckel zu! 



Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

So lange dauerte es kaum, als der Aufseher mir zwei grosso 
Decken und zwei Ueberziige in die Zelle brachte, mit dem Bemerken, 
ich moge nun das Bett uberziehen. Ich entdeckte jetzt, dass die Kette, 
mit der das Lager an der Wand befestigt war, nur liber einen Haken 
geschoben war, und indem ich alle Leibeskraft zusammennahm, gelang 
es mir denn auch, sie davon loszumachen, sodass ich mich nun gegen 
das schwere Gestell zu stemmen hatte, damit es nicht mit aller Macht 
mir auf die Kniescheibe falle. Jetzt musste ich etwas sehr Trauriges 
erleben. Der Tisch und die Bank war namlich heruntergelassen, und 
es stellte sich heraus, dass das Bett nicht aufgeschlagen werden konnte, 
solange das der Fall war, weil es mit dem Tisch karambolierte. Ich 
hob also das Bett mit grosser Anstrengung wieder empor und bemilhte 
mich, es so lange mit der Hand festzuhalten, bis der Tisch an die 
gegenuberliegende Wand geklappt war. Etliche Male musste ich 



— 104 — 

den Versuch erneuern, endlich gllickte er, und ich liess das Bett 
langsam niedergleiten, bis dessen Platte plotzlich auf der Bank fest- 
sass. Selbst die schmale Bank hatte zwischen dem schmalen Bett 
und der Wand keinen Platz mehr. Diesmal geniigte aber ein kleiner 
Anhub, um die karambolierenden Mobel aneinander vorbeizubringen, 
und dann stellte sich die erfreuliche Erscheinung heraus, dass die 
Bank zugleich mit dem Bett niedergelassen, gerade auf dem Bettrand 
lag, also eine natlirliche direkte Verbindung vom Bett zur Wand 
schuf. Ich vergegenwartigte mir, was fur eine sympathische Beschaf- 
tigung es sein milsste, wenn ich im Bett lage und von dort aus 
kleine Steinkugeln, die die Berliner Jungens „Murmeln" nennen und 
die bei uns in Ltibeck „Picker" hiessen, gegen die Wand kollern 
Hesse. — Es war mir gelungen, das Bett aufzuschlagen, und ich besah 
jetzt das Material, mit dem ich es ausschmticken sollte. Da war ein 
kleiner eckiger braunlicher Linnenliberzug, der, wie mir schien, ganz 
die Fasson des Keilkissens hatte. Ich experimentierte damit eine 
Weile, und schliesslich gelang es mir wirklich, das Keilkissen in den 
Ueberzug hineinzuquetschen, dass es wie angegossen sass. Und dann 
war da ein machtigen leinener blaukarrierter Ueberzug, den ich mit 
einiger Angst betrachtete. Erst meinte ich, dass man damit wohl eine 
der Decken uberziehen milsse, sah aber ein, dass daflir der Bezug viel 
zu gross sei. So entschloss ich mich denn, die Matratze in das Ding 
hineinzupferchen. Ich nahm sie vom Bettstell ab und lief bald an 
das Kopfende, bald an das Fussende, um zu probieren, ob ich sie nicht 
in den offenen Rachen des blauen Bettbezuges schieben konnte. So 
ging es nicht. Ich legte nun die Matratze dahin, wohin sie gehorte 
und zog mit dem Ueberzug gegen sie zu Felde. Es war aussert schwie- 
rig. Aber mir kam ein genialer Einfall. Ich drehte das blaue Zeug 
um und zog es nun der Matratze von unten herauf an den Leib 
wie man Kindern Strumpfe anzieht. Zwar rutschte die Matratze dabei 
immer mehr von der Bettstelle ab und schob mich zurilck, aber als ich 
endlich rlicklings auf den Deckelknopf des „Leibstuhls" zu sitzen 
kam, da hatte die Tugend gesiegt und die Matratze war in ein blau- 
karriertes Kleid gehullt. Ich schob sie, stolz auf mein geglucktes Werk, 
an ihren Platz zurilck, legte das Keilkissen oben darauf und packte 
die beiden Decken daruber. Nun mochte kommen, was wollte: mein 
Nachtlager war in Ordnung. — Der Aufseher kam, fragte, ob ich 
fertig sei. und ich zeigte ihm, sehr mit mir zufrieden, das Resultat 
meiner Tatigkeit. Der Mann sah mich von der Seite an, lachelte 
vergnligt, ging dann zur Tur und rief hinaus: „Giesmann!" — 
Giesmann kam. Ein blondbartiger Berliner Arbeiter im Straflings- 
anzug. „Machen Sie das mal in Ordnung", wies ihn der Beamte 
an und verliess die Zelle. Giesmann schmunzelte: „Sie sind sone Ar- 
beeten woll nich jewohnt?" — Damit schmiss er Decken und Keil- 



— 105 — 

lassen vom Bett herunter und pellte mit grosser Behendigkeit die 
Matratze aus dem Ueberzug wieder heraus, in den ich sie eben mit 
so viel Liebe und Anstrengung hineingezogen hatte. Ich sah recht 
wehmiitig zu. Nackt wie sie gewesen war, legte er die Matratze 
zurilck, prilfte das Keilkissen, das er in seinem Ueberzug anerkannte 
und legte die beiden Decken sehr sorgfaltig ubereinander. Dann 
kniffte er sie an einer Seite ein und schob mit kaum glaublicher Ge- 
schicklichkeit den blauen Ueberzug ilber beide Decken zugleich. 
Unterdessen unterhielt es sich sogar noch mit mir, fragte mich, warum 
ich hier sei und erzahlte, dass man ihn wegen verbotenen Drehorgel- 
spielens zu vier Monaten Gefangnis verknackt hatte, die Mitte Novem- 
ber abgeblisst seien. Ich wunderte mich ilber die hohe Strafe wegen 
des geringfilgigen Vergehens. Er erklarte mir aber, dass er zum 36. 
Male daftir bestraft sei. Es gibt doch konsequente Naturen, dachte 
ich mir. — Mit diesem Giesmann bin ich inzwischen vertrauter ge- 
worden. Er wird im Gefangnis damit beschaftigt, die Korridore und 
gemeinsamen Raume taglich zu saubern (wofur er pro Tag 15 Pfennige 
erhalt, nicht mehr und nicht weniger). Es hat sich all- 
mahlich die stillschweigende Gewohnheit herausgebildet, dass Giesmann 
auch meine Zelle in Ordnung halt. Seit ich Selbsfbekostigung habe, 
kriegt er daflir den Kaffeezucker und die Bierreste, und wenn ich 
einmal rauchen darf, den Zigarrenstummel. 

Nachdem Giesmann mein Bett in Ordnung gebracht und mich 
wieder allein gelassen hatte, die Tur vom Aufseher auch wieder abge- 
schlossen war, fiihrte ich von neuem meine melancholischen Ge- 
danken spazieren. Jetzt, sagte ich mir, sammeln sich die Getreuen 
im Cafe Monopol, greifen nach den Abendblattern, die wahrschein- 
lich voll erstunkener Mordsgeschichten sind, und fragen sich: 1st 
der Miihsam wirklich beteiligt an der Dynamitgeschichte? — leih 
kann es mir nicht denken. — Na, ich hab's immer gesagt, dass man 
ihm mit dem Vorwurf der Harmlosigkeit unrecht tut. — Aber wie 
konnte er das bloss von hier aus dirigieren? — Oh, nichts leichter als 
das. Brieflich lasst sich viel machen. — Immerhin, dass er sich in 
so gefahrliche Geschichten einlassen wurde — — . Ich bin iiberzeugt, 
dass er von allem wusste; aber er wird sich schon geschickt heraus- 
lilgen. — So, dacht' ich, werden sie wohl tiber mich sprechen, die, 
die mir wohlwollen. Und ich sass nun hier einsam in der Gefang- 
niszelle, in der es langsam dammerig wurde und wusste nicht, wofur. 
Ich uberdachte noch einmal den Sinn der Paragraphen, und da 
stieg mir eine Kerze auf. Das ist ein Schlag gegen den Sozialisti- 
schen Bund! Morax zeichnete als Gruppenwart und sitzt in Neudeck 
unter dem Verdacht, die Bombensache mitgemacht zu haben. Ich 
war der erste, der den S. B. in Mlinchen agitiert hat; ich habe in 
den Sitzungen der Gruppe Tat fast immer allein das Wort gefuhrt: 



— 106 — 

„Stifter und Vorsteher!" — Kommt hinzu, dass ich den Versuch 
machte, die Kunden, das „Lumpenproletariat", den „fiinften Stand" fur 
unsere Sache zu gewinnen, — nichts klarer als das: fur den Bomben- 
wurf hat der Miihsam in seiner Gruppe Stimmung gemacht : 
§§ 128, 129! (Fortsetzung folgt.) 

Munchner Theater. 

Ueber das Grundsatzliche der Volksfestspiele soil im Kain-Kalen- 
der gesprochen werden. Hier sei eine Bewertung der Proben ver- 
sucht, die Reinhardt in diesem Sommer den Mlinchnern bot. Zunachst 
will ich unter Vorbehalt vieler Einwande im Einzelnen gegenliber 
den Angriffen, denen Max Reinhardt gerade jetzt wieder selbst von 
bisher freundlichen Seiten ausgesetzt ist, bekennen, dass mir seine 
Experimente in der Musikfesthalle des Ausstellungsparkes uberaus 
wertvoll sind, und dass mir alle Verdachtigungen seines kunstleri- 
schen Wollens ungerecht, oberflachlich und kleinlich erscheinen. 

Es kommt darauf an, vor grossen Menschenmengen wirksam Thea- 
ter zu spielen. Dazu reichen die vorhandenen Btthnen nicht aus. Auch 
die bisher publizierten Projekte fur neue Theaterbauten — ich erin- 
nere an das Rohe-Zehe'sche — losen die Frage nicht, wie das 
moderne Komodienhaus beschaffen sein muss, um flinftausend Per- 
sonen genilgend Platz und annahernd gleichmassig gute Hor- und Seh- 
moglichkeit zu bieten. Es gab keinen Ausweg: man musste nach 
dem Beispiel der Alten das Amphitheater bevorzugen. Da wir hingegen 
in anderem Klima leben, als die Athener, da sich ferner seit Sophokles 
und Aeschylos die Nerven des theaterliebenden Publikums auf wesent- 
lich gewandelte Reizungen eingestellt haben, und die durch Schall- 
trichter gesprochenen Reden der Darsteller nicht mehr klinstlerisch, 
gemessen konnten, so musste man den geschlossenen Raum suchen, 
der das Agieren zu Filssen der Zuschauer gestattet. In Milnchen 
fand sich die sehr geeignete Musikfesthalle, deren Halbkreis-Form so- 
wohl die Benutzung einer Buhne wie der Arena ermoglicht. Anders- 
wo musste Reinhardt faute de mieux im Zirkus spielen, und nun ging 
das Geschrei, er sei ein Sensationsmacher, noch lauter los als 
schon vorher. Wir haben es im vorigen Jahre nach der Auffuhrung 
des „K6nig Oedipus" erlebt; wir werden es in diesem Jahre nach 
der „Orestie" erst recht erleben, obwohl sich doch Herr Ferdinand 
Bonn um die Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen Kunst und 
Spektakel hinlanglich verdient gemacht hat. 

Die Entrlistung der Kulturhuter eifert in Sonderheit gegen das 
Massenaufgebot der Mitwirkenden. Auch dieser Entrlistung kann der 
Vorwurf der Oberflachlichkeit nicht erspart werden. Die Einrich- 
tung des Arena-Theaters bringt es mit sich, dass die Gruppierung 



— 107 — 

der Zuschauer rund um die Szene zum Bilde der Auffiihrung erheb- 
lich mitwirkt. Es ware daher ein Stilfehler grobster Art, wenn sich 
die Zahl der Darsteller auf das durch die raumliche Begrenztheit der 
Podium-Buhne bedingte Minimum beschrankte. Die Affichierung der 
tausend Mitwirkenden an den Mlinchener Plakatsaulen ging zwar auch 
mir sehr gegen den Geschmack, auf die Riesenchore selbst aber hatte 
ich bei der Umfanglichkeit des Raumes und bei der Umgrenzung der 
Szene durch die bis zum Dach der Halle gedrangte Zuschauermenge 
nicht verzichten mogen . . . 

Ob die Wahl der „Orestie" zum Volks-Festspiel glucklich war, 
darilber wird sich streiten lassen. Es lag nahe, bei der szenischen 
Benutzung des antiken Vorbildes auch im Repertoire an die Antike 
anzuschliessen. Kommt hinzu, dass im vorigen Jahre der „K6nig 
Oedipus" des Sophokles — mit grossem Recht — ungeheueren Erfolg 
hatte. Die Versuchung, danach die „Orestie" zu inszenieren, ist 
also sehr begreiflich. Aber das Werk des Aeschylos erftillt die Be- 
dingungen der Massenwirkung auf unsere Zeitgenossen nicht entfernt in- 
dem Masse, wie das des Sophokles. Im „K6nig Oedipus" ist einheit- 
liche, gedrungene Handlung von packendster, sich stetig steigender 
Tragik. Das Volk (also die Chore) ist in den dramatischen Konflikt 
engstens verstrickt, denn es bttsst die Schuld des Konigs durch die 
Seuche und greift nun anklagend und rettungheischend direkt in die 
Handlung ein. Da gibt es grosse und fur die Wirkung der Tragodie 
durchaus notwendige Aufgaben filr den Regisseur. Die Bewegung der 
grossen Chore ist ein wichtiges Erfordernis, um die machtigste 
Schicksalstragodie aller Zeiten im Zuschauer lebendig zu machen. 
Die Wahl dieses Dramas zur Auffiihrung im „Theater der Fiinftau- 
send" war also von selbst gegeben. 

Ganz anders ist es bei der aus drei getrennten Stlicken bestehen- 
den „Orestie". Das ist eine Aufzeigung der blutriinstigen Ereignisse, 
die sich im Hause Agamemnons nach seiner Heimkehr aus dem troja- 
nischen Kriege abspielen. Ein Familien- und Ehebruch-Drama, das 
nicht in die Entladung katastrophischer Spannungen mtindet, son- 
dern eigentlich in abstrakte politische und philosophische Erorterun- 
gen. Die Auseinandersetzung iiber die rechte Gestaltung der atheni- 
schen Gerichtsbarkeit geht uns heutzutage nur noch recht wenig an, 
und iiber die Entschuldigung des Muttermordes, zu der Apollo seine 
gottliche Kollegin Pallas Athene bemliht, deren Herkunft aus Jupiters 
Schadel beweise, dass es nur eines Vaters aber keiner Mutter zum 
Dasein bedtirfe, kann man bei allem Respekt vor Aechylos doch bloss 
lacheln, wenn man ein Mensch unserer um das Mutterrecht kampfen- 
den Tage ist. 

Ganz im Gegensatz zu ihrer Wesentlichkeit im „Konig Oedipus" 
haben die Chore in der „Orestie" nur teils dekorative, teils symbo- 



— 108 — 

lisch-allegorische Bedeutung. Weder die Schar um ihre angestammte 
Dynastie besorgter Greise, noch das mit Agamemnon einziehende 
Heer haben letzten Endes mehr zu tun, als fiir den Verlauf der Bege- 
benheiten die Stichworte abzugeben, und die Erinnyen sind, nlich- 
tern betrachtet, doch lediglich die personifizierten Qualen des bosen 
Gewissens. 

Der Versuch, die „Orestie" als Ganzes fur unsere Nerven auf 
dem Theater geniessbar zu machen, musste also missglucken. Was 
in dauernder Erinnerung haftet, sind Einzelheiten, zum Teil sehr 
schone, herrliche Einzelheiten. Prachtvoll war der Einzug Agamemnons 
im ersten Teil der Trilogie im vierspannigen Streitwagen, schauer- 
lich grossartig im dritten Teil das heuschreckenhafte schleichende 
Ueberfluten der Szene mit den schwarzverhlillten, geduckten Gestal- 
ten der Eumeniden. Hier gab Reinhardt Beispiele von seinem uner- 
horten Konnen als Theaterstratege. Andere Szenen misslangen da- 
gegen vollig. Dass Orestes seine Mutter die ganze machtige Frei- 
treppe hinunterzerrt, sie durch die ganze Arena schleift, riittelt, zaust, 
wieder zurilck schleppt, die hohe Treppe hinaufpeinigt, um sie dann 
Schliesslich hinter der Szene umzubringen, muss als unverantwortliche 
Geschmacklosigkeit bezeichnet werden. Schlimm war auch der Schluss 
des letzten Teils, wie es uberhaupt schien, als ob Reinhardts Energie 
zum Ende hin erlahmt ware. Bei der geringen Zahl von Proben dtirfte 
er seine Aufmerksamkeit zu sehr auf den Anfang konzentriert haben, 
sodass manche Szenen zum Schluss hin salopp ausfielen. Dass bei 
dem Klagegeschrei der Erinnyen manche Damen allzu haufig mit der 
Stimme uberkippten, mag bei der schwierigen Akustik der grossen Halle 
entschuldbar sein, — aber der polonnaisehafte Aufmarsch der tausend 
Mitwirkenden als Endakkord der ganzen Veranstaltung wirkte operet- 
tenhaft und lacherlich. 

Die Einzeldarsteller der grossen Rollen sind ausser dem Herrn, 
der den Aegisthos zu gestalten hatte, einem geckenhaften Schreier, 
durchweg zu loben. Diegelmanns riesige Gestalt unterstutzte wirksam 
die konigliche Wurde seines Agamemnon. Die Klytemnastra war 
bei Frau Feldhammer vortrefflich untergebracht. Ihr Organ ist etwas 
hart, aber ihre Gesten und ihre majestatische Sicherheit, besonders 
in der Szene, in der sie sich als Morderin ihres Gatten bekennt und 
stolz fur ihre Tat einsteht, geben ihr Artlagen zur grossen Tragodin. 
Moissis Orestes war wundervoll. Seine Stimme ist Musik, in der Leiden- 
schaft wie schmetternde Trompete, aber auch im Fliistern noch in 
den letzten Winkel der gewaltigen Halle hinein horbar und verstand- 
lich. Neben ihm hatte es Johanna Terwin sehr schwer, die Elektra 
zu spielen. Wahrend ihrer einzigen Szene war das Theater verdunkelt, 
und um sie herum stand der Frauenchor, sodass man sie nicht sah. 
Moissi, der einzige den man auch im Finstern versteht war ihr Partner. 



— 109 — 

Trotzdem gelang es ihr, in Momenten zu fesseln und echte Empfin- 
dung mitzuteilen.*) Dass einige kluge Leute ihre Auffassung nicht 
richtig fanden, war nicht Frl. Terwins Schuld. Die assozierten nam- 
lich an den Namen Elektra die Vorstellung einer Hoffmannsthalschen 
Hysterikerin; hatten sie sich eine Uebersetzung der „Orestie" durch- 
gelesen, so wiissten sie, dass die Elektra des Aeschylos ein gefuhlvolles 
junges Madchen ist, und so wurde sie auch gespielt. — Die kostlichste 
Gabe bot Gertrud Eysoldt als Kassandra. In ihr verkorpert sich filr 
mich alle Schauspielkunst. Hier ist restlose Genialitat, innigste Ver- 
schmelzung von Sein und Gestaltung. Unbeweglich, den Kopf verbor- 
gen, kauerte sie auf des Konigs Wagen, richtete sich dann langsam 
auf, breitete plotzlich die Arme weit auseinander und stiess in gellen- 
der Verzweiflung heraus, was ihre verhangnisvolle Sehergabe sie 
schauen liess. Nie sah ich Angst und Entsetzen so wahr und so ohne 
Pose im Ausdruck eines Menschen, wie bei dieser unvergleichlichen 
Schauspielerin. Gesicht, Haltung und Stimme spiegelten das visionare 
Erleben in Kassandras Seele. Wie sie dann hinaufschritt zum Hause, 
dem Tode entgegen, selig und gepeinigt zugleich, da war es wie 
unirdischer Rhytmus in ihrem Gange und das Wunderbare und 
Mythische wurde augenscheinliche Lebendigkeit. — Ich glaube nicht, 
dass es iiber Gertrud Eysoldt hinaus schauspielerische Moglichkeiten 
gibt. Ware ausser ihr an der „Orestie"-Auffuhrung nichts gewesen, 
was hatte gelobt worden dilrfen, so ware doch um ihrer Kassandra 
willen kein Aufwand umsonst vertan. Freuen wir uns, dass das 
verfehlte Unterfangen, das tote Werk zum Leben zu wecken, uns 
Gelegenheit gab, so viel lebendige Kunst am Werk zu sehen. 



Ein paar Worte zu „Orpheus in der Unterwelt". — Das sollte eine 
Art Satyrspiel nach der Tragodie sein. Ich habe aber den Verdacht, 
Offenbachs Operette ware der „Orestie" auch gefolgt, wenn die 
Alten nicht nach Sophokles stets dem Aristophanes das Wort ge- 
geben hatten. 

Reinhardt hat schon vor funf Jahren den „Orpheus" im Deutschen 
Theater in Berlin gegeben. Ich sah ihn auch damals, und — ehrlich 
gesprochen: er gefiel mir in Berlin besser als in Mlinchen, obwohl 
dort die schonen Gesangsstimmen des Frauleins Jeritza und des Herrn 
Ritter nicht zur Verfugung standen, und obwohl der Wiener Jupiter des 
Herrn Pallenberg noch besser, lustiger, erfindungsreicher war als 
der Berliner Jupiter des verstorbenen Engels. 



*) Johanna Terwin spielte am 30. September zum letzten Male 
am Munchener Hoftheater. Es ist in Ordnung, bei dieser Gelegenheit 
eine kritische Charakteristik der ausgezeichneten jungen Klinstlerin 
zu geben. Der Raum dieses Heftes zwingt mich leider, die Leser 
damit bis zur nachsten Nummer zu vertrosten. 



— 110 — 

Aber das Stuck mit seinen vielen kostlichen intimen Reizen 
gehort auf die Buhne und nicht in die Arena. Der grosse Raum 
verschluckt die besten Wirkungen. Gewiss gelang manches ganz 
famos. Der Dreietagenbau von Olymp, Erde und Unterwelt war 
sehr hlibsch, besonders prachtig die Inszenierung der Gottergemutlichkeit 
im Olymp. Auch kam die Musik bei dem geschickt in den Fussboden 
eingebauten Orchester durchaus zu ihrem Recht, zumal unter Herrn von 
Zemlinskys Leitung die prachtvollen Melodien ausserordentlich flott 
herauskamen. Die Auffuhrung selbst war im ganzen recht gut. — Und 
doch: es war nicht das Rechte. Man hatte das Geftihl, hier geschieht Offen- 
bach Unrecht. Das Kapriziose, Launige und das Ruhrende des Werkes 
kamen zu kurz. 

Das Repertoire wird filr diese Auffuhrungen im Grossen noch 
lange ein Schmerzenskind sein. Wie ware es mit „Carmen" ? 



Bemerkungen. 



Kiew. Zar Nikolaus hat Gelegenheit gehabt, sich durch Augen- 
und Ohrenschein personlich davon zu ilberzeugen, dass die Revolu- 
tion, die er im Blute der Rebellen ersoffen wahnte, noch frischen 
Atem hat. Den getreuen Diener, der zur Leitung der Contre- 
revolution berufen war und sein Amt nilchtern, korrekt und ohne 
hemmenden Respekt vor Menschenleben und Volkswillen versah, 
hat man seiner Majestat in die Theaterloge zu Kiew Allerhochst 
zu Flissen gelegt. Die Herren Marxisten haben bereits erklart, dass 
sie jeden Gewaltakt durchaus verwerfen und alles der natilrlichen 
Entwicklung der Dinge iiberlassen mochten. Der Schuss aus Bagrows 
Revolver mag fur sie ein neuer Beweis daftir sein, dass sie mit 
alien ihren Bremsvorrichtungen an der natilrlichen Entwicklung der 
Dinge nichts zu andern vermogen. Die russische Revolution ist 
trotz der Plechanow-Fraktion der Duma nicht beendet, sondern 
steht noch in den Anfangen. Sie wird dauern, bis der Absolu- 
tismus wirklich beseitigt sein wird und auch dann nicht aufhoren, 
ehe nicht die agrarische Feudalherrschaft gestlirzt und eine menschen- 
mogliche Einteilung des Ackerbesitzers erreicht ist. Die Hinrichtung 
Stolypins durch Bagrow und Bagrows durch Stolypins Funktionare 
scheint das Signal zu neuem Anmarsch auf dem Wege der Revo- 
lution zu sein. 

Das Charakterbild Bagrows tritt aus den Zeitungsnachrichten 
nicht deutlich hervor. Dass er mit der verworfenen Horde, die 
in Russland unter dem Namen politische Polizei iiber die Gesinnungs- 
reinheit der Menschen wacht, Verbindung hatte, scheint ja der Fall 
zu sein. Wie weit er die Verraterei gegen seine Freunde trieb, 
lasst sich vorlaufig nicht ubersehen. Da er eben sein Leben fur die 
Sache der Freiheit gelassen hat, mogen psychologische Erorterungen 
beiseite bleiben. Sicher ist, dass das schwere Werk, das er auf sich nahm 
und mit erstaunlichem Mut ausfilhrte, nur in heiliger Begeisterung filr 
eine Idee reifen konnte. Bagrow hat sich mit seiner Tat auf das 
Vernehmlichste aus der Gemeinschaft des Lockspitzel-Gesindels, 
auf dem die Sicherheit des russischen Staates beruht, losgesagt, 



— Ill — 

er hat, was er vorher gefehlt haben mag, mit dem' Tode bezahlt, 
und darum soil sein Name im Gedachtnis freiheitlicher Menschen 
in Ehren fortleben. 



Wien. Es soil mal wieder der Mob, der Janhagel, das Gesindel 
gewesen sein. Wir kennen das schon: wo ernste Dinge geschehen, 
werden wegwerfende Ausdrilcke herangeholt, um sie verachtlich 
zu machen. Die Tatsache ist die, dass zugunsten begliterter Speku- 
lanten Steuern, Zolle, Grenzsperrungen dekretiert wurden, die das 
Volk nicht mehr ertragen konnte. Teuerungcn sind namlich kein politi- 
sches Manover, sondern hollisch reale Wirtschafts-Erscheinungen. 
Die daran am eigenen Leibe und an dem ihrer Frauen und ihrer 
Kinder leiden, gehen eines Tages auf die Strasse und fordern Brot 
von denen, die es ihnen nahmen. Die jagen uniformierte Sohne 
der Hungernden mit Flinten und Sabeln zwischen sie, und am Ende 
gibt es Leichen, Verwundete, Gefangene und Kerkerstrafen bei 
denen, die es nicht mehr ertragen konnten. Die Flirsprecher und 
Vertreter des Volkes aber, die zwar den Staat aus Leibeskraften 
bekampfen, sich aber mit noch grosserer Inbrunst an seiner Ver- 
waltung beteiligen, furchten fur ihr Prestige bei den ruhebedlirftigen 
Biirgern und somit fur ihr Parlamentsmandat und erklaren: Dass 
Fenster eingeschmissen, Steine auf die Soldaten geworfen, geschimpft 
und gejohlt wurde, dafiir kann das Volk nichts; das war der Mob, 
der Janhagel, das Gesindel. Damit ist dann der Staat, der in die 
demonstrierende Menge hineinschiessen liess, gerechtfertigt. Die 
Huren, die alles der Geschichtsentwicklung ilberlassen wollen, und 
die so fein zwischen der Ober- und der Unterschicht des „ Volkes" 
zu unterscheiden wissen, haben aus der Geschichte gar nichts ge- 
lernt. Sonst wiissten sie, dass die beste Kriegsmannschaft der fran- 
zosischen Revolution die Sansculottes waren. Wer grosse Massen 
demonstrativ auf die Strassen fuhrt, muss voraussehen, dass sie 
sich nicht mit mageren Resolutionen abspeisen lassen, und dass 
Leute unter ihnen sind, deren Elend so gross ist, dass sie gar 
nichts zu verlieren haben: eben die, die man bei den arrivierten Ar- 
beitern „Gesindel" nennt. Der immer wiederholte Versuch, diesen 
Allerarmsten um ihres Zornes willen Schuld aufzubtirden, muss 
den auserwahlten Leisetretern einmal deutlich als feige Gemeinheit 
angestrichen werden. Die ungeheure Rohheit, die in Wien Militar 
gegen notleidende Landsleute ausrticken liess, wird fast noch Iiber- 
boten von der Klaglichkeit der „Volksfuhrer", die aus der Teue- 
rung des Landes politische Geschafte herausschlagen wollten. 



Mainz. Die Luft riecht noch nach dem Katholikentag, und 
schon fiillt sie sich wieder mit dem Odeur betriebsamer Polizei 
Sittlichkeit. Im Prozess Hirsch sind reizende Dinge zutage getreten. 
Der Mainzer Polizei kam es eines Tages so vor, als ob manche 
Manner und manche Madchen der guten Stadt ohne behordliche 
Sanktionierung liebevolles Entgegenkommen gegeneinander betatig- 
ten. Da musste etwas geschehen, und man iiberliess die Ausmistung 
des Augiasstalles dem zarten Takt einer sittenstrengen Dame (fur 
die der ,,Vorwarts" begeisterten Lobessabber ausschleimt). Junge 



— 112 — 

Madchen wurden zu ihr aufs Amt befohlen und nach dem Intimsten 
ihres Lebenswandels befragt. Korperliche Untersuchungen wurden 
vorgenommen, um festzustellen, ob die behauptete Intaktheit des 
Hymens uberall stimme. Den Damen, die den Trieben ihrer Jugend 
gefolgt waren, wurde das Kontrollbuch angedroht. Lockspitzel mussten 
die Charakterfestigkeit allein spazierender Frauleins auf der Strasse 
versuchen.. Dienstmadchen wurden ausstaffiert, um Hebammen die 
Bereitwilligkeit, den Abtreibungsparagraphen zu verletzen, abzulisten. 
Die Polizeiassistentin war mit einem Idealismus bei der Sache, dass 
man im Zweifel ist, ob man ihren weiblichen Scharfblick oder ihre 
Weltfremdheit mehr bewundern soil. Der Staatsanwalt aber erhob 
gegen den Redakteur, der diese Dinge unschon fand, Anklage und 
beantragte eine Gefangnisstrafe von einem Jahr und 8 Monaten. 
— Ist es nicht hanebilchen, dass der Aberglaube von der ethischen 
Bedeutung der Virginitat immer noch Menschen mit eigenem Ver- 
antwortungsgefuhl behordlich belastigen darf? Ist es nicht grotesk, dass 
junge Damen, die mit Mannern, die sie lieben, Verhaltnisse haben, 
vor offentlichem Gericht als minderwertigen Charakters behandelt 
werden dilrfen? Ist es nicht unwahrscheinlich, dass es bei den 
Menschen heutzutage als unsittlich gilt, wenn liebende Menschen 
einander Liebes tun? Wird nie die Zeit kommen, wo man einsehen 
wird, dass die Geschlechtlichkeit der Menschen erst in der Vorstel- 
lung Fremder unanstandig wird? Es ist arg bestellt mit der Moral der 
Moralischen. 



Miinchen. Milnchen ist eine wunderschone Stadt in Mitteleuropa. 
Das Volk lebt friedlich vom frtihen Morgen bis in die Nacht hinein. 
Um 3 Uhr kommt der Schutzmann und schickt es zu Bett. Fur 
Bagrows und Stolypins ist hier kein Boden, und als Teuerung wird 
es nur empfunden, wenn einmal das Bier im Preise steigt. Dass sich 
aber die Sittenpolizei um die Erotik der Zeitgenossen kummert, 
kommt niemals vor. I bewahre! — — Freundlich lachelt die 
Kolossalstatue der Bavaria und segnend schwebt die Weisswurst 
in ihrer Hand liber dem festlichen Gewoge der Oktoberwiese. 



Korrespondenz. 



= = = = = Diesem Hefte hegt ein Flugblatt des „Sozia- 
listischen Bundes" bei. Es geht um Dinge, die fur die Gestaltung der 
Gesellschaft uberaus wichtig sind. Die vorlaufige Beilegung des 
Marokko-Handels tausche keinen tiber die Gespanntheit der Situa- 
tion. Das italienische Tripolis-Abenteuer ist eine neue Warnung fiir 
das arbeitende Volk, auf der Hut zu sein. Dass die Sozialdemo- 
kratie nicht die geeignete Macht ist, von der freiheitliche Wand- 
lungen zu erhoffen waren, haben die letzten 40 Jahre evident ge- 
zeigt und die letzten Wochen dick unterstrichen. Wer sich unter 
den Lesern des „Kain" fur die Anregung der Gruppe „Arbeit" des 
Sozialistischen Bundes interessiert, setze sich mit mir in Verbindung. 

Miinchen, Akademiestrasse 9. 

Erich Muhsarn. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baadersstr. 1 u. la. Geschiiftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355. 



KAIN, Heft 5. Inhalt: Sittlichkeit. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Mottl, ein Opfer der 
„Miinchener Post". — Der heilige Jatho. — Architektur und 
Behorde. — Bekanntmachung. 

jlvAUNIj Hett O. Der marokkanische Krieg. — Tagebuch aus 
dem Gefangnis. — Aus dem Miinchner Zensurbeirat. Offener 
Brief von Frank Wedekind. — Schiesse bei Zeiten. — Zweierlei 
Masskriige. — Walhalla. 



Pregrelationsbureau „ftanfa" 

irinih. ami Dloablt em BCflttl NW ij ♦ ftolflelnfr ufrr 7 <8> 
Jnh.: Jim. III. Kruuff 

iiefcrt allc naftnditrn tiber 

Kunft, literatur, roiffenfftaft 

(iinifii — uollftandig — preisroert. 

flttademifd) und literarifdj gebildete i'ehtoren. 
Uorziiiilidie Organlfation t 



Bitte hier abzutrennen. 



Biicherzettel. 



An 





Mit 


3 


Pfennig 




ZU 


frankieren. 



Don 

enft mu&fatn 

crfdiifncn folgendt BU$cr. 



OlC tDUftC* etdidjte. i9M. m. 2,-w. 

DCt KtdtCt* ecflifljtt. 1909. m. 2.- 

BlC l?Odt)Jt^plCr* luflfpiel. 1906. nu.- 

Zu hrzirljrn durrti ictlr Buttiljaiidliing unci dm 
Kdin Dfrlag, miuirtjrn, Baadcrftrafle la. 



Bitte hier abzutrennen. 



Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



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*) Nicht gewiinschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgang I. No. 8. November 1911. 

KMN 

Zeit/chriftfur 

rWch(fcht\eir 

HemuJgeber; 




Inhalt: Justiz. — Tagebuch aus dem Gefangnis. — 
Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Der Kausen. — 
Zeitfragen. — Tripolis und China. — Unser Bittinger. 



Kain-Verlag Miinchen. 

30 Pfa. 



In einigen Wochen erscheint im KAIN- 
VERLAG zum ersten Male der 

Kain-Kalender 

fiir das Jahr 1912. 

Samtliche Beitrage sind vom. Heraus- 
geber des „Kain", ERICH MUHSAM. 

Der Kalender enthalt ernste und hu- 
moristische Arbeiten in Prosa und 
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und 
satyrische Gedichte, Aphorismen, 
Dramatisches u. s. w., u. s. w. 

Dem Kalender wird das Bild des Yerfassers beigegeben. 



Der Preis betragt fiir das 
Einzel - Exemplar 1 Mark. 



Bestellungen nehmen jetzt schon entgegen die Buch- 

handlungen und der „KAIN-VERLAG", Munchen, 

Baaderstrasse la. 



Jahrgang I. Miinchen, 

No. 8. November 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit 

Herausgeber: Erich Miihsam. 



man„i.,i,.|„i„ l , l |„i„ l „n„i„ l ,i„i„ t ..i..|..t„i.,i.,i„i . ii.ii.nn.iiiiMi i .n. 1 1 ,n.ii..i. 11 II. 1 . 1 . i . , i..4.,im|„i.,., 
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
ltir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 
Miinchen, Baaderstrasse la 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

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Justiz. 

Und Adam ass von dem Apfel, und seitdem wissen 
die Menschen, was Gut und Bose ist. Auf dass diese 
Kenntnis nicht wieder in Vergessenheit gerate, gab Gatt 
ihnen die zehn Verbote, die von zwei steinernen Geset- 
zestafeln abzulesen waren. Die Entwicklung eilte mit ge- 
waltigen Schritten weiter, und heute halten wir schon bei 
370 Paragraphen, aus denen der rechtliche Deutsche ent- 
nehmen kann, was er tun darf und was sich nicht schickt. 
Wer es trotzdem nicht weiss, wird mit Geldstrafe oder 
Haft, mit Gefangnis oder Zuchthaus, hie und da auch mit 
dem Tode bestraft. 

Der § 1 des Strafgesetzbuches fur das Deutsche Reich 
enthalt die furchtbarste Wamung von alien. Er lautet: 
„Das Strafgesetzbuch fur das Deutsche Reich tritt im 
ganzen Umfange des Bundesgebietes mit dem 1. Januar 
1872 in Kraft". Der sechste und letzte Abschnitt des § 370 
lautet: ,JVIit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft 
wird bestraft ... 6) wer Getreide oder andere zur Fiit- 
terung des Viehes bestimmte oder geeignete Gegen- 



— 114 — 

stande wider Willen des Eigentiimers wegnimmt, um des- 
sen Vieh damit zu futtern". Was in den dazwischen ran- 
gierten Paragraphen steht, wird sich der nachdenkliche 
Mensch hiernach allein sagen konnen: Es ordnet die Bezie- 
hungen der Staatsbiirger zu einander nach strafbaren Hand- 
lungen. Wer also von einem undurchdringlichen Schick- 
sal dazu bestimmt wurde, den Dornenweg des Lebens in 
einem der 26 verbiindeten Vaterlander zu gehen, wird so- 
mit gut tun, sich jeden Schritt 370 mal zu iiberlegen: kein 
Wunder, dass unter diesen Umstanden der Fortschritt 
bei uns so kolossal rasch vorankommt. 

Bedenkt man, dass es neben dem Strafgesetzbuch noch 
ein dickleibiges Biirgerliches Gesetzbuch gibt, ein Vereins- 
gesetz, ein Gewerbegerichtsgesetz, ein Invalidenversiche- 
rungsgesetz, besondere Urheberrechtsgesetze und was 
weiss ich noch alles, so diirfte wohl die Annahme berechtigt 
scheinen, dass der Richter, dem ein Sunder gegen einen 
Paragraphen eines dieser Biicher vorgefuhrt wird, bloss 
den Finger nass zu machen braucht, um sofort zu wissen, 
wie lange er inn einsperren zu lassen hat. Bei der leidigen 
Unvollkommenheit des menschlichen Geistes ist das jedoch 
nicht der Fall. Vielmehr beginnt die Schwierigkeit erst, 
wenn PoUzei, Ermittlungsrichter, Untersuchungsrichter um 
Staatsanwalt dem Richter langst gesagt haben, was los ist, 
wenn der Delinquent womoglich schon monatelang als 
Untersuchungsgefangener auf die Strafe, die seiner viel- 
leicht harrt, trainiert ist, und wenn nun dem armen Richter 
zugemutet wird, auch noch in die Seele des Angeklagten 
zu steigen, um das Wieso und Warum und das Dmm 
und Dran seines Tuns herauszukriegen. Diese Bemiihung 
nennt man einen Prozess, und erst dadurch, dass sie Pro- 
zesse fiihrt, erhalt die Justiz bei den Biirgern und Biirger- 
innen des Landes ihre Weihe und die Bestatigung ihrer 
Notwendigkeit. 

Derm Prozesse kommen in die Zeitungen, aus Prozes- 
sen lernt man die Unterwasche der Nebenmenschen taxie- 
ren, aus Prozessen erfahrt man, mit wem der andere be- 



— 115 — 

freundet oder verfeindet ist, und was seine Freunde und 
Feinde fur eine Sorte Leute sind. 

Welch prachtiger Fall war der Prozess des Grafen 
Wolf-Metternich! Der Mann hat Schulden gemacht, hohere 
Schulden, als er in kurzer Zeit hatte zahlen konnen. Ob 
das Betrug ist? Kein Mensch konnte es wissen. Das 
Reichsstrafgesetzbuch, an dessen Auslegung seit 40 Jahren 
allerorten die riihrigsten Richter und in Leipzig mit roten 
Talaren behangene Reichsrichter arbeiten, weiss auch nichts 
Gewisses. § 263: „Wer in der Absicht, sich oder einem 
Dritten einen rechtswidrigen Vermogensvorteil zu verschaf- 
fen, das Vermogen eines andern dadurch beschadigt, dass 
er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstehung 
oder Unterdriickung wahrer Tatsachen einen Irrtum er- 

regt oder unterhalt, " : Schwieriger Fall. Man musste 

feststellen: Konnte der Graf glauben, das Geld zu krie- 
gen, auf das hin er pumpte? Von wem hatte er glau- 
ben konnen, dass er es kriegen wiirde? Mit wem ver- 
kehrte er? Wie verkehrte er, mit wem er verkehrte? 
Wer verkehrte noch, wo er verkehrte? War es verkehrt, 
dass er verkehrte, wo er verkehrte? Warum verkehrte er, 
wo es verkehrt war zu verkehren? Und solcher Fragen 
mehr gab es zu entscheiden. 

Auf diese Weise kam dann alles ans Licht: dass Frau 
Gertrud Werfheim, eine Uterarische Schwermillioneuse, 
einen aristokratischen Schwiegersohn suchte; dass sie zu 
diesem Behufe unendhche Gelder springen liess, die einige 
Tausend Warenhaus-Verkauferinnen erarbeiten mussten; 
dass Dolly sich gern kiissen liess; dass Mama und Tochter 
nicht immer zartlich zu einander waren; dass dem Grafen 
Vetter auf Regimentsbefehl die heisse Liebesglut erlosch, 
die an Dollys Busen und an Mamas Schatulle geschiirt 
war; dass der Generalmajor v. Pauli diese Wiirde nur 
in Honduras besessen hatte, jetzt aber mit Orden, Heirats- 
lustigen und Kriegserinnerungen hausiert; dass Martha 
Gustke ihr horizontal verdientes Geld dem Dailes-Grafen 
vertikal in den Rachen warf, und dass es zwischen Him- 



— 116 — 

mel und Erde, zwischen Berlin W. und Berlin Friedrichs- 
strasse Dinge gibt, die jeder kennt, und vo„ denen sich 
die Schulweisheit unserer Journalisten nichts traumen 
lasst. 

Das alles kam an den Tag, und der Familienstank im 
Hause Wolf-Metternich und der Familienstank im Hause 
Wolf Wertheim zog, zu lieblichem Sensations-Odeur ge- 
mischt, in die Nasen derer, die mit sich und ihrem Wandel 
zufrieden sein diirfen, solange ihren Nachtgeschirren keine 
Prozessakten entflattem. 

Man verlange von mir keine moralischen Unkenrufe 
wegen der in dem Berliner Prozess sichtbar gewordenen 
Korruption. Es fallt mir gar nicht ein, mich dariiber zu 
emporen, dass irgend ein degenerierter Graf, der nie arbei- 
ten gelernt hat, dessen Herkunft und Erziehung ihn zu 
glauben berechtigten, miiheloser Genuss sei sein Privileg, 
mit einem Monatswechsel von 30 Mark nicht auskommen 
konnte, das Geld hernahm, wo er es kriegen konnte, 
a tout prix eine reiche Frau anstrebte, und sich inzwischen 
so undifferenziert, wie es in seiner Klasse iiblich ist, amii- 
sierte. Es fallt mir nicht ein, mich dariiber zu emporen, 
dass Madame Wertheim ihre Dolly lieber die Maitresse eines 
Fiirsten sein lassen wollte, als die Ehefrau irgend eines 
Herrn Maier: Vulgarster Parvenue-Ehrgeiz. Es fallt mir 
nicht ein, mich dariiber zu emporen, dass Herr von Pauli 
seine patriotische Vergangenheit und seine hohen Bezie- 
hungen so lukrativ wie moglich verwertet. Es fallt mir 
nicht ein, mich dariiber zu emporen, dass Fraulein Gustke 
auf Grand ihrer Korperreize KavaUere wurzt, und mit 
dem Ertrag ihrer Tatigkeit einen dieser KavaUere zu Dolly 
auf Brautschau schickt. Das ist doch alles nichts Neues, 
nichts Uberraschendes, nichts, was jemand, der den Gross- 
stadtbetrieb halbwegs kennt, verwundern konnte. 

Faulniserscheinungen? Gewiss. Aber doch eben nur 
Erscheinungen, Symptome, Beispiele einer in ihrer tiefsten 
Wurzel faulen Gesellschaft, die keine Gesellschaft, kein 
Volk, keine Menschengemeinschaft ist, sondern ein wines 



— 117 — 

Nebeneinander und Gegeneinander von adversaren Zir- 
keln und Interessengruppen. Wenn es da, wo sich ein 
Gesellschaftskreis, in dem blaues Blut fliesst, und einer 
mit rotem Blut schneiden, Klexe gibt — wen soil denn 
das verbliiffen? Das sieht der wache Mensch doch jeden 
Tag und uberall. Davon lebt doch die Justiz, daraus ent- 
nimmt ja das Strafrecht ihre einzige Existenzberechtigung. 
Klexe auszuradieren, die aus dem verriickten Durcheinan- 
dergekritzel mit verschiedenfarbigen Tinten entstehen, das 
ist doch die ganze Beschaftigung der „Rechtspflege". 

Was mir den Prozess des Grafen Wolf-Metternich so 
interessant macht, das ist die Beobachtung, wie sich in der 
Aufmerksamkeit der beteiligten Personen und des unbe- 
teiligten Publikums der Gegenstand der Verhandlung nach 
und nach vollig verschob. Ob der Angeklagte des Betru- 
ges schuldig gefunden oder freigesprochen wiirde, das war 
ausser ihm selbst und den paar Juristen, deren RabuUstik 
engagiert war, jedermann egal. Das Tribunal ward zur 
Szene. Vom Parkett aus applaudierte man dem Sittenstiick, 
in dem die Chargen die dankbarsten Rollen zu spielen 
hatten. 

Warum ist der Graf eigentlich verurteilt worden? 
Weil der Staatsanwalt bewiesen hat, dass er ein Betriiger 
war. Aber die Verteidiger hatten uns Laien ebenso iiber- 
zeugend bewiesen, dass er kein Betriiger war. Es kam nur 
auf die Auffassung des Gerichts an. Ware der Mann in 
Freiheit gesetzt worden, so gabe es keinen Menschen, 
der dadurch die Rechtssicherheit des Staates, der Gesell- 
schaft, des Volkes im Allergeringsten gefahrdet sahe. Man 
hatte das Theater mit genau derselben behaglichen Be- 
friedigung verlassen, die ein aufregender Film zuriicklasst, 
wie nach der Verurteilung. Ich hege die starksten Zweifel 
daran, ob jemals irgend eine Verurteilung irgend eines 
noch so verbrecherischen Menschen irgend einer Gesell- 
schaft geniitzt hatte. 

Die Jurisprudenz — einmal als Wissenschaft genom- 
men — hat die Aufgabe, das Recht zu suchen, wie die 



— 118 — 

Philosophic die Aufgabe hat, die Wahrheit zu suchen. 
Wir wissen alle, ob wir gottglaubig sind oder nicht, dass 
das Suchen nach Recht und Wahrheit immer nur eine 
spekulative Beschaftigung unterschiedlicher Gemiiter blei- 
ben muss, und dass weder Recht noch Wahrheit jemals 
objektive Werte werden konnen. Die Anwendung der 
durchaus relativen Ergebnisse des Suchens nach dem Recht 
auf das praktische Leben, diese Uebung, die sich als 
direkter Eingriff in Freiheit, Selbstbestimmung und Leben 
des einzelnen Menschen aussert, muss daher notwendig; 
zur Gewaltsamkeit, und das heisst nach aller iiberliefer- 
ten Moral zum Unrecht fuhren. Auch als notwendiges 
Uebel zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Be- 
ziehungen unter den Menschen ist die Justiz nicht anzu- 
erkennen. Strafen wirken — das weiss jeder Jurist — weder 
bessemd noch abschreckend, und das Strafen als Rache- 
iibung der Gesamtheit gegen den Einzelnen widerspricht 
dem sittlichen Empfinden aller Ethiker. 

Da hingegen die Unzutraglichkeiten, die sich aus der 
Willkur der Einzelnen ergeben, offensichtlich sind, gibt 
es nur eine Moglichkeit, ohne die Ungerechtigkeit jeglicher 
Justiz Recht und Ordnung zu schaffen: namlich eine Ge. 
Seilschaft zu errichten, in der das Interesse des Einzelnen 
nicht fortgesetzt mit den Interessen der Gesamtheit kolli- 
diert, in der das Individuum respektiert wird, in der 
nicht geknechtet und kein Anerkennen verhasster Ge- 
setze erpresst wird, eine Gesellschaft, in der der Zwang 
der Gesetze durch die Freiwilligkeit des Vertrages ab- 
gelost ist. Diese Gesellschaft wird politisch eine anar- 
chische, wirtschaftUch eine sozialistische sein. 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Die Tur wird aufgeschlossen, aufgerissen: „Lampe!" ruft eine 
heisere, leidende Stimme. Ich sehe mich um. Neben dem Aufseher 
steht ein Strafling, mit dunkelm, hangendem Schnurrbart, in der Hand 
eine brennende dilnne Fackel. Ich begriff, ging zur Lampe, um sie 



— 119 — 

aus ihrem Gestell zu nehmen. Der Gefangene kommt ungeduldig 
herein und zeigt mir, dass man das ganze Gestell von der Wand 
nimmt. Er ziindet den Docht an, die Tiir schliesst sich wieder, ich 
hange die brennende Lampe an den Nagel und sinne weiter. Die 
Idee, die Gruppe Tat, die in jeder Nummer des „Sozialist" annon- 
ciert war, sei ein Geheimbund, ist absurd. Dartiber, dass ich die 
Kunden zu uns heranziehe, habe ich vor Monaten schon im „Sozia- 
list" in einem ausfiihrlichen Artikel berichtet. Das Blatt ist den 
Miinchener Behorden keineswegs unbekannt. Wo soil der Verstoss, das 
Vergehen liegen? Unklar, hochst unklar. Und worauf mag sich der 
Verdacht stiitzen? Auf Zeugenaussagen? Auf wessen? Auf was ftir 
welche? — Habe ich nicht vielleicht doch mal den Rat erteilt: 
Schmeisst Bomben!? — Nein! Gewiss nicht! Niemals! Unmog- 
lich! — Es hat mir von jeher widerstrebt, andern etwas zu raten, 
was ich nicht gegebenen Falles auch selbst tate! — Schon auf der 
Schule, als Quartaner, als Tertianer: was an dummen Streichen ge- 
schah, das war ich gewesen; aber ich war es immer selber gewesen, 
habe niemals andere vorgeschickt. Das ist eine Anstandigkeit in 
meinem Wesen, deren ich mich vor mir selbst riihmen darf. Und jetzt 
soil ich plotzlich Anstifter sein und mich selbst drucken? Der Vor- 
wurf ist absurd, lacherlich, kann mich nicht treffen! — Die Frei- 
lassung aus diesem Loch kann nicht; ausbleiben. — Und wenn sie 
doch ausbleibt? Immerhin: wenn's zur Verhandlung kommt, muss, 
muss, muss ich freigesprochen werden! — Freilich: Und Ziethen? — 
— Und Koschemann? — Und Dreyfuss? — Und die vielen, die 
Hunderte, die Tausende, die beteuern und versichern, sie wiissten von 
nichts und werden doch verurteilt!? — Und wer wird zu Gericht 
sitzen ilber mich? Gute Burger, mit korrekter Moral, mit nie schwan- 
kendem Wissen von Gut und Bose, mit nur dem einen Antrieb, dem 
Staat, ihrem Brotgeber und Seelsorger nach bestem Gewissen zu 
dienen. Und ilber wen sollen sie zu Gericht sitzen? Ueber einen 
Biirgerssohn aus guter Familie, der rlicksichtslos die beste Erziehung 
von sich wirft, der sich gemein macht mit Landstreichern und Ein- 
brechern, der mit Zuchthauslern die Flasche leert, der anarchistische 
Agitation treibt seit Jahren und sich schon zwei Vorstrafen zugezogen 
hat bei diesem Tun! — Wenn in unsern Sitzungen Spitzel waren — 
und dass solche dabei waren, steht mir ausser Zweifel, — kann ich 
ermessen, wie weit ihre Erfindungsgabe reicht? — Beschwort so ein 
Hund, ich habe das Bombenwerfen empfohlen, — was dann? — Dann 
bin ich geliefert. 

Wieder ging die Tiir auf. „Essnapf!" befahl eine Stimme. Ich 
nahm ihn vom Spind. Vor der Tiir standen zwei Gefangene, die einen 
machtigen Bottich mit dampfender Kartoffelsuppe trugen. Dass es zum 
Abendbrot Kartoffelsuppe geben wiirde, hatte mir schon Giesmann 



— 120 — 

verraten. Mit einem riesigen Schopfloffel filllte man mir den Essnapf, 
ein Haftling uberreichte mir ein kolossales Stlick von dem gleichen 
glitschigen Brot, wie ich es im Polizeigefangnis bekommen hatte, dann 
iiberliess man mich der Mahlzeit, ilber die ich hungrig herfuhr. Ich 
liess auch nur einen ziemlich kleinen Rest von der Suppe stehen, 
die mir zu schwer war, ohne dass ich das Geftthl hatte, sie sei das, 
was meinem Magen fehle. — Kurz nach dem Essen erscholl eine 
grosse Glocke .... Das Glockenzeichen bedeutete: Schlafengehen! 
— Es war also 7 Uhr. Ich loste das Bett, das Giesmann sorgfaltig 
wieder an die Wand geklappt hatte, mit Mlihe von seinem Haken, 
zog mich aus und legte mich hinein .... Auch die Lampe loschte 
ich noch vor dem Hinlegen aus. So begann also die zweite Nacht 
meiner Gefangenschaft. — Das Lager war wieder entsetzlich hart, 
und die Bisse und Blasen, die mar die vorige Nacht zugefligt hatte, 
meldeten sich alle mit schrecklichem Jucken. Ich kratzte mich, wo 
ich hinlangen konnte, und wahrend es mir vorkam, als kroche eine 
Armee von Wanzen, Lausen, Milben und allem Ungeziefer auf 
meinem Leibe herum krochen durch mein Gehirn Schwarme fieber- 
hafter Vorstellungen und Bilder. Erinnerungen und Namen, Ge- 
sichter und Laute sammelten sich um mich in wildem Durcheinander. 
Nahe Und feme Menschen erschienen, Freunde und Feinde, Zeugen 
meiner Kindheit und dieser letzten Tage, und wahrend ich einmal 
aufgeregt und geangstigt von der Pritsche sprang, fliisterte ich 
wenige Sekunden darauf zartliche Namen, und Sehnsucht und Furcht, 
Liebe und Wut, Schmerz und kindliche Ergebung spielten Fangball in 
meinem Geist, jagten sich herum und warfen immer neue Erinne- 
rungen, Hoffnungen, Zartlichkeiten und Sehnsuchte in mein Be- 
wusstsein. Alle, alle kamen sie zu mir, die traurigen und frohlichen 
Zeugen meines Erlebens, tote und lebende, schmerzliche, liebe und 
slisse Namen .... Spat, spat in der Nacht erst beruhigte der 
Schlaf die zerzausten Nerven. Wie spat es war, weiss ich zwar nicht. 
Denn die Kirchturmuhr im Polizeigefangnis kann man in meiner 
neuen Klause nicht horen. 



Sonnabend, den 6. November 1909. 

Es ist schon der dritte Tag, seitdem ich diese Tagebuch Auf- 
zeichnungen begann, und ich komme erst zum dritten Tage meiner 
Gefangenschaftserlebnisse, bin also immer noch um eine Woche 
weniger einen Tag hinter mir. Der Abstand wird sich freilich von 
jetzt ab wohl verringern, denn an Stelle des wilden Durcheinanders 
und der immer neuen Eindrucke am Abend der Verhaftung und am 
Tage der Ueberflihrung vom Polizei- ins Gerichtsgefangnis tritt nun 
allmahlich die Gewohnung an eine Hausordnung, die trockene Regel- 



— 121 — 

massigkeit im Rhytmus der „Normalzeit der Sternwarte", die nur 
hier und da durch eine kleine zu registrierende Besonderheit unter- 
brochen wird. 

Ich setze meinen Bericht chronologisch fort. Aus dem unruhigen 
Schlaf auf meinem harten Lager in dieser ersten Nacht, die ich in 
der Zelle 42 zubringen musste, weckte mich der Larm derselben 
Glocke, die mich am Nachmittag vorher belehrt hatte, dass die Tages- 
zeiten im Gefangnis anders eingerichtet sind als in der Freiheit, und 
dass man hier schlafen gehen muss, wenn man sonst noch kaum an 
das Programm denkt, mit dem man den Abend hinbringen will. 
Die Zelle war schon ziemlich hell, denn es war Sonntag, und in der 
„Verhaltungsvorschrift" hatte ich gelesen, dass an Sonn- und Fest- 
tagen erst um 7 Uhr frilh aufgestanden wird. Kaum hatte es gelautet, 
als ich in den Nebenzellen schon gerauschvoll die Pritschen an die 
Wand klappen horte. Ich erhob mich also ebenfalls und befestigte 
das Lager, zog mich an und harrte des Weiteren. — Draussen wurde 
es lebhalt. Ich horte Schlilssel klirren, Tliren aufreissen, Stimmen. 
Meine Zelle wurde weit gebffnet, und ich sah etliche Menschen daran 
vorbeieilen, jeder sein Steingutgeschirr mit Metalldeckel in gestreckten 
Armen vor sich hertragend. 

Fortsetzung folgt. 



Miinchner Theater. 
Johanna Terwin. 

Als in Mlinchen bekannt wurde, dass Johanna Terwin, die 
ugendliche Charakterspielerin des Residenztheaters, zu Reinhardt 
nach Berlin gehen solle, bedauerte man ihren Entschluss um des 
Verlustes willen, der der Mlinchener Schauspielkunst bevorstand, 
freute sich aber fur die Kunstlerin, der nun zum raschen Aufstieg, 
zu Ruhm und weithallender Anerkennung der Weg offen schien. 
Bei ihrem Abschiedsauftreten als Nora war die Stimmung eine andere. 
Wir Freunde ihrer Begabung sahen sie mit einiger Besorgnis 
durch den Wald von Kranzen und Blumen abgehen, und spurten 
Dangen Zweifel, ob Nora da draussen das Wunderbare finden werde, 
zu dem sie Sehnsucht und Ehrgeiz zog. 

Es hiesse der Mlinchener Buhne und dem Milnchener Publi- 
kum unrecht tun, wollte ich den Vergleich weiter Ziehen und das 
Residenztheater mit dem Hause Helmers in Parallele stellen. Denn 
keineswegs stand man hier den Bemuhungen des jungen starken 
Talents philistros und verstandnislos gegenliber. Im Gegenteil muss 
betont werden, dass die btirgerliche Oberschicht Milnchens, die 
das einsichtigere Theaterpublikum stellt, weitaus gerechter, sach- 



— 122 — 

licher und mit viel weniger Voreingenommenheit Biihneneindrucke 
aufnimmt, als die aus der Snob-Menagerie ausbrechenden Premieren- 
tiger, die sich auf die Berliner Theater zu stiirzen pflegen. Auch 
die ziinftigen Kritiker sind in Miinchen weniger gefahrlich als in 
Berlin, nicht weil sie intelligenter waren — das Gegenteil ist der 
Fall — , sondern weil sie nicht wagen, sich mit dem Publikum in 
Widerspruch zu setzen, und sich mit gleichgilltigem Herumschmusen 
um das Theaterstlick und die Darstellung begnligen. In Berlin 
dagegen flihlt sich jeder Kritiker (und jeder Premierenkommis) als 
Schicksal, und das Urteil, das meistens eine Verurteilung darstellt, 
ist nach einem ersten Eindruck fertig und wird, in Witzchen und 
Apercues eingewickelt, den hoheren Tochtern des Tiergartenviertels 
zum Fruhstiick serviert. 

Fraulein Terwin hat das, schon ehe sie uns dauernd verliess, 
schmerzlich erfahren mlissen. Bei einem Gastspiel des Neuen Ver- 
eins in Berlin spielte sie die Lulu in Wedekinds „Buchse der Pan- 
dora", eine Rolle, in der sie hier vor einem Jahre einen Riesen- 
erfolg hatte. Mag sein, dass ihre Leistung in Berlin hinter der 
Mlinchener weit zurlickstand, dass der fremde Ort, die Anstrengung 
der Reise, die Empfindung der skeptischen Ktihle des Auditoriums 
ihr die Stimmung verdarb (zum Gelingen oder Misslingen einer 
Auffilhrung wirken tausend Imponderabilien mit)) jedenfalls konn- 
ten am Tage nach der Auffilhrung die Berliner in ihren Zeitungen 
lesen, Jahanna Terwin sei eine minderbegabte Dame, ohne Organ, 
ohne Eigenart und ohne die Fahigkeiten, die das anspruchsvolle 
Berlin von den Kraften seiner ersten Theater fordern dlirfe. Sie 
hatte sich damit trosten konnen, dass mit ihr zugleich auch Stein- 
rucks Schigolch und die ilbrigen Mlinchener Gaste verrissen wurden, 
und dass das ganze Gebaren der Kritik peinlich nach Partiku- 
larismus aussah — es ist aber sehr natiirlich, dass eine solche 
Begrilssung, wie sie Frl. Terwin nach ihrer ersten Vorstellung 
erfuhr, ein junges, vorwartsstrebendes Talent dekouragiert und lahmt. 
Ich glaube deshalb recht zu tun, wenn ich Herrn Professor Reinhardt 
beim Eintritt der jungen Dame in sein Theater-Ensemble warne, 
eine starke Begabung, der zur Vollendung gewiss noch viel fehlt, 
die aber eine reiche Zukunft verspricht, mitten in der Entwicklung 
zu vernachlassigen, und wenn ich ihm sage, wie das beste Theater, 
publikum, das sich Reinhardt nur wiinschen konnte, die Leistungen 
der Terwin nach zweijahriger Beobachtung einschatzt. 

Ihre ganze Wesensart pradestiniert Johanna Terwin zur Dar- 
stellung differenzierter Frauencharaktere. Aeusserlich und innerlich 
hat sie nichts heroinenhaftes: eine nicht grosse, schmachtige Figur, 
ausdrucksvolles Gesicht (die Terwin hat viel Aehnlichkeit mit Irene 
Triesch), grosse Geschmeidigkeit und viel naturlicher Charme in 



— 123 — 

Ausdruck und Bewegung. Die starke Bewusstheit in ihrer Spiel- 
technik erinnert eher an die Durieux als an die Eysoldt. Die Frauen, 
die sie zu beleben hat, stellt sie als graziose, aber sehr durchsich- 
tige und irdische Gestalten auf die Btthne. Diese rationalistische Ver- 
anlagung erzieht zu klugem Durchdenken der schauspielerischen 
Aufgaben und verhindert ein allzufestes Vertrauen auf Eingebung 
und Instinkt. Andererseits liegt die Gefahr nahe, dass die Leichtig- 
keit des Spiels und mithin die notwendige Unbefangenheit und 
Sicherheit des Auftretens unter zu grosser Sorgfalt und Bedenklich- 
keit leiden mag. Gerade hierin trat bei der Terwin das Anfangerhafte 
manchmal storend in die Erscheinung. Aber es muss betont werden, 
dass sich bei ihr, wenn eine fleissige Regie sich um sie be- 
klimmert hatte, alle Unbeholfenheit vollig verlor, und dass sie 
dann Leistungen bot, die nicht nur technisch einwandfrei, sondern 
auch durchaus originell und von starker personlicher Farbung waren. 
Ich denke an ihre Milde Wangel: da kam das Andeutende, 
Symbolhafte der Figur entschieden zu kurz. Aber die Terwin machte 
die Rolle menschlich liebenswurdig, sie spielte sie als Schwabinger 
Kunstmadel mit Schnecken vor den Ohren, frisch, stark und lebendig, 
und so wurde, da Steinrlicks Baumeister Solness zugleich eine 
eminente schauspielerische Leistung war, das unsympathischste aller 
Ibsen-Dramen zu einer kilnstlerischen Sensation. 

Viel erschopfender noch holte die Terwin den Charakter der 
Pauline Piperkarcka in Hauptmanns „Ratten" aus. Diese dumpfe, 
willenlose, beschrankte polnische Proletarierin war ungeheuer glaub- 
haft, die Ausbriiche der Verzweiflung, die tierhafte Liebe zu ihrem 
Kind, das stumpfsinnige Flennen unter den Misshandlungen der 
John konnten nicht besser getroffen werden. In dieser ganz natura- 
listischen Rolle zeigte Johanna Terwin ganz grosse Anlagen, die nie 
und nimmer vernachlassigt werden dttrfen. 

Ihren starksten Erfolg hatte sie in Shaws „Caesar und Cleo- 
patra", diesem ironischen Heldendrama, das unter Steinriicks Regie 
zu einer wirklichen Kunsttat des Residenztheaters wurde. Die Ter- 
win sah entzlickend aus als die kleine Konigin, die sich vor dem 
grossen Casar zwischen den Vorderbeinen der Sphinx versteckt halt, 
die mit ihrem kleinen Bruder, dem Gegenkonig, zankt, die mit den 
Kopfen ihrer Untertanen spielt wie mit Puppen, und die dann, von 
Casar zum Weibe gemacht, zur Katze und Schlange wird — ein 
halbes Kind noch, aber schon ein ganzes Biest. — Es ist sehr schwer, 
Shaw zu spielen, so zu spielen, dass man seine Unfreiheit den 
eigenen Freiheiten gegenuber nicht merkt. Nimmt man diesen Dra- 
matiker namlich unter die Lupe, so erkennt man erstaunt einen ge- 
reckten Philister, der sich vor die Brust schlagt und ausruft: 
„Seht mal, was ich fur freche Sachen treibet" — In Wahrheit stellt 



— 124 — 

er sich auf die Zehenspitzen, um liber seinen eigenen Horizont kucken 
zu konnen. (Dies nebenbei.) Wie gesagt: Die Terwin gab der Cleo- 
patra soviel lebendigen Charme, dass durch sie (und durch Stein- 
nicks prachtigen Casar) Shaws keineswegs einwandfreies Stuck seht 
grossen, verdienten und anhaltenden Erfolg hatte. 

Es soil hier nicht jede einzelne ihrer Leistungen nachtrag- 
lich seziert werden, ebensowenig beabsichtige ich, die Kunstlerin, 
die sich selbstverstandlich auch in Berlin erst durchsetzen muss, 
vorzeitig aufdringlich zu plakatieren. Aber ich mochte verhiiten 
helfen, dass die Veranderung ihres Betatigungsfeldes etwa zur Stag- 
nation ihrer Entwicklung, fuhre. Was Johanna Terwin noch immer 
sehr not tut, ist Regie, liebevolle, strenge und auf ihre Art ein- 
gehende Regie. Hier hatte sie die Herren Steinriick und Basil als 
Heifer und Lehrer, mag sie sich in der Hoffnung, unter Max Rein- 
hardts personlicher Obhut zur Hohe ihrer Fahigkeiten zu gelangen, 
nicht getauscht sehen. Reinhardt hat damit, dass er die Terwin 
engagierte, den Munchener Theaterbesuchern gegenuber, die auf 
sie hoffen, eine Verpflichtung ubernommen. Kommt er dieser Ver- 
pflichtung nicht nach, so vergeht er sich gegen die ideale Forde- 
rung der Kunst, dass dem wirklichen Talent die Wege geebnet wer- 
den mlissen. Johanna Terwin braucht noch Hilfe, aber sie verdient 
sie auch. So empfinden hier viele Leute, die im Theater eine Kul- 
tureinrichtung erkennen, und dieser Empfindung wollte ich Ausdruck 
geben. 



Bemerkungen. 



Der Kausen Es ist zu befiirchten, dass seine Ausrottung sobald nicht ge- 
lingen wird. Immerhin moge er sich vorsehen. Es sei ihm heute mit- 
geteilt, dass ihm hier fortan etwas nachdrticklicher zugesetzt werden 
soil, als er es bisher gewohnt war. Dass er gegen mich frech ge- 
worden ist, ist nicht der Anlass, ihn zu besehen, nur fiir dieses Mai 
der Vorwand. Was zeigt sich bei der Besichtigung ? Ein Denun- 
ziant. Der Kausen wird diese Bezeichnung nicht sonderlich krankend 
empfinden: darauf ist es auch nicht abgesehen. Man stupft einen 
Pintscher nicht mit der Schnauze in seine Hinterlassenschaft, damit 
er gekrankt sei, sondern damit er sich es abgewohne. Ein Denun- 
ziant also, ein berufsmassiger, gewohnheitsmassiger und schon ein 
wenig monomanischer Denunziant, und zwar betreibt er diese Spezies 
in Sittlichkeit. Das ist ein lohnender Artikel. Gott im Himmel, 
was kann ein Mensch nicht alles denunzieren, wenn er sittlich ist! 
Es gibt ja soviel Sauerei auf Erden ! — Wir Unsittlichen wissen 
das garnicht, aber der Kausen sammelt Sauereien, er hat eine wahre 
Sammelwut darauf. Er schnuppert solange an seinen Mitmenschen 



— 126 — 

herum, bis er eine Sauerei wittert, die ergreift er, begiesst sie mit 
Moralsauce und lauft einerseits zur Redaktion seiner „Allgemeinen 
Rundschau", wo er sie annonciert, andererseits zum Telefon, wo er 
sie dem Staatsanwalt denunziert. Das Verfluchte ist: es sind wirklich 
immer Sauereien, die er heranschleppt. Ursprunglich zwar sind es 
meistens saubere Dinge, die den Nichtdenunzianten erfreuen und 
erheben, — aber hat der Kausen sie lange genug in seiner Phantasie 
herumgewalzt, so kann der unmoralischste Mensch ihnen den Charak- 
ter des Schweinischen nicht mehr abstreiten. Es ist so: man fiihlt 
sich formlich schmutzig werden, wenn einen jemand mit recht 
dreckigen Blicken anglotzt. Man konnte ja so einem Menschen aus 
dem Wege gehen, aber wenn er fortwahrend hinter einem herschreit: 
„Sie Schwein! Sie Schwein!" — dann wurmt's einen doch schliess- 
lich, man dreht sich nach dem Kerl um, sieht seine oligen Aeugel- 
chen an einem herumzwinkern und kommt sich schon selbst ein 
bischen vor wie ein Schwein, wie beschmiert von den Blicken des 
andern. So ahnlich also steht es mit den Denunziations-Objekten, 
die der Sammelwut des Kausen verfallen sind. (Der Kausen kann 
auch mal Otto von Erlbach oder W. Thamerus heissen, aber als Be- 
griff sagt man: der Kausen.) Angesichts eines solchen Verfahrens 
nun gelangt man leicht dazu, seine Hoflichkeits-Prinzipien zu revi- 
dieren und sich an die Grenze dessen zu begeben, was konventionell 
ist. Nicht dass ich den Kausen verbauter beschimpfen sollte, das 
sei feme von mir. Schlechte Einrichtungen soil man nicht anschreien, 
man soil sie ausmerzen. Was ware auch damit erreicht, wenn ich 
jemanden, der mich einen „Edelanarchisten" nennt, durch den Nach- 
weis strafte, dass eine Zusammenstoppelung des Wortes Esel mit 
seinem Namen ebenfalls einen Pleonasmus ergabe ? — Oh nein, 
ich bin viel unkonzilianter: ich arbeite nach dem Beispiele des Kausen 
«ind sammle Material. Kein Material ilber das Privatleben des Kausen. 
So etwas hat gar kein eigenes Privatleben, so etwas hat nur das 
Privatleben anderer Leute, — aber das hat es ausgiebig. Ich sammle 
Material iiber die denunziatorischen Gepflogenheiten des Kausen, 
und wenn es da mal so ganz aus Versehen und nebenbei geschieht, 
dass etwa Wedekinds „Oaha" ein Bordellstuck genannt wird, dann 
frage ich wohl: „Pardon, mein Lieber, sollte Ihnen da nicht gewis- 
sermassen eine Falschung untergelaufen sein ?" Aber das kann 
jawohl beim schnellen Denunzieren vorkommen; wenn man allzu 
rasch multipliziert, kann ja auch mal ein Fehler passieren. Und 
noch weiteres Material will ich sammeln, und wenn ich genilgend 
Material gesammelt habe, dann will ich meine Leser einladen und 
sie fragen: Bitte, hier sehen Sie Rops und Beardsley und de Bayros 
und Weissgerber und Jagelspacher, hier sehen Sie Zola und Mau- 
passant und Flaubert und Mann und Wedekind und Eulenberg und 



— 126 — 

Mlihsam, — und dort sehen Sie den Kausen. Bitte (werde ich 
fragen) wer wlihlt im Schmutz? wer verunglimpft die Schonheit? 
wer hat es mit Unzucht und Schweinerei? jene Kunstler und Dichter 
oder dieser Denunziant ? — Polemisieren werde ich dabei nicht mit 
dem Kausen. Das ware sinnlos. Wenn ein schlecht erzogener 
Banause ein Gemalde berotzt, so streitet man mit ihm nicht ilber 
den Farbfleck, sondern man wischt ihn weg (den Farbfleck natlir- 
lich). So also gedenke ich es fortan mit dem Kausen zu halten, 
und wenn meine „Presse" auch nur ein sich von Nummer zu Num- 
mer ,,milhsam" fortfristendes Blattchen ist (solcher Gestalt Iibte 
sich jtingst die Witzigkeit des Kausen, dessen Organ — ich muss 
es mit Beschamung als wahrscheinlich zugestehen — in dem einen 
Punkt der finanziellen Unterlage dem meinigen ilberlegen sein dlirfte), 
— so werde ich doch nicht unterlassen, Material zu sammeln, um 
mit meinen bescheidenen Kraften an der Bekampfung der von dem 
Kausen besorgten Schmutz- und Schundliteratur teilzunehmen. Zwar 
ist zu befilrchten, dass seine Ausrottung sobald nicht gelingen 
wird. Immerhin moge er sich vorsehen. 



Zeitfragen. Die Wiener „Zeit" versendet eine Rundfrage, um 
zu erfahren, wie „unter den Intellektuellen aller europaischen Staaten" 
das kriegerische Vorgehen Italiens gegen die Ttirkei beurteilt wird. 
Als eigene Meinung aussert die „Zeit" dieses: „Das Vorgehen Italiens 
gegeniiber der Ttirkei steht in Widerspruch mit dem Volkerrecht, 
mit alien Gebrauchen zivilisierter Nationen und jedes modernen, 
Menschen Rechtsgeftihl. Wenn man bedenkt, dass dieses Vorgehen 
von anderen Staaten gegeniiber andern Staaten in Zukunft nach- 
geahmt werden konnte, so bedeutet der Ueberlall der Ttirkei durch 
Italien eine dauernde Gefahrdung der Sicherheit aller Staaten, des 
Friedens der Welt und in Konsequenz davon eine Steigeruug der 
militarischen Lasten in alien Landern." Nachher formuliert das 
Blatt diese Fragen: 

1. Billigen Sie die Art des Vorgehens Italiens gegeniiber der 
Turkei? 

2. Welche Konsequenzen befilrchten Sie von diesem volkerrechts- 
widrigen Vorgehen fur die weitere Entwicklung der Beziehungen 
zwischen den europaischen Staaten? 

3. Welche Massregeln halten Sie fur wtinschens- und empfehlens- 
wert, iim eine Nachahmung des italienischen Vorgehens sei- 
tens anderer Machte in Zukunft vorzubeugen? 

4. Halten Sie es filr empfehlenswert und durchflihrbar, dass die 
Gebildeten aller Nationen, um ihren Protest gegen Italiens 
rechtswidriges Vorgehen zu dokumentieren, ein Jahr lang 
Italienreisen unterlassen ? 

Da mir die Enquete der „Zeit" von einem der Gefragten zur 
Verfugung gestellt wird, erlaube ich mir, dem Wiener Blatt meine 
Meinung ilber das, was es wissen mochte, hier mitzuteilen. Vielleicht 
hat es Verwendung daftir. Also: 

1. Ich missbillige das Vorgehen Italiens gegen die Ttirkei. Noch 
mehr missbillige ich das Vorgehen beider Staaten gegen Tri- 



— 127 — 

polis. Ueber die Art des Vorgehens Italiens steht mir kein 
Urteil zu. Ich nehme an, dass die Art dem Interesse der 
regierenden Klassen Italiens entsprach. 

2. Ich hoffe, Italiens Vorgehen wird eine vermehrte Wachsam- 
keit der Volker Europas auf ihre Regierungen zur Folge haben. 
Dann befiirchte ich von der weiteren Entwicklung der Be- 
ziehungen zwischen den europaischen Staaten keine Konse- 
quenzen mehr. 

3. Eine Nachahmung des italienischen Vorgehens „seitens" an- 
derer Machte sollte nach meiner Meinung vorgebeugt werden 
durch intensive antimilitaristische Propaganda, durch sozialisti- 
sche Aufklarung der Volker, durch die Massregel des General- 
streiks in jedem von Kriegsgefahr bedrohten Lande. 

4. Durch einen Boykott gegen Italien als Zuflucht fur Hochzeits- 
reisende und Bankdefraudanten wiirden dieselben armen 
Leute geschadigt werden, die auch die Kosten des Krieges 
zu tragen haben. Ausserdem wiirden hochstens acht Rad- 
fahrer der Parole der „Zeit" folgen. 

Es tut mir leid, der „Zeit" nicht mit besseren Ratschlagen dienen 
zu konnen. Nur eine Anregung noch mochte ich ihrem Enquete- 
Verfasser nahelegen: sich kunftighin ein etwas moglicheres Deutsch 
anzugewohnen. Ein Ueberfall der Turkei durch Italien hat z. B. nie- 
mals stattgefunden. Es ist auch anzunehmen, dass die Turkei, falls 
sie es etwa auf Korsika abgesehen hatte, den Ueberfall nicht durch 
Italien, sondern um Italien herum unternommen hatte. Es handelt 
sich aber dieses Mai um einen Ueberfall Italiens auf die Turkei. 



Tripolis und China. Der italienische Sozialdemokrat Ferri soil 
in Berlin vom deutschen Reichskanzler freundlich begriisst worden 
sein. Vermutlich wird sein Stolz durch diese Ehrung ebenso ge- 
schwellt worden sein, wie durch das starkende Bewusstsein, dem 
italienischen Vaterlande durch die Zustimmung zu den Kriegsfor- 
derungen gedient zu haben, die er neben seinem Genossen Turati 
im Parlament vertibte. Darliber, dass Ferri auch von den Berliner 
Sozialdemokraten empfangen wurde, las ich nichts, aber nach Jena 
ist kein Ding unmoglich. — Durch das infame Verhalten dieser 
Sorte parlamentarischer „Internationaler" ist es den Offiziellen in Italien 
sehr erleichtert worden, einen total falschen Eindruck von der Stim- 
mung des Volkes gegenliber dem Kriege zu erwecken. Ueberau liest 
man von begeistertem label, der die abreisenden Soldaten begleitet 
hatte. Vielleicht interessieren einige Tatsachen, die man zwar nicht 
aus dem „Corriere della Sera" oder dem„Messagero" erfahrt, sondern 
eher aus der in La Spezia erscheinenden anarchistischen Zeitschrift 
„il Libertario". Da stand zu lesen, wie die Manover, die dem Kriege 
unmittelbar vorangingen, plotzlich abgebrochen wurden, weil aus 
den Reihen der Soldaten heraus das Pferd des Befehlshabers unter 
dem Leibe des Reiters eine Kugel bekam. Dort stand auch zu lesen, 
wie es auf den Bahnhofen grosser Stadte bei der Abfahrt der Krieger 
herging. Freundlich wohl nirgends. Irgendwo aber riss die wlitende 
Bevolkerung die Schienen auf und verbarrikadierte die Geleise der- 
artig, dass die Ztige sich nicht riihren konnten und die Soldaten 
wieder ausgeladen werden mussten. Es scheint wichtig, diese Tat- 
sachen auch in Deutschland einmal mitzuteilen, damit endlich das 
dumme Geschwatz von der nationalen Begeisterung authore, die alle 



— 128 — 

Volksschichten erfasst haben soil. Schliesslich weiss die italienische 
Regierung doch wohl auch, warum sie die strenge Telegramm Zensur 
eingerichtet hat. — Ueber den Verlauf des Krieges selbst weiss man 
natlirlich gar nichts Genaues. Den Telegrammen, die man zu lesen 
kriegt, riecht man zum grossten Teil den Schwindel von feme an, 
zum andern Teil werden sie sechsfach dementiert und wieder be- 
statigt, so dass sich kein Mensch auskennt. Soviel aber wissen wir 
sicher, dass hilben und drtiben bereits eine Menge rilstiger junger 
Menschen furs Vaterland der Reichen gestorben sind, und dass 
Europas Witzblatter ein Glanzgeschaft damit machen, dass es noch 
so wenige sind. 

Auch liber die Vorgange in China erfahrt man nicht ubermassig 
viel. Nur soviel wissen wir, dass dort Millionen Menschen im 
offenen Aufruhr gegen ihre Staatsregierung stehen, weil sie sich die 
schamlose Mandschuwirtschaft ihrer Wurdentrager nicht mehr ge- 
fallen lassen wollen. Dass die Revolutionare alle Aussicht auf Ge- 
lingen ihres entschlossenen Vorgehens haben, kann der zeitunglesende 
Europaer schon daraus entnehmen, dass die Rebellen nicht mehr 
wie noch vor vierzehn Tagen der „P6bel", sondern etwas respekt- 
voller, die Aufstandischen genannt werden. Als Pobel bezeichnen 
unsere Meinungsmacher nur noch das Volk, das sich auf den Strassen 
gegen die fremdrassigen Eindringlinge wehrt, die sich in ihre Ange- 
legenheiten einmischen. Wir lernten in der Schule, wie vor vier- 
hundert Jahren die Spanier das neuentdeckte Amerika usurpierten, 
und unsere Lehrer wussten das Greuelhafte des spanischen Vor- 
gehens nicht stark genug zu verurteilen Wie werden die Kinder 
nach einigen weiteren Jahrhunderten iiber das Verhalten der gegen- 
wartigen zivilisierten Nationen denken lernen, die mit den scheuss- 
lichsten Mordwaffen die altesten Kulturlander der Erde bedrangen? 
O, dass es eine Scham vor den Zuklinftigen gabe! 



Unser Bittinger. Unser Bittinger ist namlich Polizeidezernent fur 
die politischen, Vereins-, Presse-, Kunst- und Theaterangelegenheiten. 
Unser Bittinger hat namlich einen Ruf als Polizeidirektor nach Stutt- 
gart bekommen. Unser Bittinger wird namlich voraussichtlich diesem 
Ruf Folge leisten. Wir sehen unseren Bittinger namlich sehr ungern 
scheiden. Unser Bittinger macht namlich in Miinchen alles: lasst 
Anarchisten verhaften, lasst Auslander ausweisen, lasst uns um 3 Uhr 
nachts aus alien Lokalen austreiben, lasst in Preussen und anderen 
Freiheitshorten ungefahrliche Stticke hier nicht auffiihren, lasst offent- 
lich angekiindigte Zusammenklinfte Geheimblinde sein und lasst all- 
gemein sehr ungern etwas zu. Adjo unser Kulturgewissen, adjo 
unser Zensor, adjo, unser Verbietinger, adjo, unser Bittinger, — 
adjo, adjo. 



Auf den dieser Nummer beiliegenden Prospekt liber M. 
Andres Werke machen wir besonders aufmerksam. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baadetstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355. 



JvAlJN, Hett 6. Der marokkanische Krieg. — Tagebuch aus 
dem Gefangnis. — Aus dem Miinchner Zensurbeirat. Offener 
Brief von Frank Wedekind. — Schiesse bei Zeiten. — Zweierlei 
Masskriige. — Walhalla. 

KAIN, Heft 7. Inhalt: Bebel t- — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Kiew. — Mainz. — 
Miinchen. — Korrespondenz. 



Pregrelationsbureau „ftanfa" 

irirph. Ami moabli tin Berlin NW 2S ♦ ftolfielntr Ufer 7 ♦ 

Jiiti. : Jng. III. Kraufe 
llefcrt allc Ilartinditcn uber 

Kurtft, literatur, IDiffenfcOaft 

[dwell — uollftandig — prcisioert. 

Hkadetnirdti und literarifd) gebildete i'ehtoren. 
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OlC tt)UftC* Cedldite. 19<H. m. 2.40. 

Dft Kt&tCt* ecdKfite. 1909. m. 2.- 

Oic liodtjft&plcr* mwpiei. 1906. m.2.- 

Zu bczicticn durct) icilc Burt)l)aiidlung unci den 
Kdin DfrlatJ, Ittundjcn, BaadcrftraBe la. 



Bitte hier abzutrennen. 



Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Bander- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Adresse: 



Name: 



*) Nicht gewtinschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgang I. No. 9. Dezember 1911. 

KMN 

Zeit/chriftfur 

MervAhlichKtf 

HemuJgeber; 

(rich Huh/am 




Inhalt: Gegen die Polizei. — Gedichte. — Die Tat des Dietrich 
Stobaus. — Eigenes. — Bemerkungen. — Respekt vor Dichtern. 

— Heldentaten. — Der politische Kronprinz. — Wahlt! Wahlt! 

— Versammlungsbericht. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfg. 



In einigen Wochen erschei nt im KAIN- 
VERLAG zum ersten Male der 



Kain-Kalender 

fiir das Jahr 1912. 

Samtliche Beitrage sind vom. Heraus- 
geber des „Kain", ERICH MUHSAM. 



Der Kalender enthalt ernste und hu- 
moristische Arbeiten in Prosa und 
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und 
satyrische Gedichte, Aphorismen, 
Dramatisches u. s. w., u. s. w. 



Dem Kalender wird das Bild des Verfassers beigegeben. 



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Der Preis betragt fiir das 
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Bestellungen nehmen jetzt schon entgegen die Buch- 

handlungen und der „KAIN-VERLAG", Munchen, 

Baaderstrasse la. 



Jahrgang I. Miinchen, 

No. 9. Dezember 1911. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

■ ■■lull nil i ., ■ - ■ i ■ ii >n, I III I l„l.l„l,.l i , | ..|Mi ; i. - .|..|.,t..M I ..■ . ■>,., M 1,1 ,,-■■! l.l,i i |. 1,1 ,1.1. 1 l ,i l „ I .. 1. H - II I I, 

„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

J!BJI.n,i„Hli,l„l. 1.1 . 1,.!.-!!.*-, ! i-i i-.l.tf- ■ „. .I„lrifc.|, Mnli.Mil-.l'il-'l ■ I'-lii. •*■■«■ .*-n..t,.t- i„»„l„f , I., t..j.,|.n-;i,',II.IM. l l l i t .l-.i^f ili 

Gegen die Polizei. 

Manchmal aber geht ein Ruck durch die Gemiiter der 
Indifferenten und Faulen, und es ist, als ob plotzlich die 
Einsicht von revolutionaren Notwendigkeiten alle selbst- 
zufriedene Gleichgiiltigkeit und alien iiberlegenen Eigen- 
diinkel in den Fugen erschiittere. Wenn namlich der 
Uebermut der nie bezweifelten Autoritat sich iiberschlagt, 
wenn die keine Abwehr gewohnte Faust es miide ist, 
drohend unter den Nasen friedliebender Leute zu fuchteln 
und zustosst, dann scheint es manchmal, als ob die ver- 
haltene Wut, der unter das Bewusstsein zuriickgestaute 
Hass emporwolle, und als ob die Freiheitssehnsucht, die 
irgendwo im Herzen eines jeden Menschen lagert, Atem 
finde. 

Dann werden mit einem Male wir, die wir jahraus 
jahrein diesen Hass und diese Wut zu schiiren bemiiht 
sind, wir Wiihler und Aufriihrer, Respektspersonen. Dann 
driicken uns mit kameradschaftlicher Sympathie die Hand, 
die sonst nur ein ironisches Lacheln haben fiir unser 
ohnmachtiges Aufbegehren und fiir unsere ungestiimen 



— 130 — 

Weckrufe. In uns aber tiirmt der Zorn sich bergehoch 
— gegen die neuen Weggenossen, gegen die erwachten 
Schlafer und zur Rebellion Bekehrten. Derm wir wissen, 
dass das Lodern ihrer Seelen Strohfeuer ist, dass morgen 
ihr Grimm verraucht sein wird, dass sie wieder als fromme 
Burger die Faust unter der Nase werden fuchteln lassen, 
sobald nur der ladierte Kiefer von einer liberalen Salbe 
verschmiert ist, — und iibermorgen werden wir wieder 
die Prediger in der Wiiste sein. 

Von alien deutschen Stadten ist Miinchen die der 
riickstandigsten Polizeiwirtschaft. Nirgends ist der Wille 
des Einzelnen so jammervoll in die Klammern behord- 
licher Vormundschaft gepresst wie hier. Die Jagow-Stadt 
Berlin ist ein Eldorado der Freiheit im Vergleich mit 
Miinchen. Filehne und Krotoschin, Crimmitschau und 
Grafen-Hainichen, Oppeln, Pima und Ratzeburg sind, an 
Miinchener Verhaltnissen gemessen, Hochburgen freiheit- 
licher Kultur. 

Gewiss, in Berlin bedrohen jeden, der das Ungliick 
hat, mit einem Polizisten in Handel zu kommen, die Jagow- 
schen Schiesserlasse an Leib und Leben. Das ist hier 
nicht der Fall. Dort aber kennt man nicht alle die Schlin- 
gen und Fallstricke, in die in Miinchen jeder gleitet, der 
das Recht auf eigenen Geschmack, auf personliche Ge- 
wohnheiten, Neigungen, Bediirfhisse beansprucht. Die 
Organe der sogenannten offentlichen Sicherheit verfiigen 
hier iiber eine Macht, die jedes Eigenleben totet, jeden 
Versuch, auf eigene Fasson selig zu werden, erstickt; jede 
frohliche Gemeinsamkeit erwiirgt, — und sie iiben diese 
Macht in einem Umfange aus, der keinem Fremden glaub- 
haft scheinen kann. 

Von der rigorosen Handhabung der Polizeistunde war 
hier oft die Rede. Wer seine Stunden anders eingeteilt 
hat, als es die Diktatur der Weinstrasse fur wiinschenswert 
halt, mag sehen, wo er bleibt. Dass jemand zwischen 
3 und 4 Uhr nachts einen Kaffee trinken mochte — und 



— 131 — 

es gibt in dieser Dreiviertelmillionenstadt jede Nacht hun- 
derte, die es mochten — , fugt sich nicht in die Paragraphen- 
Besessenheit derer, deren Wille uns Befehl zu sein hat 
Die Sorge, es konnte jemand etwa im Bahnhofrestaurant 
die Tasse Kaffee, nach der er verlangt, doch linden, geht 
soweit, dass das Betreten des Bahnhofs nur dem gestattet 
wird, der mit einem giiltigen Fahrtausweis versehen ist. 
Wiinscht jemand seiner Frau ihre Koffer in den Zug zu 
reichen, so wird er sie schon veranlassen miissen, am Tage 
zu reisen. Lost er sich aber, um es nachts tun zu konnen, 
selbst eine Fahrkarte, die er dann nicht benutzt, so wird 
er — es liegen rechtskraftige Urteile dieser Art vor — 
mit Strafbefehlen bedacht. 

Das aber ist nur eine geringfugige Gefalligkeit nach 
der Seite der um das Seelenheil der Miinchener Bevolke- 
rung besorgten Frommlinge. Viel arger steht es in dieser 
Kunststadt um die Bestrebungen der vereinigten Pfaffen 
und Polizisten zur Kujonierung der Kunst. Wer einmal 
eine Studie iiber die Grotesk-Akrobatik der SittUchkeit 
schreiben will, dem sei in dieser gesegneten Zeit ein 
kurzer Aufenthalt in Munchen anempfohlen. Er wird sein 
hellblaues Wunder erleben. 

AUerlei sonderbare Falle von pohzeilicher Fiirsorge 
in dieser Richtung habe ich meinen Lesern im Laufe 
der verflossenen acht Monate schon mitteilen konnen. Er- 
innert sei hier nur an die bodenlosen Chikanen, mit 
denen unter dem aneifernden Gejohle Kausenscher Schreib- 
soldner, die unumschrankte Zensurbefugnis des Herrn 
v. d. Heydte und seiner Gehilfen unausgesetzt an der hohen 
Kunst der Wedekindschen Dichtungen herumzwickt. Die 
Halfte dieser Werke ist der offentlichen Mitteilung von 
den Biihnen her entzogen, und der geniale „Totentanz" 
darf nicht einmal vorgelesen werden. Als Riickendeckung 
fiir solche Unglaublichkeiten hat sich der Herr Polizei- 
prasident einen „Zensurbeirat" engagiert, der ihm helfen 
muss, sauberlich zwischen Moral und Schmutz zu trennen, 
dessen ethischer Aesthetik das Kunstbedurfnis kultivier- 



— 132 — 

ter Menschen ausgeliefert ist, und dessen Rat stets beriick- 
sichtigt wird, wenn er mit der Ansicht seines Auftrag- 
gebers iibereinstimmt. 

Frank Wedekind hat im „Kain" Dokumente veroffent- 
licht, aus denen ersichtlich ist, wie gewisse Herren des 
Zensurbeirats ihre Obliegenheit auffassen. Die Polizei 
wurde von Aesthetikern, die moralische Urteile abgeben 
sollten, als Ablagerungsstatte asthetischer Wertungen be- 
nutzt. Man konnte in Wedekinds Dramen moralische 
Gefahren nicht erkennen, daher dokumentierte man vor der 
Polizei seine Unfahigkeit von den dichterischen Offenba- 
rungen des Dichters ergriffen zu werden. So, von den 
ziinftigen Aesthetikern selbst zur asthetischen Jnstanz er- 
hoben, verbot die PoUzei die ihr von den Aesthetikern als 
Ethiker zur Freigabe empfohlene Auffuhmng und selbst 
die offentUche Vorlesung. 

Kann man sich da iiber das geschwollene Selbstbe- 
wusstsein der Weinstrasse wundern, wenn sie (vgl. „Kain" 
Nr. 3 „Die nervenschwache Polizei") behauptet, ihr obliege 
die Wahrung des guten Geschmacks? Kann man sich wun- 
dern, wenn sie sogar ein Stiick wie „Oaha" verbietet, in 
dem selbst der enragierteste Sexualschniiffler kein „un- 
sittliches" Motiv linden wird, das als Vorwand zur ge- 
wiinschten Unterdriickung denen konnte? Nein, der „gute 
Geschmack" der PoUzei wird bemiiht — und jetzt Gnade 
uns Gott! Ich will hier ein heiliges Geltibde ablegen: Sollte 
ich je im Leben etwas schreiben, sagen oder denken, 
was den guten Geschmack der PoUzei nicht in Konfiskati- 
onsstimmung versetzt, so wiU ich in meinem Testament 
verfugen, dass aus meinen Knochen Leim gekocht werden 
soil, mit dem poUzeiUche Aktenmappen geklebt werden 
mogen! 

Die guten Munchener — Kiinstler, SchriftsteUer, Pro- 
fessoren, Burger und Arbeiter - haben bisher die Moral 
und den guten Geschmack der PoUzei wiUig iiber sich 
ergehen lassen. Wohl haben sich einmal etUche tiichtige 
Manner zu einem Protest gegen die an Wedekind veriibten 



— 133 — 

Rigorositaten der Munchener Zensur aufgeschwungen und 
haben Unterschriften dafiir gesammelt. Damals schrieb 
ich („Kain", Heft 4): „Bei der Schlafmiitzigkeit, die das 
Verhalten der Geistigkeit gegen das Herumwiihlen sub- 
alterner Seelen in kulturellen Werten allgemein kenn- 
zeichnet, bedeutet der Aufruf fur Wedekind einen ersten 
mannlichen Vorstoss. Nur mochte man wiinschen, dass 
die Kundgebung nicht in einer Namenstabelle mit ledig- 
lich statistischem Wert umkomme". — Du arme Seele! 
Die Warnung war uberfliissig. Es ist noch nicht einmal 
eine Namenstabelle mit lediglich statistischem Wert her- 
ausgekommen. Noch immer wird den Programmen ftir 
Wedekindsche Auffuhrungen und Vorlesungen der Auf- 
ruf beigelegt, und immer noch sieht man die gleichen 
Namen wie anfangs darunter, — keinen einzigen mehr. 
Ob wirklich niemand sonst seine Zustimmung ausgedriickt 
hat, oder ob zunachst die erste Auflage des Aufrufs 
weg sein soil, ehe weitere Namen bekannt gegeben wer- 
den, erfahrt man nicht. Daran, dass sich an den Aufruf 
einmal eine energische Protestaktion anschliessen konnte, 
denkt heute kein Pferd mehr. — Wenn man nicht den 
Willen und nicht die Fahigkeit hat, eine begonnene Tat 
zu Ende zu fuhren, dann soil man doch lieber ganz die 
Finger davon lassen. Sonst macht man sich vor aller Welt 
lacherlich und ermutigt Pfaffen und Polizei zu umso un- 
genierterer Betriebsamkeit 

Durch die stillen Auen der Munchener Kultur weht 
wieder einmal ein betuliches Sauseln. In der Geistes- 
kinderstube bleibt das Spielzeug liegen. Proteste flak- 
kern auf. Was ist geschehen? 

Herr Dr. Robert, der Direktor des Lustspielhauses, 
hatte sein Theater an die Tanzerin Frl. Adoree Via-Villany 
verpachtet, die dort an funf Abenden einem sorgfaltig 
ausgewahlten, geladenen Publikum ihre Kiinste zeigen 
sollte. Eine Privatveranstaltung also, in die (sollte man 
denken) kein Mensch, kein Pfaff, kein Kausen, keine Poli- 
zei hineinzureden hatte. Aber wir leben in Miinchen 



— 134 — 

und zu dem Programm der Dame gehoren Nackttanze. 
(Pfiii!) 

Ich habe die Darbietungen des Frauleins Villany leider 
nicht gesehen. Daher kann ich mich in der Beurteilung 
ihrer Kunst nur auf die Zeugnisse solcher Leute berufen, 
die mir sachverstandig scheinen, und auf die Prinzipien, 
von denen ich meine Stellung zu kulturellen Dingen be- 
stimmen lasse. Das Urteil derer, die die Tanze sahen, 
geht einmutig dahin, dass nur ein total moralverkleb- 
tes Hirn Unzucht und Geilheit in ihnen finden konnte. Alle 
die Kiinstler und Aestheten, die gekommen waren, Kunst 
zu gemessen, erlebten Kunst. Sie alle — und es sind dar- 
unter die bedeutendsten Kunstexperten, die Munchen hat — 
riihmen die dezente Schonheit des Korpers, der sich ihnen 
zeigte, und die Grazie der Bewegungen und Stellungen 
der Kiinstlerin. 

Die hohe Polizei war nicht eingeladen; aber sie kam. 
Am dritten Tage wurde die Auffuhrung von der be- 
amteten Macht unterbrochen, die Kiinstlerin von der Biihne 
weg verhaftet und mit ihrem Impresario und dem Direktor 
Dr. Robert, zum Polizeiprasidium abgefiihrt. Gegen alle 
drei ist ein Verfahren nach § 183 des Strafgesetzbuches 
eingeleitet und gegen Dr. Robert auch noch eins auf 
Entziehung der Theaterkonzession. (Natiirlich: derm das 
Lustspielhaus hat sich in der letzten Zeit ganz erheb- 
lich kunstlerisch gebessert. Es bietet jetzt in der Tat 
gute Vorstellungen, und hat sich mit den Auffuhrungen 
von Tschechows „Move" und Strindbergs „Vater" wirk- 
Uches Verdienst erworben. Seit sich Dr. Robert auch 
noch — vergeblich — bemiiht, Wedekindsche Stiicke frei 
zu bekommen, droht sein Theater im Ernst zu einer 
Kulturinstitution zu werden). 

Zu einer solchen Gewalttat musste es also erst kom- 
men, bis sich endlich, endhch in den Gefuhlen der Geisti- 
gen etwas wie Trotz regte. Die Polizeiplempe musste 
ihnen erst iiber das Gesicht fahren, ehe ihnen die Rote 
an die Schlafen stieg. Nun regt sich's in Protesten und 



— 135 — 

Kundgebungen, nun werden Unterschritten gesammelt 
und wohl auch Reden gehalten. Aber wie lange? Wird 
die Erregung vorhalten? Wird sie auch nur dauern, bis 
die verantwortliche Person, die die Polizeiaktion vor der 
Oeffentlichkeit vertritt, aus dem Amte muss? 

Herr v. d. Heydte scheint guten Mutes zu sein. Er 
publiziert eine Erklarung, worin er die Meinung vertritt, 
dass derartige Unternehmungen seiner Erlaubnis bediirfen, 
und worin er beteuert, dass, solange er den Posten des 
Miinchener Polizeiprasidenten bekleide, die Erlaubnis zu 
ahnlichen Darbietungen verweigert wiirde. Das zeigt, ge- 
gen wen der Kampf gehen muss. Was ich immer und 
immer betone, woran ich die Kunstlerschaft hier wieder 
und wieder gemahnt habe — wird es jetzt endlich klar? 
Leuchtet es endlich ein, dass es mit der ewigen Atelier- 
Turmwachterei nicht weiter geht? Dass der Kiinstler 
an den offentlichen Einrichtungen interessiert ist, wie nur 
einer? Die Kunstlerschaft gehort in den sozialen Kampf! 
Sie ist bestimmt, die Freiheit des geistigen Lebens zu 
schiitzen und zu behiiten gegen Polizeibedrohung und Poli- 
zeigewalt! Sie gehort auf die Seite der Unzufriedenen 
und Revolutionare! — Allein mit Protesten und witzigen 
Schreibereien, wird sie nichts ausrichten gegen die, die 
verbiindet stehen mit den pfaffischen Hiitern der Dumm- 
heit und Unkultur. Nur im Bunde mit denen, die die 
Polizeimacht an anderen Stellen, aber nicht minder 
schmerzhaft zu spiiren bekommen, kann der Geist er- 
reichen, was sein Lebensrecht verlangt. In den Kampf, 
Kiinstler! Auf die Tribune! Auf die Strasse! Tua res 
agitur! 

Der Fall, um den es heute geht, ist nur ein Symp- 
tom, immerhin aber ein wertvolles. Vor hunderten von 
Augen hat sich der Vorgang abgespielt, vor Augen, die 
meist blind sind fur die Wirklichkeiten unseres vortreff- 
lichen Staatsbetriebes. Hunderte von Menschen, die ein 
Recht haben, auf ihren Menschenwert stolz zu sein, sind 
von der Staatsgewalt beschimpft worden, indem ihnen 



— 136 — 

gesagt — nein, indem ihnen eingeblaut wurde, dass schmie- 
rige Liisternheit sei, was sie als ihr Kulturbediirfnis aus- 
geben. Wollt ihr euch das gefallen lassen, Kiinstler? 

Dass schoner Frauentanz die Seele kunstfreudiger 
Menschen erhebe, wird von der Polizei allenfalls zuge- 
standen. Dass nackte Frauenleiber, in Stein gehauen, von 
schonheitsdurstigen Menschen bewundert werden, kann 
sie nicht verbieten. Aber dass leibhaftiges Leben, das 
Edelste, Wundervollste, was die Natur geschaffen hat, 
dass ein formschones nacktes Weib im Rhytmus des 
Tanzes ihren hochsten Ausdruck sucht, das soil Schwei- 
nerei sein, das sollt ihr, ihr Kiinstler, als Schweinerei 
anerkennen! Pfaff und Polizei behaupten, es sei Schwei- 
nerei, behaupten, ihr seid geile Liistlinge, weil ihr Freude 
daran habt! — Habt ihr keine Scham, dass ihr euch 
nicht emport? 

Jedes letzte Naturvolk unterscheidet zwischen Geil- 
heit und Sinnenfreude. Botokuden, Australneger und 
Zulukaffern freuen sich an den Tanzen ihrer nackten 
Frauen, und keinem von ihnen fallt es ein, mit anderen 
Empfindungen als mit denen erhohter Lebenslust hinzu- 
schauen. Ihr aber, ihr Kiinstler, ihr westeuropaischen 
Kulturtrager, — ihr sollt die Ferkel sein, die beim An- 
bhck einer entkleideten Tanzerin vor Brunst schwitzen. 
Steigt euch nicht die Galle hoch, da man euch das vor- 
wirft? Fiihlt ihr keinen Ekel, keine Wut, keinen Hass?... 

Man kann mir glauben, ich will keinem Menschen 
sein Miinchen verekeln. Ich Uebe diese ergreifend schone 
Stadt, wie wenn sie meine Heimat ware, und ich mochte 

— trotz all des Widerwartigen, das einem hier die Freude 
am Dasein vergallen kann — nicht mehr in einer andern 
deutschen Stadt leben. Aber muss es denn sein, dass diese 
Stadt, die von Natur und vom Geschmack der Menschen 
so gut behandelt ist wie wenige, sehr wenige andere, 

— muss es sein, dass diese Stadt von pfaffischem Geist, 
von muckerischem Wesen, von polizeilichen Unertrag- 
lichkeiten geknebelt und geknechtet wird? 



— 137 — 

Menschen, Kiinstler, besinnt euch doch! Das unver- 
haltnismassig starke Kontingent, das die Geistigkeit gerade 
in Munchen stellt, miisste euch doch Mut machen, stolz 
auf euern eigenen Willen zu bestehen! Mit Protestieren, 
mit Artikelschreiben, mit Parlamentswahlereien ist es 
nicht getan. Der gleiche Landtag, der eben aufgelost ist, 
vertrat Niirnberg so gut wie Munchen. Und Niirnberg ist 
bisher noch ohne Polizeizensur ausgekommen. Der neue 
Landtag mag aussehen, wie er will: durch seine Zusam- 
mensetzung wird sich weder in Munchen noch in Niirn- 
berg etwas andern. 

Auch zu Gewalttatigkeiten rate ich keinem Menschen. 
Damit ware nichts zu erreichen als Elend und Verzweif- 
lung. Worauf es ankommt, ist starkes Zusammenhalten, 
klare und laute Betonung des eigenen Werts, Erkennung 
der feindhchen Machte und den Willen, sie zu brechen. 

Man mache den Versuch. Man fordere so laut, so 
scharf wie moglich die Beseitigung des Polizeiprasiden- 
ten, der den Miinchener Kiinstlern vorgeworfen hat, sie 
falschen in Kunst um, was nichts als Unzucht sei. Man 
mache dem Manne begreiflich, dass er die Autoritat, 
auf die er Anspruch erhebt, bei dem gesamten kulturei- 
len Teil der Miinchener Bevolkerung nicht besitzt. So 
wird er weichen miissen. Hat man das erreicht, so be- 
miihe man sich um die Erkenntnis des ganzen Systems, 
das man Polizei nennt. Man begreife, dass dieses System 
die Herrschaft der rohen Gewalt iiber alle geistigen 
Machte bedeutet, — man bekampfe sie in der Erschei- 
nungsform, die Zensur heisst, und in jeder andern Er- 
scheinungsform. 

Ich glaube — lache iiber diesen Glauben, wer will — 
dass der Geist starker ist als der Sabel. Ich glaube, 
dass wir ohne Polizei friedlicher, gesicherter, nutzbrin- 
gender leben konnen als mit ihr, und ich glaube, dass fiir 
alle Kultur, fiir alle Freiheit, fur alle Menschenwohlfahrt 
viel gewonnen ist, wenn aus Kiinstlerblut endhch Rebel- 
lenblut wiirde, und wenn aus dem oden Tagesschwatz 



138 



der Politik die laute Stimme der Geistigkeit heraustonte: 
Gegen die Knechtung! Gegen den Staat! Gegen die 
Polizei! 



Gedichte. 

An E.B. 

Du bist nicht schon — und dennoch lieb' ich dich. 
Du liigst — und dennoch glaub' ich deinen Worten. 
Nie qffnest du mir deiner Gnaden Pforten 
Geheiligtes — und dennoch lockst du mich. 

Warum verwirrst du, was mein Wesen ist 
machst meine Wege strauchelnd und gefdhrlich — 
Weil du mir unergriindlich, unerkldrlich — 
und dennoch alter Ratsel Losung bist. 



An dem kleinen Himmel meiner Liebe 
will, mich diinkt, ein neuer Stern erscheinen. 
Werden nun die andern Sterne weinen 
an dem kleinen Himmel meiner Lieber 

Freut euch, meine Sterne, leuchtet heller! 
Strahlend steht am Himmel, unverriicklich, 
eures jeden Glanz und macht mich glucklich. 
Freut euch, meine Sterne, leuchtet heller! 

Kommt ein neuer Stern in eure Mitte, 
sollt ihr ihn das rechte Leuchten lehren. 
Junge Glut wird euer Licht vermehren, 
kommt ein neuer Stern in eure Mitte. 

An dem kleinen Himmel meiner Liebe 
ist ein Funkeln, Glitzern, Leuchten, Spriihen. 

Denn ein neuer Stern beginnt zu gliihen 

an dem kleinen Himmel meiner Liebe. 



— 139 - 
Biicher. 



Die Tat des Dietrich Stobaus, Roman von Max Halbe. Verlag 

Albert Langen, Mlinchen. 

Der knappe Raum dieser Zeitschrift erlaubt keine ausfuhr- 
lichen Inhalts-Rekapitulationen ganzer Biicher. Und das ist gut 
so. Denn wer eines dichterischen Werkes Inhalt nacherzahlen wollte, 
tate dem Werk und dem Dichter unrecht. Das muss ein schlechter 
Roman sein, auf den man durch das Ausplaudern seiner Gescheh- 
nisse neugierig machen konnte. Max Halbes „Die Tat des Diet- 
rich Stobaus" aber ist eine Geschichte, deren hoher kunstlerischer 
Wert gerade im Rhytmus des dichterischen Berichts, in der sehr 
personlichen Sprache des Dichters, in dem merkwiirdigen, wirklich- 
keitentriickten und doch so sehr wahrhaftigen Verlauf der Begeben- 
heiten besteht. Welches die Tat des Dietrich Stobaus ist, das 
wird gleich im Anfang der Erzahlung verraten; Die Ermordung 
seiner Geliebten, der schonen, interessanten und sinnlichen Carola. 
Wie sie aber geschieht, wie sie aus der Psyche des Morders 
und des Opfers wachst, wie sie vom Fatum und von ausserirdi- 
schen Kraften vorbereitet, organisiert und endlich ausgefuhrt wird, 
das erfahren wir aus den Aufzeichnungen des Taters selbst. Und 
ganz zum Schluss wissen wir nicht mehr, was wir das ganze Buch 
hindurch glaubten, zu wissen, ob Carola wirklich von Dietrich 
Stobaus ermordet wurde, oder ob das Gespenst seines verschollenen 
Grossvaters sie ins Meer hinabriss. Wir wissen,, wenn wir das 
Buch aus der Hand legen, nicht, ob der, der die Tagebuchblatter 
schrieb, ein Vernunftiger oder ein Verworrener war, ein Ver- 
riickter oder ein Hellseher; ob das seltsame Eingreifen des ge- 
heimnisvollen Kapitans auf dem Ahnenbilde Halluzination und visi- 
onare Einbildung war, oder wahrhaftige Erscheinung aus der vierten 
Dimension. Wir wissen nur, dass alles, was in der Seele und 
im Erleben des Dietrich Stobaus geschah, unausweichliche Not- 
wendigkeit war, dass der Leichtsinn und die Unbedenklichkeit des 
Madchens, ebenso wie ihre Schonheit und das Leiden um sie, dass 
die Jugendfeindschaft gegen den Schulkameraden und die Zeche- 
reien mit dem schwindslichtigen Ratskellerkumpanen zugleich mit 
den ratselvollen Zeichen des toten Grossvaters — dass alles das 
notwendig war, um das Schicksal Carolas durch die Hand ihres 
Liebhabers zu erfiillen. — Die Ich-Form, in der der Roman er- 
zahlt wird, und die Verlegung der Handlung in die Mitte des vorigen 
Jahrhunderts rechtfertigen den behabigen Erzahlerton, und der ist 
wiederum wichtig, um die grossen psychologischen Finessen des 



— 140 — 

Werks hervortreten zu lassen. In dieser ausserordentlich klugen 
Psychologie ruht die Spannkraft des Buches, das trotz seiner alt- 
modischen Einkleidung und trotz seiner gewagten inneren Struk- 
tur eines der fesselndsten ist, die ich seit langem in der Hand 
hatte und turmhoch liber dem Niveau der ublichen Unterhaltungs- 
romane zu werten ist. — Max Halbe hat sich mit diesem Werke auf 
ein Gebiet begeben, auf dem wir ihn bisher nicht kannten. Er 
hat die Probe ausgezeichnet bestanden. Sein dramatisches Tempe- 
rament und die feine lyrische Betrachtungskunst, die sich in alien 
seinen Dramen zeigt, tragen zu der packenden Wirkung des Ro- 
mans viel bei. Es ist zu hoffen und anzunehmen, dass umgekehrt 
auch das zahe Eindringen in die Psychologie seiner Gestalten, 
Wie es zur Tat des Dietrich Stobaus notwendig war, befruchtende 
Wirkung auf seine kilnftigen Buhnenwerke zeitigen wird. 

Eigenes. Ich glaube, den Lesern wegen der Verzogerung des 
langst versprochenen Kain-Kalenders eine Erklarung schuldig zu 
sein. Ich hatte die Arbeit, die zur Zusammenstellung eines solchen 
Sammelbuches gehort, wesentlich unterschatzt. Dazu kommt, dass 
die Ftille laufender Berufsarbeiten und die Aufgabe, die Zeitschrift 
selbst regelmassig rechtzeitig zu liefern, tiber meine Zeit so aus- 
giebig verfligen, dass es sehr schwer halt, die Freistunden zu 
finden, in denen der Kalender entstehen muss. Ich kann jetzt 
aber versichern, dass meine Arbeiten dazu so gut wie abgeschlossen 
sind, und dass das kleine Buch in wenigen Tagen in den Handen 
derer sein wird, die so freundlich sind, sich daflir zu interessieren. 

Auf verschiedene Anfragen ilber meine sonstigen Buch-Publi- 
kationen fur die nachste Zeit kann ich vorlaufig folgendes antworten: 
In den ersten Monaten des kommenden Jahres erscheint im Drei- 
lilienverlag in Karlsruhe eine Auswahl von alteren Aufsatzen von 
mir unter dem Titel: „Scheinwerfer", Betrachtungen aus der Kunstler- 
Perspektive". Ferner bereite ich ein Gedichtbuch vor, in das ich 
eine Reihe von Gedichten aus der „Wuste" und dem „Krater" iiber- 
nehmen will, und das hauptsachlich neue, bisher in Buchform noch 
nicht gedruckte Verse enthalten soil. Es wird voraussichtlich in 
einem bekannten Berliner Verlage erscheinen. Wann und wo die 
beiden Dramen, die noch der Veroffentlichung harren, erscheinen 
werden, ist noch unbestimmt. E. M. 



Bemerkungen. 



Respekt vor Dichtern! Heinrich Mann, der grosste Stilist der 
deutschen Sprache, der eigentliche Entdecker der modernen 
Menschenpsyche und ihr (bis jetzt) einziger Gestalter, hat ein Drama 



— 141 — 

geschrieben, das „Schauspielerin" heisst. In diesem Drama wird ein 
Charakter lebendig gemacht, in dem die Welt der Wirklichkeit und die 
Welt des Theaters miteinander streiten. Die Heldin ist Schauspie- 
lerin und ist es so sehr, dass sie alles Erleben wie Blihnenaufgaben 
nimmt, und ihr Leben genial, reich, bewegt — und doch kalt, ilber- 
legt, selbstgefallig, auf den Effekt bedacht bis zur Konsequenz de» 
Selbstmords — spielt. Ich hatte Gelegenheit, das Stuck in Berlin 
im Theater an der Koniggratzer Strasse zu sehen, wo die Schau- 
spielerin von Frau Durieux mit unerhorter, unvergesslicher, unver- 
gleichlicher Sichtbarkeit und Eindringlichkeit gespielt wurde. 
Es ist die Tatsache zu vermerken, dass Heinrich Manns Drama von 
samtlichen in Frage kommenden Theatern Munchens abgelehnt wurde. 
Haben die Herren, die darilber zu bestimmen hatten, den dichteri- 
schen Wert des Werkes schon nicht erkannt, so waren sie es trotz 
allem dem Publikum schuldig gewesen, die uberaus interessante lite- 
rarische Erscheinung Manns als Dramatiker vorzustellen. Eine Bla- 
mage ware gar nicht moglich gewesen, selbst wenn das Stuck nichts 
taugte, da der Name des Dichters jeden Theaterdirektor gedeckt 
hatte. — Ganz unverstandlich aber ist es, dass den Herren die Be- 
obachtung entgangen ist, wie ungemein dankbar die grossen Rollen 
des Stlickes sind. Warum gibt das Residenztheater nicht einer so 
vortrefflichen Darstellerin wie Frau v. Hagen Gelegenheit, eine so 
lohnende Aufgabe zu bewaltigen ? Warum darf sich Frau Ida Roland 
nicht im Lustspielhaus an der Rolle versuchen? — Es ist im hochsten 
Masse skandalos, dass ein Dichter vom Werte Heinrich Manns in 
ganz Mlinchen keine Buhne findet, die es sich zur Ehre anrechnete, 
ihn von einer neuen Seite zu zeigen. Es bleibt nur noch der Wunsch 
und die Erwartung ubrig, der Neue Verein werde die Schuld gegen 
den Dichter auslosen und die beruflichen Theaterleiter Munchens 
beschamen. 



Heldentaten. Fur wen in dem Kriege, den auf Kosten der 
Tripolitaner die Italiener gegen die Tilrken filhren, im Moment 
die Aussichten am gunstigsten stehen, weiss man immer noch nicht. 
Das einzig zuverlassige, was man vom Schauplatz der Massenmorderei 
erfahrt, sind die unsaglichen Grausamkeiten, mit denen Italiens 
Heldenschar gegen wehrlose Araber wiltet. Jeder Berichterstatter 
weiss scheusslichere Einzelheiten zu melden, und wenn man bei- 
spielsweise erfahrt, dass die europaischen Soldaten die gefangenen 
Frauen des Feindes vor die Front stellten, um die menschlicheren 
„Wilden" von der Gegenwehr abzuschrecken, dann packt einen wohl 
die Verzweiflung an allem Streben nach Gesittung, Aufklarung und 
Menschentum. Liest man, wie aus Aeroplanen Bomben geschleudert 
werden, die zwischen Greisen, Weibern und Kindern krepieren; 
dann schiittelt einen der Ekel ilber die Dummheit und den Hoch- 
mut aller europaischen Zivilisation, die die Erfindung solches Spiel- 
zeugs in einer Zeit als Kulturtat preisen mag, wo nur der organisierte 
Volkermord praktische Verwendung dafiir weiss. — Der Verlauf 
des nordafrikanischen Krieges legt trilbe Gedanken nahe. Ist es 
so sicher, dass die Soldaten anderer Nationen sich viel anders 
auffuhren wilrden, als die italienischen, wenn sie gegen einein 
„Feind" losgelassen werden sollten? Wer in den Krieg geflihrt 
wird, nimmt die Weisung mit, zu morden, mit verheerenden Waffen 
Menschen zu toten, die er nicht kennt, von denen er nichts weiss, 
die ihm nichts getan haben, und die ihm nie etwas tun mochten, 



— 142 — 

wlirden sie nicht ebenfalls zum Morden gezwungen. Soil man 
sich wirklich gegen die primitiven Mannschaften emporen, die nicht 
lange unterscheiden, die, im Eifer, gezwungenermassen zu tun, 
was gegen ihr wie gegen jedes Menschen Innerstes und natlirlichstes 
Gefuhl geht, tiber die Grenzen der Befehle hinaus Krilppel und 
Sauglinge morden, die Weiber derer, die ihnen als „Feinde" de- 
nunziert sind, notzlichtigen, brennen und zerstoren, was ihnen in 
den Weg kommt ? Am Ende ist das alles ganz naturlich, wenn von 
oben herunter Mord befoheln wird und die christliche Religion der 
Liebe herhalten muss, um von der ausserirdischen Cerechtigkeit 
den Sieg zu erflehen Man sollte wahrlich anfangen, statt in billiger 
Entrustung liber fremde Blutschuld zu greinen, den Blick ins eigene 
Herz zu lenken. Die Voraussetzungen zu solchen Greueln, wie 
sie die Italiener in Tripolitanien vollftihren, sind tiberall gegeben, 
wo den Volkern zugemutet wird, das Versehen am Nachsten, Idas 
aus personlicher Gekranktheit, aus ehrlichem, von heisser Ueber- 
zeugung gelenktem Groll geboren sein kann, als infames Verbrechen, 
das sinnlose Wilten gegen recht- und willenlose Volker aber als 
heldenhafte Tapferkeit anzuerkennen. 



Der politische Kronprinz. Der lederne Kanzler hatte schwere 
Tage im deutschen Reichsparlament. Er musste so tun, als galte 
es, sein Marokkowerk gegen die patriotischen Volksboten konserva- 
tiver, klerikaler, liberaler und sozialdemokratischer Observanz zu 
retten, nachdem er diesen Herren bereits bewiesen hatte, dass 
sie gar nicht dreinzureden hatten. Der lederne Kanzler wurde 
heftig bedrangt. Konservative, Klerikale, Liberale und Sozialdemo- 
kraten bewiesen ihm, dass sein Werk schlecht sei, und dass das 
Deutsche Reich bei seinem Handel mit Marokkanern und Kongo- 
negern ein viel besseres Geschaft hatte machen konnen. Da griff 
sich der lederne Kanzler den konservativen Heerfiihrer heraus und 
vermobelte ihn zum Gaudium seiner klerikalen, liberalen und sozial- 
demokratischen Parteigegner. So wurde der Kanzlerstuhl, der schon 
wackeln wollte, geleimt, und Klerikale, Liberale und Sozialdemokraten 
freuen sich am jungen Glanze seines Leders und lobpreisen den Mann, 
der also tat. — Ach so! Ich wollte ja von dem politischen Kron- 
prinzen sprechen. Der glaubte — mit Recht, wie mir scheint — 
er sei im Theater, als er den ledernen Kanzler und den konserva- 
tiven Heerfiihrer in hellem Zorn Wahlparolen schmettern horte. 
Wenn es recht schon war, nickte er, klatschte in die Hande und 
schlug mit der Hand auf die Logenbrtistung. War es weniger 
schon, schiittelte er den Kopf und lachte hohnvoll. Wie Maxi- 
milian Harden in einem Vortrag in Berlin seinen Horern erzahlte, 
soil die sozialdemokratische Fraktion erwogen haben, ob man nicht 
den Prasidenten des Reichstags veranlassen sollte, den auffalligen 
Offizier aus der Hofloge hinauszuweisen. Der alte Bebel aber 
(dessen posthumes Gebaren immer possierlicher wird), habe das ver- 
hindert. Das Ende war, dass der temperamenthafte Herr zu- 
sammen mit dem ledernen Kanzler bei Kaisers soupieren musste. 
Die Patrioten aber fanden sein Benehmen ungemein herzig. Marokko 
und der Kongo, der lederne Kanzler, der konservative Heerfiihrer, 
die Klerikalen, die Liberalen, die Sozialdemokraten und die Wahl- 
parole — was gilt das alles gegen die erfreuliche Tatsache, dass 
wir wieder einen politischen Kronprinzen haben! 



— 143 — 

Wahlt! Wahlt! Himmelherrgott, haben die armen Sozialdemo- 
kraten zu tun! Die Gemeindewahl ist gliicklich iiberwunden. Wie 
zu erwarten war: Brandroter Sieg! Wie man hort, werden die 
Erwahlten daflir sorgen, dass in Zukunft die Mlinchener Brieftrager 
und Schutzleute statt blauer rote Uniformen bekommen, ferner 
aollen von jetzt ab die Hundefanger, die die offentlichen Lokale 
nach Vierfiisslern absuchen, durch Volksabstimmung gewahlt wer- 
den. — Dannn kommen die Reichstagswahlen. Dass die Sozi 
als starkste Mannschaft ins Wallotbrau einkehren werden, steht 
ausser Frage. „Unser das Reich — unser die Welt!" jubelte der 
„Vorwarts" schon 1903. Jetzt werden sie zeigen, was sie konnen. 
Ludwig Frank wird Reichskanzler und Wilhelm II. .nuss seine 
Ordres fortab aus der Kreuzbergstrasse beziehen. Alle burgerlichen 
Parteien werden in die sozialdemokratische sozusagen eingemeindet, 
alle Anarchisten dagegen durch Reichsdekret als Spitzel erklart; 
liber ihr sexuelles Vorleben werden amtliche Erhebungen veran- 
staltet, und das Resultat bestimmt jeweilig, ob der einzelne im 
Zuchthaus oder im Irrenhaus zu internieren ist. Nachher kommen 
noch die bayerischen Landtagswahlen. Auch da ist der rote Sieg 
so gut wie gesichert. Bayern wird alsdann zur Republik gemacht — 
President: Schuster Knieriem (der Mann heisst wirklich so.) Vor 
dem Munchener Kindlkeller wird ein Galgen aufgestellt. Wer 
in Bayern den Versuch macht, von einer angekundigten freien 
Diskussion Gebrauch zu machen, wird daran aufgeknilpft. Herrn 
v. Vollmars Geburtstag wird zum nationalen Feiertag erhoben. Alle 
Militarkapellen spielen an diesem Tage auf offentlichen Platzen das 
Lied: „Das freie Wahlrecht ist das Zeichen" — Wer sich im 
Besitz einer Ausweiskarte des Verbandes echt sozialdemokratischer 
Leute befindet, darf mitsingen. 

Wahlberechtigte, wahlt rot! Herrliche neue Zeiten sind im 
Anmarsch! 



Versammlungsbericht Am 30. November hielt im Namen 
der Gruppe „Tat" des Sozialistischen Bundes der Herausgeber dieser 
Hefte in der Schwabinger Brauerei einen offentlichen Vortrag iiber 
„Staat, Kirche. Polizei und Abhilfe". Der etwa 1000 Personen 
fassende Saal war uberflillt. Was der Redner sagte, wird sich der 
Leser des „Kains" ungefahr vorstellen konnen, wenn er gebeten 
wird, sich den Inhalt des Eingangsartikels dieser Nummer als 
Leitmotiv zu denken. Die Versammlung setzte sich aus Kiinst- 
lern, Schriftstellern, Anarchisten, Burgern, sehr vielen Studenten 
und dem Chefredakteur der „Munchener Neuesten Nachrichten" zu- 
sammen. Der Redner fand grossen Beifall; auch wurde auf Haus- 
schlilsseln gepfiffen. An der Diskussion beteiligten sich mehrere 
Akademiker und ein revolutionarer Arbeiter. Im Schlusswort fer- 
tigte der Referent die Lausbuben ab, die den Ort, wo erwachsene 
Menschen iiber sehr ernste Dinge verhandelten, als Statte ihres 
geistlosen Bierulks benutzten, bedauerte die Herzenskalte derer, die 
angesichts der Widerwartigkeiten der behordlichen Bevormundungen 
mit logischen Griinden den Appell an das revolutionare Gewissen 
freiheitlicher Menschen widerlegen wollten und forderte noch ein- 
mal zum Zusammenschluss derer auf, denen das Leben unter den 
bestehenden Verhaltnissen zum Ekel und unertraglich geworden sei. 



— 144 — 

Es schien angemessen, an dieser Stelle einen Bericht liber 
die Versammlung zu bringen, damit auch Leute etwas von ihrem 
Verlauf erfahren, die personlich nicht anwesend waren. Der Her- 
ausgeber dieser Zeitschrift hatte die „Miinchener Neuesten Nach- 
richten" und die „Miinchener Zeitung" gebeten, die Tatsache dass 
er einen Vortrag halten wolle, vorher mitzuteilen. Zugleich hatte 
er beide Zeitungen eingeladen, Vertreter hinzuschicken. Der kleri- 
kalen Presse wollte er aus im Thema begrundeten Bedenken nicht 
zumuten, eine ihr so unbequeme Notiz zu bringen. Die sozialdemo- 
kratische „Munchener Post" um eine Gefalligkeit zu ersuchen, wollte 
er sich selbst nicht zumuten. Die liberalen Blatter brachten aber 
in stillschweigender (oder telephonischer?) Uebereinstimmung die An- 
kilndigung auch nicht. Sie mlissen wohl gedacht haben, dass jetzt 
kein Mensch etwas erfahren konnte. 

Sie brachten auch nachher keine Silbe ilber die Versammlung. 
Mich kranken sie damit nicht. Das Publikum muss aber einmal 
gefragt werden, warum es eigentlich diese Art Zeitungen liest. Ver- 
mutlich doch, um zu erfahren, was in der Oeffentlichkeit vorgeht. 
Verschweigt ihm die Milnchener Presse eine Veranstaltung, an 
der ilber tausend Personen (und ein Chefredakteur) teilnehmen, 
so ist das Publikum um eine Tatsache, filr deren Mitteilung es 
sein Abonnementgeld bezahlt, betrogen. Psychologisch erklart sich 
die Diskretion der Blatter so: Die alldeutsch-nationalliberal-demokra- 
tische Presse hat eine Heidenangst vor allem, was nach Charakter 
und Wahrheit riecht. Sie traute ihren Reportern die Fahigkeit 
nicht zu, den Bericht ilber den Vortrag soweit zu falschen, dass 
nicht doch, Gott behilte, ein einleuchtender Gedanke stehen ge- 
blieben ware. Schweigend lilgt sich noch leichter als referierend. 
Ich personlich aber filhle mich, je toter ich geschwiegen werde, 
desto lebendiger. 



Wegen Platzmangels musste das Tagebuch aus dem Gefangnis in 
dieser Nummer ausfallen. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. lu.la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



KAIN, Heft 7. Inhalt: Bebel t- 



Gefangnis. 
Miinchen. 



- Miinchner Theater. 
K o r r e s p o n d e n z . 



— Tagebuch aus dem 
Kiew. — Mainz. — 



JvAlJN, Hell o. Justiz. — Tagebuch aus dem Gefangnis. — 
Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Der Kausen. — Zeit- 
fragen. — Tripolis und China. — Unser Bittinger. 



Pregrelationsbureau „ftanfa" 

Itltph. Ami tllodblt tin Berlin NW ZH ■*■ holJleln*r Ufer 7 ♦ 

Jnh.: Jng. in. Hraufe 
litfert allc Ilaflirirtitrn tiber 

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OlC tttllftC* OcdKftte. 1904. 111. 2.40. 

Dft Kt&tCt* eemmtc. 1909. m. 2.- 

QlC iJOdtjftdplCr* mwpiei. 1906. m.2.- 

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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

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Jahrgang I. No. 10. Januar 1912- 

KMN 

Zeit/chriftfur 

rien/ch(ich(\eir 

HemuJgeber; 




Inhalt: Der Humbng der Wahlen. — Bemerkungen. — Oaha. 
Die Speisung der Armen. — Der Lustmorder. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfg. 



Kain - Kalender 

fur das Jahr 1912 

ist erschienen. 



Preis 1 Mark. 



Zu haben in den Buchhandlungen und 

durch den KAIN-VERLAG, Munchen, 

Baaderstrasse la. 



Jahrgang I Miinchen, 

No. 10. Januar 1912 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Muhsam. 

»"'■' ' Ml It MM rTTTI I LI M„|, |,.| ,| ,,TJ |.,l,.|.,|..H.,|.,|.,|„n„|„ t „| ! n. llJ .Eili.ia| l .H,.CTiBT*.|a,'y.rf 

„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
Mir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes), Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Miinchen, Baaderstrasse la 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 

Mitarbeiter dankend verbeten. 

jhJ4.Jl.i iiiiiiii.iii i,i|..i,j., t,.tMt..i .i, h l .„i..tM. iaJTj .i..i..i..i.t.i..ii.i ,. t,,^.i,,i..i,ii,j,^,v.ti.h^ Tr^ ,i,j.,Li^4i4. . ran(i 

Der Humbug der Wahlen. 

Wir lesen taglich in den Zeitungen, Flugschriften und 
Wahlaufrufen der Liberalen und Sozialdemokraten, dass 
die Klerikalen finstere Gauche, scheinheilige Jesuiten, Ver- 
dummungsapostel und den gemeingefahrlichen Junkern 
treu verbriiderte Feinde jeglichen Fortschritts, jeglicher 
Entwicklung seien. Die Werbeschriften der Klerikalen 
aber behaupten, dass die Liberalen flachkopfige Interessen- 
politik treiben, Tropfe und hohle Schreier, die Sozial- 
demokraten hingegen rohe Demagogen sind und gewis- 
senlose Spekulanten auf die Leichtglaubigkeit der werk- 
tatigen Massen. Dass der Gegner Liigner, Verleumder und 
geschworener Volksfeind sei, beweist einer dem andern mit 
den biindigsten Belegen. — Seien wir hofliche Men- 
schen, und glauben wir, dass in der Beurteilung ihrer 
Feinde jede Partei die Wahrheit spricht. So haben wir 
denn nichts weiter zu tun, als auszusuchen, in wessen 
Gefolgschaft wir uns begeben, welcher dieser Gruppen wir 
flir die nachsten flinf Jahre die Wahrung unserer Inter- 
essen anvertrauen wollen. 



— 146 — 

Bekanntlich wird durch den AusfaU der Wahlen vom 
12. Januar das Schicksal des Deutschen Reiches besiegelt 
werden. Es soil sich namlich herausstellen, ob unter einer 
konservativ-klerikalen oder unter einer liberal- sozialdemo- 
kratischen Reichstagsmehrheit alles beim Alten bleibt 
Es soil sich entscheiden, ob wir weiterhin blauschwarze 
Tinte saufen miissen, oder ob wir uns an einer rotlich- 
gelben Melange den Magen verderben diirfen. Kurz und 
gut: Es geht um die letzten Dinge. 

Wahltag — Zahltag. Das deutsche Volk wird aufge- 
rufen, das eigene Gliick zu Schmieden. Gleiches Recht 
fur alle. Jede Stimme zahlt. Jede Stimme ist wichtig. Wer 
der Wahlurne fern bleibt, schneidet sich ins eigene Fleisch. 
Wer nicht wahlen will, muss flihlen. Wer keinen wahlt, 
wahlt seine Feinde. Wer im Reichstag nicht vertreten 
sein will, hat sich alles Unheil selbst zuzuschreiben. Auf 
gegen die Reaktion! Auf gegen die Verdummung und 
Verpfaffung! Auf gegen den roten Umsturz! Auf gegen 
den Freihandel! Auf gegen die Schutzzolle! Auf gegen 
die Lebensmittelverteuerung! Auf gegen die Feinde der 
Landbevolkerung! Auf fur Freiheit, Wahrheit und Recht! 
Auf fur die Erhaltung guter deutscher Sitte! Das Vater- 
land muss grosser sein! Wir halten fest und treu zu- 
sammen! Hurrah! Hurrah! Hurrah! 

Es gilt also wieder einmal, das einzige Recht aus- 
zuiiben, das der Deutsche hat. Wie denn: das einzige 
Recht? Seit 42 Jahren immer noch das einzige Recht? Da 
doch seine Ausiibung den Zweck verfolgt, den Deutschen 
Rechte zu schaffen? Erklare mir, Graf Oerindur, 
diesen Zwiespalt der Natur! 

Es ist in der Tat wahr: Das einzige Recht des deut- 
schen Mannes besteht darin, dass er im Laufe von funf 
Jahren einmal in eine verschwiegene Zelle treten und 
einen Zettel in ein verschwiegenes Gefass werfen darf, 
worauf er einen (ihm gewohnlich unbekannten) Mitmen- 
schen zum Fursprecher seiner Ueberzeugungen bestimmt 
hat. Bekommt ein anderer Kandidat mehr Stimmen, so 



— 147 — 

tritt der Wahler betriibt in den Hintergrund, bleibt fur die 
nachsten fiinf Jahre mit seinen Ueberzeugungen unver- 
treten und trostet sich mit dem erhebenden Gefiihl, dass 
er jedenfalls von seinem einzigen heiligen Recht Gebrauch 
gemacht und gezeigt hat, dass er auch mitreden kann. 

Aber warum so pessimistisch sein? Es ist ja mog- 
lich, dass zwei andere Kandidaten mit einander in Stich- 
wahl kommen, und der iiberstimmte Staatsbiirger hat 
nun die Entscheidung in der Hand: welcher ist der 
Wiirdigere? Wer wird meine Interessen besser vertreten? 
Wem kann ich mien soweit anvertrauen, dass ich ihn 
mit Generalvollmacht ins Parlament schicken darf? Seine 
Parteileitung sagt's ihm — und er wahlt und bewirkt mit 
seiner Stimme das Resultat. So kann also doch die 
an die Wand gedriickte Minoritat immer noch den stark- 
sten Einfluss haben auf die Konstellation der Partei- 
vertretungen? Kann sie auch. Hier ist ein Beispiel aus 
der Praxis: 

Man erinnere sich an die Vorgange, die den Reichs- 
kanzler Furs ten Biilow veranlassten, den vorletzten Reichs- 
tag aufzulosen. Dem Manne war seine Position unsicher 
geworden, und er benutzte eine oppositionelle Regung des 
Zentrums, das ihm von einer Kolonialforderung einen 
geringfugigen Abstrich machte, dazu, die Volksboten heim- 
zuschicken und das Volk unter dem Schlachtruf: Gegen 
die Schwarzen und gegen die Roten! an die Ume zu 
trommeln. Die Regierung kittete den famosen Block der 
Konservativen und Liberalen, und die Ultramontanen und 
Sozialdemokraten revanchierten sich mit der Verstandi- 
gung zu einer Stichwahlversicherung auf Gegenseitigkeit 
Die kaiserliche Regierung hatte geschickt gearbeitet, uud 
so ergaben die Hauptwahlen einen starken Erfolg ihrer 
Blocktruppen zum Schaden der Sozialdemokraten. Vor 
der Stichwahl sah man nun in Miinchen Plakate an den 
Tafeln kleben, auf denen etwa folgendes zu lesen war: 
„Wir danken der aufopfernden Hilfe der Sozialdemo- 



— 148 — 

kraten in verschiedenen Wahlbezirken Bayerns mehr als 
ein Dutzend Mandate. Zeigen wir uns erkenntlich! Treten 
wir bei den Stichwahlen in Miinchen Mann fur Mann 
fiir die sozialdemokratischen Kandidaten ein! Das Zen- 
trums-Wahlkomitee." Dass zur rechten Zeit der Herr 
Erzbischof eingrifF, die Parole des Komitees fur unkirch- 
lich erklarte und damit die Wahl des liberalen Kandi- 
daten in dem einen zweifelhaften Wahlkreis Miinchens 
sicherte, ist in diesem Zusammenhange unbetrachtlich. 
Die Kirche hat nie geheuchelt, dass sie andere Nutzlich- 
keiten als solche fur sich selbst suche. Lehrreich aber ist 
die Feststellung, dass eine grosse Anzahl von Reichs- 
tags sitzen nur mit sozialdemokratischen Stimmen fur das 
Zentrum gerettet werden konnte. — Nun besinne man 
sich auf das Walten des letzten, jetzt verabschiedeter« 
Reichstags. Seine bedeutsamste Tat war die Annahme 
jener Steuergesetze, durch die die notwendigsten und 
popularsten Bedarfsmittel in ganz massloser Weise ver- 
teuert wurden, und die die Lebenshaltung der iiberwiegen- 
den Mehrheit des deutschen Volks in beangstigendem 
Masse verschlechterten. Diese Gesetze hatten ohne ein 
starkes Zentrum nicht zustande kommen konnen. Das 
starke Zentrum aber ware — nach eigenem Gestand- 
nis — nicht vorhanden gewesen ohne die nachdruckliche 
Unterstiitzung der Sozialdemokraten, die ihre Stimmen 
bedingungslos den jetzt so gelasterten Volksfeinden zur 
Verfugung gestellt hatten. Jede ungezwungene Logik wird 
gestehen miissen, dass somit die unertragliche Belastung 
des Volks durch die neuen Steuem auf die parteioffiziose 
Leitung vieler tausender sozialdemokratischer Wahler zu- 
ruckzufuhren ist. — Die zahnefletschende Wut der sozial- 
demokratischen Agitation, wie sie jetzt gegen die Kleri- 
kalen anknurrt, wird man also nicht allzu feierhch zu 
nehmen brauchen. Vielleicht gehen die Roten das nachste 
Mai mit den Blauen. Wundern soil man sich iiber gar 
nichts. 



— 149 — 

Freilich sind die armen Sozi bei den Wahlen besonders 
iibel daran. Sympathisch sind sie mit ihrer unproduk- 
tiven Betulichkeit, mit ihrer anschmeisserischen Opposition 
und ihrer phrasenschwulstigen Alleswisserei niemandem, 
ausser den Kinderstuben-Politikern des „Berliner Tage- 
blatts". Man lasst sich schliesslich, wenn das Geschaft 
lohnend aussieht, von ihnen unter die Arme greifen. Nach- 
her gibt man ihnen den Tritt. Wahrend sich aber die so- 
eben derart emporgehobenen biirgerlichen Gegner von der 
peinlichen Beriihrung den Rock abputzen, schreien die 
Sozialdemokraten schon durchs Land, dass sie die Starken 
seien, die auf die eigene Kraft angewiesen sind. 

Nein, die Rolle, die die roten Herren im pohtischen 
Leben spielen, ist nicht beneidenswert. In der Theorie 
miissen sie immer noch so tun, als seien sie Sozialisten, 
Revolutionare, denen die kapitalistische Gesellschaftsord- 
nung ein Greuel ist, und deren Kampf ein konsequentes 
Sturmlaufen gegen Monarchic, Heer, Kapital und jeg- 
Uche Ungleichheit und Unfreiheit darstellt. In der Praxis 
aber posaunen sie lauter als irgendwer andres das Recht 
auf die Wahlstimme, das Recht, sich in der bescheidenen 
Form, die (zumal der deutsche) Parlamentarismus er- 
laubt, an der Verwaltung des so arg befehdeten Staats- 
wesens zu beteiligen. In der Praxis gilt ihnen das allge- 
meine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht als letztes 
Ziel ihres revolutionaren Strebens, und sie merken nicht, 
wie lacherlich sie selbst im Gesichtsfelde eines biirger- 
lichen Betrachters aussehen, da sie heute als hochste Sehn- 
sucht eine Forderung aufstellen, die unter den Forderun- 
gen der nationalliberalen Revolutionare von 1843 die unter- 
geordnete Komponente eines grossen Programms war. 

Die Teilnahme am Parlamentarismus war nicht immer 
der Inhalt aller sozialdemokratischer Aktion. Solange die 
Partei sozialistisch fuhlte und in Wahrheit den Umsturz 
wollte, lehnte sie die Wahlerei als Konzession an die 
kapitalistischen Staatseinrichtungen ab. Im Jahre 1860 



— 150 — 

warnte Wilhelm Liebknecht eindringlich vor diesem Schritt 
ins Lager der Feinde. Damals hob er auch die Konse- 
quenzen hervor, die das Beharren auf den revolutionaren 
Grundsatzen im parlamentarischen Leben zeitigen miisste. 
Damals kiindigte er die Kompagnie Soldaten an, 
die eine unbequeme Parlamentsmehrheit zum Tempel hin- 
ausjagen wiirde: 40 Jahre, bevor Herr v. Oldenburg- 
Januschau den Leutnant und die zehn Mann an die kahle 
Wand des Reichstagssaales malte. — Marx und Engels 
sprachen vom „parlamentarischen Kretinismus", und erst 
1890 entschloss sich die Partei, die „Jungen", die immer 
noch nicht unters Stimmjoch wollten, aus ihren Reihen zu 
weisen. 

Und gibt nicht die Entwicklung der Sozialdemokratie 
in diesen 42 Jahren parlamentarischer Betriebsamkeit den 
skeptischsten Befurchtungen recht? Was hat sie im Laufe 
dieser langen Jahrzehnte Positives erreicht, was einer 
Wandlung von kapitalistischem zu soziahstischem Gesell- 
schaftsgefuge entfernt ahnlich sahe? Man muss beschamt 
gestehen: garnichts. 

Und fragt man weiter, was infolge der sozialdemokra- 
tischen Parlamentstatigkeit auch nur innerhalb der gelten- 
den Ordnung zugunsten des arbeitenden Volks Nennens- 
wertes geschehen ist, so fallt die Antwort leider nicht 
viel giinstiger aus. Die Herren selbst weisen ja bei so 
unangenehmen Erinnerungen gewohnlich auf die herr- 
liche Arbeiterschutzgesetzgebung hin. Aber es muss zu 
ihrer Ehre gesagt werden, dass sie damals noch, als 
diese Verhohnung des Arbeiter-Elends ans Licht des 
Tages trat, dagegen stimmten, und wenn sie spater, in 
heller Angst, bourgeoise Sympathieen zu verlieren, ihren 
Standpunkt revidierten, so verrieten sie damit den letzten 
Rest ihrer sozialistischen Gesinnung. Ich habe das im 
Anschluss an Gustav Landauers ,Aufruf zum Sozialis- 
mus" in diesen Blattern ausfuhrlich exphziert (vgl. „Kain" 
Heft 3.) 



— 151 — 

In der positiven Arbeit hat also der ganze mit unge- 
heurer Miihe, ungeheuren Kosten, ungeheurer Energie 
und ungeheurer Ausdauer konstruierte Apparat der prole- 
tarischen Parlamentspolitik versagt. Angeblich soil er sich 
aber sehr bewahrt haben, wenn es gait, reaktionare 
Beschliisse der iibrigen Parteien zu verhindern. Auch auf 
diese Behauptung darf man vernehmlich fragen: Was habt 
ihr verhindert? Wo habt ihr etwas verhindert? Wie habt 
ihr es verhindert? 

Die grosste Mandatzahl hatten die Sozialdemokraten 
in der Legislaturperiode von 1903 — 1907. Sie verfugten 
damals zeitweilig iiber mehr als achtzig Sitze. In jener 
Zeit aber wurde Deutschland mit der Wiedereinfuhrung 
hoher Schutzzolle begliickt, gegen die wiitende Opposition, 
ja Obstruktion der 80 Revolutionare, die ubrigens ohne 
Mitwirkung der Liberalen (damals: Liberale Vereinigung) 
gamicht gewagt hatten zu obstruieren. Die Sozialdemo- 
kraten haben es mit all ihrem Krakehl nicht zu verhindern 
vermocht, dass Herr v. Tirpitz uns ein Flottengesetz 
nach dem andern bescherte. Das biirgerliche Gesetzbuch, 
das Vereinsgesetz, samtliche Kolonialgesetze mit all ihren 
militarischen Folgerungen sind trotz ihres Widerspruchs 
in ihrer Anwesenheit beschlossen worden. 

Man rede nicht von den paar Gesetzentwiirfen, die 
von der Regierung eingebracht und vom Reichstage ab- 
gelehnt wurden. Die „Zuchthausvorlage", das „Umsturz- 
gesetz" waren Totgeburten, weil die geschaftskundigen 
Burger, die im Reichstage sitzen, viel zu intelligent sind, 
um sich nach den Erfahrungen mit dem Sozialistengesetz 
noch in solche Wespenneste zu setzen. Hatten die biirger- 
lichen Mittelparteien diese Gesetze gewollt, dann hatten 
die Sozi sich auf den Kopf stellen und mit den Beinen 
strampeln konnen — sie hatten sie gekriegt. 

Im Parlament geht es eben demokratisch zu: die 
Mehrheit hat recht, die Minderheit hat unrecht. Die So- 
zialdemokraten sollten die Letzten sein, die das beman- 



— 152 — 

gelten. Sie verkiinden ja dies Prinzip als uniibertreff- 
liche Gerechtigkeit. Ihr ganzes Streben bei den Wahlen 
selbst geht ja dahin, durch eine zuverlassige Geometrie 
der Wahlkreise die absolute Majoritat wirklich auszu- 
mitteln, um die Minderheit damit knebeln zu konnen. Ge- 
wiss ist das Streben nach gleicher Wahlkreiseinteilung 
berechtigt, wenn man iiberhaupt das parlamentarische 
Prinzip will. Aber dieses parlamentarische Prinzip selbst, 
scheint mir, ist eine Absurditat, ein Humbug, ein Prinzip 
der Ungerechtigkeit. 

Zunachst: die iibergrosse Mehrheit der Menschen 
ist vom Wahlen eo ipso ausgeschlossen. Die gesamte 
Halfte der Menschheit, die nicht Hosen sondern Rocke 
tragt, gilt in unsern erfreulichen Zeitlauften als geistig 
unterbegabt. Jeder Dorfkuster hat infolgedessen grossere 
Rechte als etwa einer Madame Curie, einer Duse oder 
Ebner-Eschenbach zugebilligt werden konnten. Es ist zu 
dumm, als dass man es tragisch nehmen sollte. — Aber 
gleichzeitig sind hunderttausend Soldaten, und alle die 
vielen ausgeschlossen, die grade in Gefangnissen und 
Zuchthausern sitzen, und sogar alle solche, die dem Staate 
als Arme „zur Last fallen". Gewiss: hier mochten die 
Sozialdemokraten manches andern (die Liberalen iibrigens 
auch). Aber sie konnen es nicht andern, und anderten 
sie es, so ware auch weiter nichts erreicht, als dass dem 
Parlamentarismus eine Spur von dem sittlich Widerwarti- 
gen genommen wiirde, das ihm anhaftet. 

Die Ungerechtigkeit bleibt auch bei Zulassung der 
Frauen, Soldaten, Armen und Gefangenen und selbst bei 
Einfuhrung des konsequentesten Proportionalwahlsystems 
bestehen, dass sich unter die Mehrheitsbeschliisse eines 
Parlaments jede Minderheit zu beugen hat, die sich da- 
durch vergewaltigt fuhlt. Die Ungerechtigkeit vor allem 
ist unertraglich, dass von eine; Zentralstelle aus durch 
Schacher und Kompromisse aller Art Gesetze ausgebrutet 
werden, die zugleich fur alle Menschen eines grossen 



— 153 — 

Landes Geltung haben, deren Bediirfiiisse und Anspriiche 
auf ganz verschiedenen geographischen und Charakter- 
Grundlagen beruhen. Ein Parlament kann nur dann niitz- 
lich wirken, wenn es ausschliesslich ein Institut zur Aus- 
sprache und Verstandigung im Einzelfalle gleichmassig 
interessierter Menschen wird, ein Institut also, zu dem 
jede Meinung ihre Vertreter mit imperativem Mandat 
entsenden und an dem jeder Einzelne auch personlich 
mitwirken kann. Es ist klar, dass solche gemeinsamen 
Interessen immer nur zwischen Menschen bestehen kon- 
nen, die entweder durch eine sittliche Idee oder aber 
durch praktische, sich aus raumlicher Narbarschaft er- 
gebende Notwendigkeiten mit einander verbunden sind. 
Entstaatlichung der Gesellschaft, Dezentralisation ist also 
anzustreben, um einen Zustand zu erhalten, in dem die 
Menschen Beratungen pflegen konnen, ohne einander 
die Luft abzuschniiren zu brauchen. 

Es mag noch ein Einwand erledigt werden, mit dem 
man die Beteiligung am Parlamentarismus haufig ver- 
teidigen hort. Das ist das Bediirfnis prominenter Person- 
Uchkeiten, sich von Tribiinen mit weiter Akustik reden zu 
horen. Nun zeigt aber ein Blick in die Sitzungssale deut- 
scher Parlamente, dass die Redepulte dieser Anstalten 
gemeinhin von alien eher als von iiberragenden Person- 
Uchkeiten bestiegen werden. Das liegt zum einen Teil an 
der Einflusslosigkeit des Parlaments auf die Geschicke 
der Volker, zum andern Teil am Reintichkeitsbedurfnis 
betrachtlicher Leute, die wissen, dass sie Einfluss nur 
gewinnen konnen, wenn sie sowohl ihren Charakter wie 
ihre Intelligenz zu Konzessionen bereit halten. In Wirk- 
lichkeit ist aber auch garnicht einzusehen, wieso derm 
ein Reichstagsabgeordneter etwa freier aus sich heraus- 
reden konnte als ein Volksredner oder Publizist, der 
ehrhche eigene Ansichten zu vertreten hat. Wer gehort 
werden will, der wird sich auf die Dauer Gehor verschaf- 
fen, und wenn selbst der willenlosen Menge von ihren 



— 154 — 

journalistischen Seelsorgern das dickste Totschweigewachs 
in die Ohren getraufelt wird. 

Das Wort aber, das ans Volk direkt gerichtet wird, 
hat allemal starkere Wirkungen auf die Ereignisse als das, 
das unter taktischen Verschnorkelungen auf dem Umweg 
iiber Parlamentsstenogramme zu ihm gelangt. Denn 
der Burger hat sich ja mit der Wahl eines Vertreters 
der eigenen Aktionsbereitschaft begeben und verzichtet 
von vornherein darauf, aus dem, was er aus dem Sitzungs- 
saal vernimmt, andere Schliisse zu Ziehen, als solche, 
die sich auf die Auswahl des in fiinf Jahren zu entsenden- 
den Vertreters erstrecken. Der Appell ans Volk selbst 
aber kann unmittelbares Eingreifen in die Geschichte eines 
Landes bewirken. Noch ein Beispiel aus der Praxis der 
Sozialdemokratie. 

In den romanischen Landern hat man mit der An- 
wendung umfassender Streikaktionen sehr gute Erfah- 
rungen gemacht, wenn man damit politischen Unzutrag- 
lichkeiten begegnen wollte. In Deutschland wurde dieses 
Mittel der direkten Massenaktionen von den Anarchisten 
und SyndikaUsten solange propagiert, bis es in Arbeiter- 
kreisen Anklang fand und die sozialdemokratische Partei 
sich um den peinhchen Gegenstand nicht langer herum- 
driicken konnte. Vor einigen Jahren kam die Sache auf 
einem Parteitage zur Sprache und man entschloss sich, 
den politischen Massenstreik als Kampfmittel in das Waf- 
fenarsenal der Arbeiterschaft einzustellen. Um aber nicht 
den alten Aberglauben von der allein seligmachenden 
Wahlerei zu erschiittern, erklarte man, der pohtische Mas- 
senstreik solle nur angewandt werden, wenn es gelte, 
ein gefahrdetes Wahlrecht zu verteidigen oder in Landem 
mit unfreiem Wahlrecht ein freieres zu erzwingen. Man 
gab also zu, dass das Volk selbst, wenn es Forderungen 
durchsetzen wolle, die mit dem Parlamentarismus nicht 
zu erzwingen sind, iiber das starkere Mitte! verfuge. 
Man reservierte aber das starkere Mittel zu dem ein- 



— 156 — 

zigen Zweck, das schwachere Mittel zu schiitzen. Wie 
konsequent die Herren Sozialdemokraten diesen Stand- 
punkt wahren, beweist ihr Verhalten den Anregungen 
gegeniiber, einer Kriegsgefahr mit dem Massenstreik zu 
begegnen. Sie konnten sich dadurch — das haben sie 
selbst zugegeben — ihre Position im parlamentarischen 
Schachergeschaft erschweren. 

Man iiberlege einmal: Wenn alle die unzahligen Mil- 
lionen, die im Laufe von vier Jahrzehnten fur die Agita- 
tion zu den Wahlen verausgabt wurden, benutzt waren, 
um revolutionare Genossenschaften zu beleben, wenn alle 
zum Stimmenfang verbrauchte Arbeitskraft in produk- 
tiver Arbeit tatig gewesen ware, um den eigenen Unter- 
halt unabhangig von der kapitalistischen Ausbeutung zu 
beschaffen, wenn also alle Propaganda der Vorbereitung 
des Volkes zur Uebernahme der Produktionsmittel in 
eigene Regie gedient hatte — zweifelt jemand, dass unser 
gesellschaftliches Sein ein sehr anderes, ein sehr viel er- 
freulicheres Bild bote als heute? Aber die Masse wird 
von ihren streberischen Fiihrern geflissentlich in Untatig- 
keit gehalten. Ueberall wird ihr der Wille der „Vertre- 
ter" aufoktroyiert, und mit dem Humbug der Wahlerei 
wird ihr vorgespiegelt, dass sie selbst die Herrin ihrer 
Geschicke sei. 

Ob und wen alle diejenigen wahlen, die im Prinzip 
mit der geltenden Staatsordnung einverstanden sind, 
scheint mir sehr wenig belangvoll. Jedes Parlament, ob 
seine Mehrheit links oder rechts vom Prasidenten sitzt, 
ist seiner Natur nach konservativ. Derm es muss den 
bestehenden Staat wollen — oder abtreten. Es kann 
nichts beschliessen, was den Bestand der heutigen Ge- 
sellschaft gefahrdet, also auch nichts, was denen, die 
unter der geltenden Ordnung leiden, ntitzt Die Ent- 
scheidung fur diesen oder fur jenen Kandidaten ist nicht 
die Frage des Stichwahltages. Die Frage heisst: Soil 
ich uberhaupt wahlen oder tue ich besser, zu Hause zu 



— 156 — 

bleiben? Ueberlege jeder, dass er mit jedem Schritte, 
den er zum Wahllokal lenkt, sich offentlich zur Erhaltung 
des kapitalistischen Staatssystems bekennt. Frage er sich 
vorher, ob er das tun will. Wer aber denen glaubt, die 
vorgeben, durch Ansammlung von moglichst vielen Stim- 
men, mogen sie gehoren, wem sie wollen, die Fahigkeit 
zu erlangen, in parlamentarischer Diskussion sozialisti- 
sche Anspriiche zu ertrotzen, dem sei erklart: solche 
Behauptung ist blanker Schwindel. 

Bemerkungen. 

Oaha. Frank Wedekinds „Oaha", das frilher schlicht „Schau- 
spiel" hiess, ftihrt jetzt den Untertitel ,, Satire der Satire". Der 
Ausdruck ist nicht besonders glucklich. Man wlinscht nicht, schon 
in der Ueberschrift eines Werkes den Kommentar des Dichters zu 
finden. Die auch sprachlich misslungene Wendung („Satire auf die 
Satire" ware besser gewesen) wird aber als kulturhistorisches Zeugnis 
zeitgenossischen Banausengeistes die Kummerlichkeit derer uberdauern, 
die Wedekind zu der Konzession an den guten Geschmack der Polizei 
genotigt haben. „Oaha" ist keineswegs, wie das Kausen) log, ein 
„Bordellstuck", sondern es behandelt in sehr amusanter Weise die 
Entthronung eines Witzblattverlegers durch seine Satiriker. Der 
Dichter benutzt zum Teil gewisse allgemein bekannte Tatsachen, 
die sich vor einigen Jahren in den Redaktionsraumen des bekanntesten, 
scharfsten und klinstlerisch feinsten satirischen Blattes zutrugen. Nun 
kann man der Ansicht sein, dass die tatsachlichen Unterlagen einer 
Dichtung keinen Menschen etwas angehen (man lese, was Thomas 
Mann in seiner ausgezeichneten Broschtire „Bilse und ich" ttber diesen 
Gegenstand geschrieben hat). Die Munchener Polizei ist jedoch 
nicht dieser Ansicht, Mit dem ihr eigenen Scharfsinn fand sie 
heraus, dass mit den Personen des Wedekindschen Schauspiels be- 
stimmte Personen gemeint sein mlissten, deren Namen mit jener 



') Ich bin nach meinem Artikel „Der Kausen" von sehr vielen 
Seiten darauf aufmerksam gemacht worden, dass der Herausgeber 
der Zotenanthologie „Die allgemeine Rundschau" schon von dem 
verstorbenen Begrtinder des „Bayerischen Vaterlands", Dr. Sigl, 
konsequent „das Kausen" genannt wurde. Da durch den sachlichen 
Artikel die Eigenschaft des Mannes als sittliche Einrichtung deutlicher 
zur Geltung kommt, als durch den mannlichen, soil hier fortan die 
Siglsche Tradition zu Ehren kommen. Dr. Armin Kausen und 
Otto v. Erlbach (der Thamerus behauptete neulich eine besondere 
Identitat zu haben) werden hier also von jetzt ab „das Kausen" 
heissen. 



— 167 — 

satirischen Zeitschrift in Zusammenhang zu bringen sind, und da ihr 
Scharfsinn !zu der Erkenntnis nicht ausreichte, dass die Figur in 
einem Kunstwerk immer eine andere ist, als das lebendige Modell, 
so erklarte sie „Oaha" fur ein „Schlusselstuck" und verbot es. 
Die Mitarbeiter des aggressivsten deutschen Witzblattes, das die 
Polizei schon oft sehr empfindlich geargert hat, und an dem sich 
die Polizei durch zahllose Konfiskationen rachte, befinden sich jetzt 
also in der peinlichen Lage, durchaus gegen ihren Willen von einer 
betriebsamen Polizeibehorde gegen angebliche Verhohnungen beschutzt 
zu werden. Die Henne, die aus Angst, es konnte ein Blitz drein- 
schlagen, mit schirmenden Fittichen um einen Fuchsbau gackert: 
dieses Bild bietet gegenwartig die von einem nachgerade berilchtig- 
ten Zensurbeirat bediente Munchener Polizei. 

Der liebe Zensurbeirat. Das ist eine verflucht gescheite Ein- 
richtung. Lauter von der Polizei ausgesuchte Herren, die unter 
absoluter Sicherung des Beichtgeheimnisses, dem Polizeiassessor (der 
neuerdings Roth heisst) Winke geben, wie der Geist mit dem Sabel 
bevormundet werden kann. Die Polizei war sehr sorgfaltig bei der 
Auswahl der Herren. Sie hat daflir gesorgt, dass sie stets eine 
Majoritat hat, mit der sich im Geiste der Weinstrasse arbeiten 
lasst. Hat sie diese Majoritat aber einmal nicht, so hat sie sich 
immerhin vorbehalten, auch selbstandig und unter Ausschaltung 
des Zensurbeirats zu entscheiden. Ein paar freiheitlichere Renom- 
mier-Zensoren hat sie sich weislich ebenfalls engagiert. Da kein 
Mensch erfahrt, welches Urteil der Einzelne abgegeben hat, sieht 
ein geachteter Name in der Liste der Zensurbeirate immer hubsch aus. 

Einer von ihnen hat jetzt endlich der Polizei sein Ehrenamt 
hingeschmissen: Dr. Max Halbe, dessen prinzipielle Abneigung gegen 
Polizeieinmischungen in geistige Angelegenheiten schon lange bekannt 
war. Er hat wohl eingesehen, dass in Gemeinschaft mit der Polizei 
in freiheitlichem Sinne nicht zu wirken ist, und dass sein guter Name 
nur als Aushangeschild fur die Loyalitat der Behorde dienen sollte. 
Dass Halbes Beispiel bisher ohne Nachahmung geblieben ist, lasst 
in die Psychen der iibrigen Zensurbeirate tief hineinblicken. Einer von 
ihnen heisst Dr. Georg Kerschensteiner und ist Stadtschulrat und 
Reichstagskandidat der liberalen Partei Munchens. In dem Wahl- 
aufruf, in dem der liberale Herr so freundlich war, um meine Stimme 
zu werben, versichert er, dass er sich der „sorgenvollen Erwagung" 
nicht entziehe, „dass das Deutsche Reich als Weltmacht nur 
kraftvoll und in eiserner Wehr zu Wasser und zu Lande seine . . . 
Interessen als nationaler Machtfaktor wahren kann." Bravo, Herr 
Dr. Kerschensteiner ! Das nenne ich mir ein liberates Mannes, 
wort. Nun aber gestatten Sie mir, da ich ja doch wahlberechtigter 
Anwohner Ihres Wahlkreises bin, die Anfrage: Erkennen Sie der 



— 158 — 

Polizei das Recht zu, dichterische Werke durch ihren Machtspruch der 
offentlichen Wirkung zu entziehen ? Haben Sie als liberates Mit- 
glied des Zensurbeirates jemals fur die Unterdrilckung eines Theater- 
stlicks gestimmt ? Waren Sie fiir oder gegen die Zulassung der annoch 
von der Zensur verbotenen Werke Frank Wedekinds ? Von welchen 
Gesichtspunkten lassen Sie sich bei Ihrem Urteil ilber kunstlerische 
Dinge leiten? Da Sie verklinden: Munchen soil eine liberate Stadt 
sein und bleiben! werden Sie gewiss bereit sein, diese Fragen 
in liberaler Weise zu beantworten. Der „Kain" stellt Ihren Darle- 
gungen den Raum gern zur Verfiigung. 



Die Speisung der Armen. Die Fursorge fiir die Armen und 
Elenden, wie sie in unseren Zeiten zutage tritt, wird leider von denen, 
fiir die sie geiibt wird, gar nicht genligend anerkannt. Der Hungernde 
findet immer noch zum Amtsvorstand, der ihm eine Suppenmarke 
gibt, fur den Frierenden sammelt man in Krippen die abgelegte Klei- 
dung der Reicheren, und selbst den Obdachlosen nimmt mit Frau und 
Kind ein staatlich unterhaltenes warmes Asyl auf. Zu Tausenden 
hocken sie da beieinander und harren der Suppe, die ihnen am 
Abend aufgetragen wird, und der Stunde, wo sie sich — hundert 
Personen in einem Saal — zur Ruhe niederlegen dilrfen. Das Trau- 
rige aber ist, dass diese Leute begehrlich sind und noch immer nicht 
zufrieden mit all den Wohltaten, die ihnen erwiesen werden. 
Nicht einmal sparsam sind sie. Haben sie wirklich ein paar erbettelte 
oder gestohlene Kupferpfennige in der Tasche, so heben sie das 
Geld nicht etwa auf, bis es genug ist, um damit zur Sparkasse zu 
gehen. Nein, — sie kaufen sich daflir Schnaps, saufen sich daran 
voll und wundern sich nachher, dass sie in Schmutz und Jammer 
leben. Sogar an der guten Suppe haben sie nicht genug. Sie 
wollen noch etwas Besonderes und uberfressen sich an allerlei Ess- 
waren, die spekulative Geister in den Asylen feilhalten. Es ist 
schon arg: alle Milne geben sich edeldenkende Menschen mit diesem 
Gesindel — und zum Dank fur alle Aufopferung schlingen die 
Leute fauliges und giftiges Zeug in sich hinein und krepieren 
scharenweise, wie zur Verhohnung derer, die es gut mit ihnen 
meinten. Die aber haben Boses mit Gutem vergolten. Sie haben 
am Massengrabe der leichtfertigen Vergifteten nicht danach gefragt, 
ob die Fleppe des Toten den Namen eines oft bestraften Diebes oder 
Zuhalters aufwies; sie haben sich gesagt; im Tode sind alle Men- 
schen gleich, und haben den Zylinder in der Hand gedreht und das 
Bedauern der gesamten Oeffentlichkeit in die Falten ihrer Mienen 
gelegt. Strafen und um ihrer Verkommenheit willen verabscheuen 
kann man die Ueberlebenden. Den Eingegangenen tropft eine christ- 
liche Trane nach. 

In der Reichshauptstadt war man sehr eifrig, um festzustellen, 
von welchem Gift das Weihnachtsmahl der Asylisten in der Frobel- 
strasse gewilrzt war. Die Aerzte meinten, es milssten verfaulte Blick- 
linge gewesen sein; die Polizei stellte fest, dass es statt Schnaps 
Methylalkohol gegeben habe. Da die Aerzteschaft um der Un- 
fehlbarkeit ihrer Wissenschaft willen, die Polizei wegen der Autoritat 
nicht nachgeben konnte, einigte man sich dahin, dass sowohl ver. 



— 159 — 

faulte Bucklinge als auch Methylalkohol als Todesursache anzusehen 
seien, und es wird dafilr gesorgt werden, dass allzu billige Speisen 
und Getranke furderhin keinen Eingang mehr in die Herbergen der 
Obdachlosen finden sollen. Denen, die bisher wahlen konnten, ob sie 
an Hunger oder an Gift sterben wollen, soil die zweite Moglichkeit 
fortan aus sozialen und hygienischen Grilnden verwehrt werden. 



Die „Munchener Post", sozialdemokratisches Spezialorgan fur 
Entlarvung nichtsozialdemokratischer Geschlechtlichkeit, besitzt die 
bodenlose Unverfrorenheit, bei der vorgeschriebenen Beweinung der 
Opfer der Frobelstrasse „die Aermsten und Elendesten" mit sozial- 
gefilhltem Schmalz zu betraufeln. Seht doch die biederen Ratgeber 
auf dem Kleinkapitalsmarkt ! Seht doch die sauberen Buchmacher 
auf dem Rennplatz der Tarifmeierl Seht die Heuchler und Pharisaer! 
Sie entdecken ihr frommes Herz — vierzehn Tage vor den Reichs- 
tagswahlen. Wartet, Burschen! Ich mochte euerm Gedachtnis auf- 
helfen, damit nicht ihr noch sonst jemand denke, euer menschen- 
freundliches Gegreine sei Natur, damit vor alien die „Aermsten 
uhd Elendesten", die ihr jetzt fur eure Parteiplane braucht, wissen, 
was fur Freunde sie an euch haben. 

Es ist etwas fiber ein Jahr her, da hielt der Reichstagsabge- 
ordnete Dr. Ludwig Frank im Munchener Kindlkeller einen offent- 
lichen Vortrag liber die politische Lage in Deutschland. Ich be- 
schloss, in der Diskussion zu sprechen und schrieb an Herrn Dr. 
Frank, den ich seit Jahren personlich kenne, einen Brief, in dem 
ich ihn bat, er mochte dafur sorgen, dass ich diesesmal von dem 
Recht der freien Meinungsausserung ungefahrdet Gebrauch machen 
konnte. Ich hatte es namlich schon mehrfach er ebt, dass die demo- 
kratischen Herren, wenn ich reden wollte, ihre folgsame Herde 
unter den schamlosesten Verleumdungen auf mich gehetzt hatten, 
und es gibt in Mlinchen Tausende Personen, die gesehen haben, 
wie ich unter der Anstachelung durch die „Fuhrer" in sozialdemo- 
kratischen Versammlungen tatlich insultiert wurde und buchstablich 
in Lebensgefahr geriet. Warum? Weil ich es unternahm, mich vor 
diesen „Sozialisten" fur die gleichen „Aermsten und Elendesten" ein- 
zusetzen, die jetzt der treuen Fursorge und Sympathie der Mlin- 
chener Post" versichert werden. In jener Frank-Versammlung gab der 
Vorsitzende, der hier schon erwahnte Schuster Knieriem, das mit 
der plumpsten Ehrlichkeit zu. Als ich mich namlich zum Wort ge- 
meldet hatte — es war vorher erklart worden, dass nach alter 
demokratischer Gepflogenheit jeder Gegner frei heraus sprechen 
diirfe — verklindete der Herr: „Zum Wort gemeldet hat sich nur 
der Ihnen ja sattsam bekannte Schriftsteller Muhsam. Das ist der 
Hauptbeteiligte aus dem Sollerprozess. Ich glaube, in Ihrem Sinne 
zu handeln, wenn ich einem solchen Menschen das Wort verweigere." 
— Der „Sollerprozess" war gegen mich und einige meiner Freunde 
gefiihrt worden, weil wir uns der Gaste, die in der Munchener 
Elenden-Kneipe, dem „Soller", verkehrten, angenommen hatten und 
bemtiht waren, ihnen durch Zufiihrung sozialistischer Ideen ihr 
klagliches Los ertraglicher zu machen. Wir wurden von den burger- 
lichen Richtern, die fiber uns judizierten, freigesprochen, die Mun- 
chener Sozialdemokraten aber erkannten uns wegen der Beteiligung 
an diesem politischen Prozess die politischen Ehrenrechte ab, und 



— 160 — 

Herr Abgeordneter Dr. Frank, seit langen Jahren mein personlicher 
Bekannter, horte das mit an und schien einverstanden. 

Die „Munchener Post" ist nur eine bescheidene Beule am 
Pestkorper der sozialdemokratischen Partei. Sie hat aber den Vorzug, 
ofter als irgend ein anderes Geschwiir ihre heuchlerische Ver- 
logenheit zu demonstrieren. — Die „Aermsten und Elendesten" haben 
den Eiter schon wiederholt fliessen sehen. Sie halten ihn schon 
lange nicht mehr fur Tranen der Nachstenliebe. Sie spucken aus 
und gehen ihrer Wege. 



Der Lustmorder. Der Zimmermaler Anton Speckner ist in 
Bayerischzell verhaftet worden und hat eingestanden, die elfjahrige 
Frieda Pracher im sexuellen Rausch umgebracht zu haben. Er will 
der Kleinen, um sie am Schreien zu verhindern, den Mund zugehalten 
haben, wobei sie erstickt sei. In der Tat wurde ja als Todes- 
ursache Erstickung festgestellt. Es handelt sich also strafrechtlich, 
wie es scheint, um Verfiihrung eines Kindes in idealer Konkur- 
renz mit fahrlassiger Totung. Das sei in aller Niichternheit vermerkt, 
ehe das Rachegezeter der Presse gegen den „Lustm6rder" diejenigen 
suggeriert, die als Geschworene ttber Speckner zu Gericht zu sitzen 
haben. 

Man beruhige sich. Ich finde die Tat des Mannes keineswegs 
schon. Ich will diese Tat auch nicht verteidigen, wohl aber den Mann, 
der sie beging. Speckner hatte vor wenigen Wochen das Zucht- 
haus verlassen, in dem er vier Jahre zugebracht hat. Er ist 25 Jahre 
alt. Manniglich weiss, dass der Strafvollzug in Gefangnissen und 
Zuchthausern ganzliche Geschlechtsenthaltsamkeit in sich schliesst. 
Speckner war also vom 21ten bis zum 25ten Lebensjahr zwangsweise 
Von jedem Verkehr mit Frauen abgesperrt. Dass eine derartige 
Tortur die Geschlechtsnerven in furchterlicher Weise martern muss, 
liegt auf der Hand, und es ist sehr begreiflich, dass ein nach langer 
Zeit aus der Gefangenschaft befreiter Mensch hemmungs- und willenlos 
seinen entfesselten Trieben folgt. Es sei dem Verteidiger des ungllick- 
lichen Morders dringend nahe .gelegt, den Geschworenen aufzu- 
zeigen, wie leicht die Sittlichkeit, die in den Gefangnissen die 
Naturbedilrfnisse der Menschen hungern lasst, allein verantwortlich 
wird fur kriminelle Unsittlichkeiten. Die Verweigerung der Ge- 
schlechtsbetatigung in den Strafanstalten gehort zu den brutalsten 
Begleiterscheinungen des herrschenden Systems. Anton Speckner 
ist ein Opfer dieser unsinnigen Grausamkeit. Er ist unseres Mit- 
leids nicht weniger wert als die arme kleine Frieda Pracher. 



Wegen Raummangel musste das Tagebuch aus dem Gefangnis auch 
in dieser Nummer ausfallen. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



Notizen. 

Ich werde um Abdruck folgender Mitteilung ersucht: 
Ein Fachschriftsteller-Kongress findet am 17. und 18. Mai in 
Berlin statt. Derselbe wird von dem soeben gegriindeten Fach- 
schriftsteller-Verbande veranstaltet. Mitgliederverzeichnisse, Bedingun- 
gen usw. versendet der Allgemeine Schriftstellerverein, Berlin W. 
Goltzstr. 23, unentgeltlich. 

Der „Kain" wird in Zukunft nicht mehr an einem bestimmten 
Tage erscheinen, da es dem Herausgeber lieber ist, seine Zeit nach 
Stimmung und Bequemlichkeit einzurichten. Da.s Blatt soil nach Mog- 
lichkeit in der ersten Halite jedes Monats fertiggestellt werden. 
Die Abonnenten werden aber gebeten, bei kurzen Verzogerungen 
nicht ungeduldig zu werden. E. M. 



Pregrelationsbureau „ftanfa" 

Ulcpb. Him mojbtr tin Berlin NW t*3 ♦ tiolftetner Ufrr 7 -«• 

Jnli.: J mi 111. Kr.uifr 

iiffrrt allt Ilaainrtltcn uber 

Kunft, literatur, roiffenftSaft 

frt)ticll — iioiift jndiii — preisuiert. 

Hkademird) und litrranfrti gebildete lebtorm. 
Uorzii glidic Organifdtion 1 



Bitte hier abzutrennen. 



Bucherzettel. 



An 



Mit 
3 Pfennig 



frankieren. 



Don 

erift miiftfam 

crfdiifiicn folgende BU<Dcr. 



OlC IttllftC* et&mt. i9M. m. 2.10. 
Dft KtdtCt* ecdt(6te. 1909. m. 2.- 
DlC IiOd)ft3plCr* mwpiei. 1906. m.2.- 

Zu btEictjcn durd) icilc Budtjfcandlung unci den 
KdiivUcritig, niundifn, BaadcrfttaBe la. 



Bitte hier abzutrennen. 



Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Adresse: 



Name: 



fc ) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgang I. No u Februar 1912 

KAlN 

Zeit/chriftfur 

hen/chd'chM 
Hemuigeber; 

(rich Huh fm 




Inhalt : Fasching-. — Tagebuch aus dem Gefangnis. — Miinchner 
Theater. — Bemerkungen. — Georg Heym. — Vom politischen 
Kasperltheater. — Abel. — Mlinchen-Schilda. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfg. 



Wiederholt machen wir auf den im Kain- 
V e r 1 a g erschienenen 

Kain-Kalender 



:: fur das Jahr 1912 :: 

herausgegeben von ERICH MUHSAM 

aufmerksam. 

Die in Wien erscheinende Zeitschrift „Wohl- 
stand filr Alle" schreibt: Ein wunderhiibsches 
Neujahrsgeschenk bereitet uns der Dichter, unser 
Kamerad Miihsam, mit diesem Kalender eines 
Geachteten, der das Kainszeichen einer freien, 
edlen Gesinnung tragt. 

Der Gediegene Inhalt umfasst ein Kalen- 
darium, Aufsatze und Gedichte iiber Tolstois 
Tod, Anarchie, Schwiile Nacht, Die Freivermahl- 
ten, Fleischeslust, Thekla, Volksfestspiele, Ver- 
such einer Reformation der Sprichworter, Gol- 
gatha, Carmen; mit dem schneidenden Gedicht 
„Im Bruch" findet das reichhaltige Biichlein sein 
Ende, 

Ein Bildnis des Dichters schmiickt das Band- 
chen und macht es dadurch vielen Geistesfreun- 
den seiner Poesie umso wertvoller. 

Der Preis von K 1.20 (M 1. — ) ist so gering! 
fur den poetischen Inhalt und die gediegene 
Ausstattung des Werkchens, dass wir dessen An- 
schaffung alien Kampfern fur freie Geisteskul- 
tur warmstens empfehlen konnen. 



Jahrgang I Miinchen, 

No. 11. Februar 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fLir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

+ + ■ , , ;«. I -,!■■-» .-.*. ■» . i "I . i.-, ■ . . . ■ ... ... . I . , , . .- .._...!., ,..,,» I , 

„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Miinchen, Baaderstrasse la 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

»^.<"r. t..» ^"»..»*,.ii.i~frTTlv^.i»iti*..i<.iT*i¥. 1 c.ryi^r'.»..«^^^^ 

Fasching. 

Die Menschen sind die merkwiirdigsten Leute unter 
der Sonne. Sie turnen in ungeheurer Geschaftigkeit um- 
einander her, weil einer dem andern das bischen Futter 
nicht gonnt, und weil jeder glaubt, sein Lebensgliick 
hange davon ab, ob er das Sechsfache statt nur das Dop- 
pelte von dem besitzt, was er zum Dasein braucht. Man 
drangt und schubst sich ja nicht, urn einen Platz am 
gewaltigen Futtemapf der Natur zu erwischen — Mal- 
thusianer gibt es seit langer Zeit nur noch unter den 
Professoren der zunftigen Nationalokonomie und in den 
Redaktionen Uberaler Borsenblatter — , derm wenn man 
nur in friedlicher Ordnung herantrate, konnten alle weit 
mehr als sie begehren aus dem Vorrat bekommen, nein: 
ein Kliingel Begnadeter mit robustem Stammbaum tanzt 
wie besessen um den Futtemapf herum, stosst sich mit 
den Ellenbogen gegenseitig in die Rippen und schleudert 
Fauste und Fiisse jedem gegen den Leib, der auch fur sich 
und seine Kinder etwas abhaben mochte. Wollte eine gesit- 
tete und in vemunftiger Gemeinschaft wirkende Gesell- 
schaft eine groteske Karnevalsmaskerade auffuhren, sie 



— 162 — 

brauchte nur einen Staat mit den Ausdrucksformen peiner 
Klasseneinteilung in verstandlichen Symbolen darzustellen. 
Die Bewohner Utopiens wiirden sich schieflachen. 

Dass es Gegenwart gibt, dass der Tag und die 
Stunde ein Recht auf Frohlichkeit, Unbesorgtheit, Ver- 
sunkenheit hat, haben die Meisten in der rasenden Bal- 
gerei um ein Phantom, das ihnen zukunftiges Heil scheint, 
vergessen. Sie wollen sammeln und haufen, und was 
sie sammeln und haufen sind diirftige Tagewerte, sind 
Papiere, Geld, Besitztum, die ein Brand, ein Erdbeben, 
ein Krieg, eine Revolution von heute auf morgen zer- 
storen konnen. An die Verwertung seiner Schatze zur 
eigenen Freude denkt keiner mehr, keiner schiirft auch 
nur zusammen, um die Macht, die der Besitz verleiht, von 
Person zu Person auszuiiben, — das Raffen und Tiirmen, 
das Spekulieren und Hasten ist Selbstzweck geworden, 
und die Menschen wiiten gegeneinander in einem blin- 
den Taumel, in dem keiner mehr sich auf sich selbst 
besinnt. 

AUes Personliche, Eigene, Individuelle erstickt im 
Qualm triiber Geschaftserwagungen, jedes besondere Be- 
durfnis nach wesensadaquater Betatigung, nach Beto- 
nung singularer Eigenschaften wird unter der Zwangs- 
vorstellung praktischer Notwendigkeiten erwiirgt, und der 
Verkehr der Menschen untereinander, ihre Verstandigung 
und GeselUgkeit wird in einem Masse diszipliniert, para- 
graphiert und uniformiert, dass keine Unterscheidung des 
Sinns und der Art mehr moglich bleibt. 

Ein Hexensabbath der Unvernunft, ein satanischer 
Fasching abstruser Verworrenheit — das ist die Zivili- 
sation der Gegenwart, und am Satanischsten, weil jeder 
sich miiht, die gleiche Maske zu tragen, wie der Nachbar, 
sein manisches Irresein depressiv scheinen zu lassen, und 
weil deshalb die Tollheit und der Wahn nicht einmal 
bunt und aufgeregt aussieht, sondern trostlos eintonig 
und langweilig. 



— 163 — 

En einziges Mai im Jahre nur, wenige kurze Wochen 
hindurch, kommen die Menschen da, wo sich noch etwas 
vorlutherischer Geist erhalten hat, zur Besinnung und 
Freude. Es ist, als ob im Karneval die Einsicht uber 
sie kame, dass all ihr alltagliches Gehaben grauenvoll 
alberner Mummenschanz ist, und als ob das verschiittete 
Gefuhl der selbstandigen Wesenheit jedes Einzelnen ein- 
mal wenigstens sich emporwiihlen miisse, um tief Atem 
zu holen und dann wieder, am Aschermittwoch, zuriick- 
zusinken in den Alpdruckschlaf der unwahrscheinhchen 
Wirklichkeit. 

Dieselben Leute, die sonst nicht weit genug abriicken 
konnen von denen, die in Kleidung, Haartracht oder Be- 
nehmen von den ubUchen Konventionen abweichen, oder 
sich gar zu einer Weltanschauung bekennen, die von 
den. demokratischen Vorschriften im Kem unterschieden 
ist, — diese selben Leute kleiden sich plotzlich in bunte 
Lappen, putzen sich so originell zurecht wie es ihnen 
nur moglich ist, und bewegen sich ungezwungen, lebendig, 
herzlich unter den gleichfalls verkleideten Nebenmenschen. 
Sie empfinden mit einem Male, dass sie, je singularer ihre 
Erscheinung in der Menge wirkt, den iibrigen Larven 
umso enger verbunden sind, und sie linden die ihnen 
im gewohnlichen Leben ganz fremde Freiheit, iibermiitig 
zu sein, die Zwangsformen der Geschaftlichkeit beiseite 
zu schieben und offentlich vor aller Augen menschliche 
Regungen einzugestehen. 

Die Behorden selbst miissen die uberall aufgepflanzten 
Verbotspfahle zuriickstecken, um der Ausgelassenheit 
freiere Bahn zu schaffen, und wo sie es nicht tun, wo 
verknocherter Beamteneifer mit Polizeistunden und Sitt- 
lichkeitsverordnungen auch noch im Getriebe der Fa- 
scWngsfrohlichkeit herumfuhrwerkt, da hort man von den 
bravsten Burgern kraftige Verwiinschungen und erfri- 
schende Bekenntnisse zu anarchischen Lebensformen. Sie 
vergessen, dass sie das ganze Jahr vor dem Fasching die 



— 164 — 

Beaufsichtigung durch den Schutzmann selbst gewiinscht 
haben, dass sie sie das ganze Jahr nach dem Fasching 
wieder wiinschen werden, und dass sie willig Steuern 
gezahlt haben fur die Besoldung der Niichternheit, die, 
verkorpert in Paragraphendrechslern, die vielleicht selbst 
ganz gern mit den andern trinken, tanzen und kiissen 
mochten, auch in dem kurzen Zeitraum der pflichtent- 
bundenen Freude mechanisch weiterfunktioniert. 

Es ist verzweifelt schade, dass von dem Geiste des 
Karnevals, der recht eigentlich der Geist der Rebellion 
ist, so gar keine Spur tiber den Faschingdienstag hinaus 
gerettet werden kann. Nachher wird die Rechnerei und 
Schacherei und all das verriickte Getue wieder losgehen. 
Aber dass es iiberhaupt eine Zeit gibt, in der die Ver- 
nunft der Lust starker ist als der Unverstand der Pein, das 
ist Grand genug fur den, der neue Unterlagen einer 
menschlichen Gemeinschaft sucht, begliickt zu sein und 
mitzutun. Nichtig ist alles Leben, und eitel sind seine 
Freuden, sagen die Kirchenvater. Schon, aber trotzdem 
und gerade darum lasst uns ja! sagen zu diesen Freuden 
und zu aller Farbe und zu aller Glut! 

Demaskiert euer bes seres Selbst, indem ihr euch in 
Masken und Narrenkleider hiillt! Seid keine moralischen 
Asketen, sondem unbefangene Geniesser! Knausert nicht 
mit eurem Geld, sondem schmeisst einmal mit vollen 
Handen hinaus von dem, was iibrig ist! — Friih genug 
miisst ihr die Larven von den Gesichtem nehmen und 
wieder vor euere Seelen binden. Fin ganzes JahrAscher- 
mittwoch steht wieder vor der Tiir, da werdet ihr weisen 
Harlekine wieder stumpfe Burger, und unter der Musik 
misstonigen Maschinengerassels beginnt von neuem die 
Trauermaskerade des Alltags. 



— 165 — 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Ich zog auch mein Geschirr aus dem „Leibstuhl", wobei ich 
wahrnahm, dass bei dieser Einrichtung alles so sinnreich ineinanderge- 
fllgt war, dass man nicht nur bequem den Deckel oben durch das Sitz- 
loch heben, sondern auch unten das Gefass mitsamt dem Deckel 
unter dem Sitzbrett wegziehen konnte, was zwei Knopfe an den 
Seiten des Troges sehr erleichterten. Ich folgte also mit meinem 
Kiibel den Schritten der ubrigen. Gleich um die Ecke herum war 
das Ziel, ein grosser Raum, nicht unahnlich einer Waschkuche, nur 
dass an Stelle des Herdes, auf dem die Waschfrauen ihr heisses 
Laugenwasser praparieren, ein gewaltiger Lokus stand, eine „latrina", 
ebenso umfanglich und ebenso nur zum Sichdraufstellen geeignet, 
wie die in Italien ublichen derartigen Anstalten. In den offenen 
Rachen dieser Baulichkeit goss einer nach dem andern das. was 
aus den ewigen Suppen, die hier als Nahrung dienen, geworden war. 
Der entleerte Steintopf wurde alsdann in das riesige schwarzliche 
Bassin einer Wasserleitung gestellt und mit einer schmierigen Kloset- 
bttrste unter dem Strom des nach alien Seiten spritzenden Leitungs- 
wassers von den Resten, die an seine Bestimmung gemahnten, ge- 
saubert. Ich unterzog mich der Aufgabe dieser Reinigung mutig und 
gefasst, war aber doch froh, als alles wieder an Ort und Stelle stand. 
Die Waschschussel, als deren Gestell der Klapptisch hatte dienen 
milssen, und den Trinkbecher, aus dem ich mir den Mund gesplilt 
hatte, goss ich gleich rechts neben meiner Zelle in eine Wasserleitung 
aus, wie ich es von den andern sah, und versaumte nicht, mir bei 
dieser Gelegenheit noch einmal grundlich die Hande zu waschen. 
Aber ich beging den Fehler, auch den steifgewordenen Rest meiner 
Kartoffelsuppe in die Wasserleitung zu giessen, was das Ablaufen 
des Wassers sehr erschwerte. Ein junger Gefangener, der meine 
Nachbarzelle bewohnte und wegen Unterschlagung seiner Aburteilung 
entgegensieht, orientierte mich daruber, dass man Speisereste ins 
Nachtgeschirr giesse, was ich dankend zur Kenntnis nahm. — Als 
ich kaum wieder eingeschlossen war, ging die Tiir von neuem auf: 
„Essnapf"! Wieder standen die zwei Straflinge da mit einem grossen 
Kiibel weissen Kaffees. Ich zog vor, ihnen nur den Trinkbecher 
hinzuhalten, einmal, weil ich dem Getrank Misstrauen entgegen- 
brachte, dann auch, weil ich der Sorgfalt nicht traute, mit der ich 
den Essnapf von der Kartoffelsuppe gereinigt hatte. Wieder erhielt 
ich eine Riesenportion Brot. Weisser Kaffee ist mir ein Greuel, zum 
Teil schon deswegen, weil ich immer Haut darin befurchte, die mir 
Brechreiz erregt. Der Kaffee war nach eingehender Prufung zuver- 



— 166 — 

lassig hautfrei, auch dampfte er angenehm, und ich bekam ihn, ganz 
wie am Tage vorher im Polizeigefangnis, ohne Widerwillen hin- 
unter. 

Nach dem Fruhstuck war ich wieder meinen Gedanken und 
mir selbst ilberlassen. Was jetzt ? Die Erlaubnis zu lesen und zu 
schreiben hatte ich, aber keine Bticher ausser dem Testament und 
der Verhaltungsvorschrift und weder Papier noch Bleistift, weder Tinte 
noch Feder. Was ist ein Dichter ohne Schreibmaterial ? Ein photo- 
graphischer Apparat ohne Linse, ein Revolver ohne Patronen, ein 
Liebhaber ohne Madchen. Ich klopfte energisch an die Tur. Der 
Aufseher fragte nach meinem Begehr. „Bitte holen Sie mir doch 
von meinen Sachen Papier und Bleistift herauf." — „Vor der Kirche 
kann ich Ihnen nichts besorgen." Bums — die Tilr war wieder im 
Schloss. Ich nahm mir also die Bibel vor und begann die Apostel- 
geschichte zu lesen. Immerhin keine schlechte Lektiire, und in 
meiner Situation nicht ohne interessante Parallelen. Lauter Manner, 
die ihrer Ueberzeugung lebten und fur sie litten, und als Gegen- 
spieler die aufs Wort versessenen Konservativen, die sie verfolgten 
und einsperrten und vor nichts grossere Angst hatten als vor dem 
Wirksamwerden neuer Ideen, dem Lebengewinnen neuer Einsichten. 
Wahrend ich las, ertonte plotzlich Gesang. „Ein' feste Burg ist 
unser Gott", von einem kraftigen Chor von Mannern und Trauen 
einstimmig gesungen. Auf mich macht kein Gesang grosseren Ein- 
druck, als der, der auf alle Hilfsmittel wie zweite und dritte Stimme, 
auf die sorgfaltige Scheidung zwischen Bass, Bariton, Tenor, Alt 
und Sopran verzichtet, und der einfach durch die schlichte Melodie 
wirkt, die aus hundert ganz verschiedenen Kehlen stromt. Mag 
ruhig mal ein besonders Begeisterter alle ubersingend im Ton 
vorbeihauen, — ich glaube nicht, dass der „musikalisch Gebildete", 
dem erst kontrapunktische Finessen einen Ohrengenuss ermoglichen, 
wirklich feiner benervt sei als ich, dem, wenn Landschaft, Menschen, 
Gefiihle und Beschaftigung nur einheitlich zusammenstimmen, schon 
eine Handharmonika die Tranen in die Augen treiben kann. — Ich 
horte das prachtvolle Luthersche Lied mit grosser Freude an und 
folgte aufmerksam einer inbrunstigen Sopranstimme, die immer wieder 
leidenschaftlich und suss liber den ganzen Chor hinausdrang. Ich 
hatte etwas drum geben mogen, um die Frau zu sehen, die so sang. 
Aber sie stand zwei Stockwerke unter mir in der grossen Halle, 
wo das rote Heizungsrohr wie eine dicke Raupe an der Wand ent- 
lang kroch, — und ich war eingesperrt. Ich glaube, dass sie sehr 
schon war. 

Aber kaum war der Choral verklungen, als die schrecklich 
geschraubte, saccharinsiisse Stimme eines Predigers in den hallenden 
Raum gellte. Auf das, was er sagte, mochte ich nicht hinhoren, 



— 167 — 

nur manchmal drang ein Wort an mein Ohr, etwa „Gott", — und 
der Mann brachte es fertig, selbst in dies starke harte Wort noch 
einen f-Laut hineinzuhauchen, wahrscheinlich, um damit die Milde 
und Giite dessen zu bezeichnen, als dessen Stellvertreter er im 
Charlottenburger Gerichtsgefangnis engagiert war. Ware ich an 
seinen Platz gestellt gewesen, ich hatte doch gerade diesem Audi- 
torium Gott lieber als die kalte Faust der rachenden Gewalt ge- 
schildert, die den Sundern eben im Nacken sass. Aber sie, 
die nicht herauskonnen aus ihrer Gefangenschaft, die bei jedem 
Atemzug die Luft einatmen, die von der Geissei schwingt, mit der 
sich armselige Machthaber auf Gottes Gerechtigkeit berufen, sie 
mussten an diesem Ort das Salbol des Friedens- und Liebespredigers 
in ihre geketteten Seelen triefen lassen, der wahrscheinlich mit aus- 
gebreiteten Armen unter der pedantischen runden Uhr stand mit der 
Aufschrift: „Normafzeit der Sternwarte". — Ich vertiefte mich 
wieder in die Apostelgeschichte, und wenn die sanften Laute des 
Nachfolgers dieser wundervollen Menschen in dem Buche in meine 
Zelle drangen, dann dachte ich verwundert dartiber nach, was politische 
Geister aus reiner schonen Idealen machen konnen, und wurde um 
Sozialismus und Anarchismus ehrlich besorgt. 

Die Andacht ging zu Ende, und kurz nachher brachte mir der 
Warter ein Buch aus der Gefangnis-Bibliothek. Ich beschwor ihn, 
mir Papier und Bleistift zu bringen. Dann sah ich mir die Lekture 
an: „Wie Heinrich von Eichenfels zur Erkenntnis Gottes kam. Das 
Weihnachtslied. Die Ostereier. Drei Erzahlungen fur die Jugend 
von Christoph von Schmid". — Ich kam mir wirklich wie der 
Teufel vor, den die Not zum Fliegenfressen bewegt. Ich tauschte 
also die Apostelgeschichte, die ich ja schon einigermassen kenne, 
gegen die frommen Geschichten des wlirdigen Herrn vor Schmid 
um, und las geduldig und immerhin amilsiert, wie hochst wunder- 
bar der kleine Heinrich von Eichenfels von bosen Raubern ent- 
flihrt wird und ohne jemals das Sonnenlicht zu sehen zu kriegen, 
bis zu seinem achten Jahre in einer Hohle aufwachst, dann zufallig 
ins Freie gerat, natlirlich zu einem Einsiedler kommt, der ihm 
alle Fragen, wer die schonen Blumen, das Wasser, die grosse 
Lampe am Himmel und was noch alles gemacht hat, zufrieden- 
stellend beantwortet, und ihn mit Zuhilfenahme etlicher Zufallig- 
keiten und wunderbarer Begegnungen in die Arme der ubergluck- 
lichen Eltern zurlickfiihrt; die bosen Rauber aber werden von 
Papa Eichenfels blutig gestraft. Diese Caspar Hauser-Geschichte 
ist gar nicht ungeschickt erzahlt. Wenn ich mir aber vorstelle, 
dass solche Naivetaten — und erst die Geschichte vom Weih- 
nachtslied, darin es der frommen Begegnungen und Wunder gar 
kein Ende nimmt — den erwachsenen Menschen im Gefangnis 



— 168 — 

vorgesetzt werden, um sie damit zu erbauen und zur rechten Ueber- 
zeugung van Gottes Barmherzigkeit und Allmachtigkeit zu brin- 
gen, dann emport sich etwas in mir, — dann ist's mir, als dekou- 
vriere sich hier etwas im letzten Grunde Erbarmliches und Ver- 
logenes. — Von der Ostereier-Begebenheit brauchte ich zum Gllick 
keine Kenntnis mehr zu nehmen, sintemalen mir im Laufe des 
Nachmittags Gelegenheit zu erfreulicherer Beschaftigung ward. 
Fortsetzung folgt. 



Munchner Theater. 

Mehrere Monate hindurch habe ich notgedrungen darauf ver 
ziehten mtissen, meinen Lesern ttber die Kultur-Bemuhungen der 
Miinchener Blihnen zu berichten. Der Versuch, auch nur die wesent- 
lichen Theaterereignisse nachtraglich in gedrangter Form, aber doch 
so instruktiv zu behandeln, dass ein sichtbareres Bild entstehe, als es 
die „Kritiken" der Miinchener Tagespresse bieten, wilrde mich den 
Raum eines ganzen „Kain"-Heftes kosten. So mag man es hin 
nehmen, dass ich ein paar Worte nur ilber Regisseure und Schau- 
spieler sage, wobei ich zur Illustration mich ausschliesslich auf ihre 
Wirksamkeit in den allerletzten Darbietungen beschranke. 

An meinem im ersten Hefte dieser Zeitschrift ausgesprochenen 
Urteil, dass die Miinchener Theaterkunst, im Ganzen betrachtet, hinter 
den Anforderungen eines kultivierten Geschmacks sehr erheblich 
zuriickbleibt, finde ich leider immer noch wenig zu andern, und 
der Wunsch, es mochte hier eines Tages ein grosses, modernes 
Theater entstehen unter einheitlicher, fahiger Leitung, mit literarisch 
moglichem Repertoire und erlesenen schauspielerischen Kraften ist 
nicht eine weltfremde Caprice meiner privaten Sehnsucht, sondern 
wird von vielen, die nach jedem Theaterbesuch ttble Laune zeigen 
inbrlinstig geteilt. 

Gegen das Repertoire der grossen Blihnen sind noch am 
wenigsten Einwande zu erheben. Es ist auch misslich, einem Theater- 
direktor, der das berechtigte Verlangen hat, mit seiner Tatigkeit 
Geld zu verdienen, aus der Idealisten-Perspektive raten zu wollen 
was er spielen lassen soil. Er muss ja wissen, was sein Publikum 
verlangt. Deshalb mag hier iiber die Kunstbeflissenheit des Volks- 
theaters etwa mit der resignierten Anerkennung hinweggegangen wer 
den, dass das Parkett dieser Anstalt wahrscheinlich das unbezahm- 
bare Verlangen nach minderwertigen Volksstiicken im Busen tragt 
Auch die Operette am Gartnerplatz interessiert nicht. Sie ist in 
ihren Auffiihrungen genau so schlecht wie die unsaglichen Operetten 
der Wiener und der Budapester Autoren es gebieten. Und schliess- 



— 169 — 

lich braucht man auch dariiber nicht zu verzweifeln, dass am Schau- 
spielhause und am Residenztheater zwischen wertvollen oder minde- 
stens anspruchsvollen Stucken immer wieder abgedroschene Possen 
auf dem Spielplan erscheinen. Das Publikum wird es wohl ver- 
langen. 

Das einzige Theater, das sich nachhaltig bestrebt zeigt, anstan- 
diges Niveau in der Auswahl seiner Stlicke zu halten, ist das Lust- 
spielhaus. Ich habe dies Theater bei meinem ersten Ueberblick 
recht ilbel behandelt. Das tut mir garnicht leid. Das Etablissement 
fuhrte sich schlimm genug ein, und den Fanfaren der Zeitungs- 
referenten, deren Urteilsunfahigkeit an jedem besseren Kneiptiscn 
ein beliebter Unterhaltungsstoff ist, war der Dampfer dringend notig. 
Die Herren (und die Dame) haben sich allmahlich beruhigt, sie 
haben die Leistungen des Lustspielhauses nach und nach in das 
nlichterne Ragout hineingepantscht, aus dem sie das Milnchener 
Publikum mit ihren vorsichtigen, nachsichtigen und kurzsichtigen 
Meinungen flittern, und jetzt scheint es mir Zeit zu dem Bekenntnis, 
dass mir das Theater im ungekehrten Verhaltnis zum Ausklingen der 
journalistischen Trompetenstosse von Monat zu Monat klinstlerischer 
und lobenswerter geworden scheint. 

Herr Dr. Robert hat im Laufe des letzten Jahres sehr viel ge- 
lernt, vor allem: anstandige Regiefuhrung. Erweckte frliher jede Vor- 
stellung den Anschein, als ob die Schauspieler mit den Kenntnissen 
der ersten Leseprobe auf die Szene losgelassen waren, so erlebt 
man jetzt in immer steigendem Masse die Freude, ein wechsel- 
seitiges Eingehen auf die Art des andern und somit ein gluckliches 
Zusammenspielen zu beobachten. Auch ist es dem Direktor gelungen, 
die hilflosen Debtitanten, die anfangs jedes Dichterwerk zerfetzten, 
durch erprobte und teilweise recht gute Schauspieler zu ersetzen, 
sodass oft saubere Auffiihrungen entstehen, die man im Einzelnen 
wohl scharf kritisieren kann, die aber niemals mehr im Ganzen den 
Eindruck absoluter Trostlosigkeit hinterlassen. 

Aus dem ersten Ensemble ist Frau Ida Roland dem Theater 
treu geblieben. Die grosse Begabung dieser Schauspielerin und 
die grossen Moglichkeiten ihrer Ausdruckskunst bedlirfen keines 
neuen Kommentars. Sie ist nicht besser geworden als ehedem, 
aber wirksamer, weil sie inziwschen bessere Partner fand. Was ich 
an Frau Roland heute wie friiher aussetze, ist ihre zu grosse Routi- 
niertheit, die in ihr die gefahrliche Neigung starkt, ins Publikum 
hineinzuspielen und damit das Bild des Gesamtspiels zu zerreissen. 
Ich sehe die Kunstlerin deshalb lieber in ernsten Rollen — in 
Heinrich Manns „die Unschuldige" und in Tschechows „die Move" 
war sie am besten — , als in lustigen, wie in Bahrs „Josephine". 
Das deutsche Publikum will (und hat darin Recht) wahrend einer 



— 170 — 

Vorstellung keine Verstandigung mit dem einzelnen Darsteller, und 
Staralluren gehoren nicht in eine klinstlerische Darbietung. Kann sich 
die Dame von solchen Angewohnheiten frei machen, so wird ihr 
ausserordentlich starkes Talent unendlich viel an Schatzbarkeit ge- 
winnen. — Unter den mannlichen Kraften des Lustspielhauses steht 
Carl Gotz bei weitem obenan. Es gibt sehr wenige Schauspieler auf 
deutschen Buhnen, die mit so feinen Nerven Charaktere durchdringen 
und gestalten konnen. In Strindbergs „Vater", als Talma in Jose- 
phine", als der riihrend-komische „vazierende Hausknecht" in Nestroys 
„Einen Jux will er sich machen" gab Gotz Kabinettstiicke subtiler 
Charakteristik. Herr Dr. Robert darf sich ehrlich gratulieren, tiber 
diesen Mann zu verfiigen. Er sollte ihn (und den kostlichen Alexan- 
der Ekert) soviel wie irgend moglich herausstellen. Lasst er sich, wie 
in Nestroys Posse, auch in wichtigeren Stilcken von Max Reinhardts 
Regiekunst inspirieren, so hat das Lustspielhaus in der Tat Anwart- 
schaft, das zu werden, was kritiklose Kritiker schon vor einem Jahr 
daraus machen wollten. 

Die Hoffnung, am Residenztheater werde Steinriicks Einfluss 
die Einflusse der Hofeklektiker bezwingen, war leider trugerisch. 
Es ist immer noch das alte Leid: heute das gute Werk eines moder- 
nen Dichters, von kluger kunstlerischer Energie geleitet und — 
wenigstens in einigen Rollen — mit kraftigen Individualitaten besetzt, 
morgen ein beliebiger Schwankschmarrn, in Aufmachung und Dar- 
stellung die Leistung des Stadttheaters von Kyritz an der Knatter, 
ubermorgen eine Klassiker-Vorstellung, von einem Oberlehrer insze- 
niert und mit einer Leidenschaftlichkeit vorgetragen, die sich aus 
wildrollenden R-Lauten und weitausholenden Hantelbewegungen zu- 
sammensetzt. Der ziinftige Referent weiss von dem Unterschied 
nichts. Er sagt sich vielleicht: Variatio delectat und kompensiert 
die Abwechslungen, die ihn ergotzen, durch die ewig gleichge- 
stimmte Bekundung einer klinstlerischen Erfreutheit. Fur zwei Drittel 
der Auffiihrungen an der Hofbuhne genligten als Kritik tatsachlich 
Reproduktionen der Referate aus dem glorreichen Jahre 1871, als 
— na ja: hurrah!! — Am Repertoire hat sich da seitdem nichts, 
an agierenden Kraften wenig geandert. Das ubrige Drittel sollte 
man aber doch wohl ernsthafter behandeln. Es gab unter Stein- 
riicks und unter Basils Regie Auffiihrungen, die ohne Riickhalt gelobt 
werden diirfen, und die Ueberzeugung, dass das Miinchener Hof- 
theater in Steinriick einen Regisseur sowohl wie einen Darsteller 
besitzt, der in die allererste Linie der lebenden Biihnenkiinsfler gehort, 
bekam in der letzten Zeit wiederholt Gelegenheit, sich zu bestatigen 
Ich erinnere an Schnitzlers Drama „Das weite Land", an Adolf 
Pauls „Die Sprache der Vogel", vor allem aber an Strindbergs 
„Totentanz". Als die beste Darstellerin am Residenztheater wird 



171 



man Frau v. Hagen betrachten miissen, die leider lange nicht genug 
in modernen Rollen beschaftigt wird. Diese noble, feine Schau- 
spielerin zeigte am Schonsten in Max Halbes Spiel „Der Ring 
des Gauklers", wie gross ihre Sicherheit und wie echt ihre Darstellung 
ist. Das Zusammenspiel zwischen ihr und Steinrtick im „Ring des 
Gauklers" war filr den, der vornehme Kunst von effektvoller Klobig- 
keit zu unterscheiden weiss, ein erlesener Genuss. — Leider ist es 
dem Hoftheater nicht gelungen, fur Johanna Terwin einen ver- 
gleichbaren Ersatz zu finden. Ich will der jungen Dame, die sich 
jetzt um die Ausfilllung des jugendlichen Charakterfaches mtiht, 
gewiss nicht wehtun. Ich will auch ihr Talent nicht in Frage 
stellen. Aber wir waren durch die Terwin verwohnt und die Inten- 
danz sollte sich die Frage vorlegen, ob es vorteilhaft sein kann, dass 
man nach jeder Premiere die Kopfe schilttelt und die fortgegangene 
Klinstlerin zuruckwiinscht. Der Mangel an hervorragenden Kraften 
an unserm ersten Theater wird immer peinlicher flihlbar, und die 
Schwierigkeit, grosse Dramen, die sorgfaltige Regiebehandlung ver- 
langen, ihrem Anspruch entsprechend zu besetzen, ist dem Renommee 
Miinchens als Theaterstadt kaum forderlich. Es gibt namlich auch 
Leute, die ihr Urteil liber das Milnchener Kunstleben nicht allein auf 
die Notizen zur Forderung des Fremdenverkehrs in den „Munchener 
Neuesten Nachrichten", sondern auf eigene Studien griinden. 

Bleibt noch das Milnchener Schauspielhaus. Auch iiber dieses 
Institut ist bedauerlich wenig Erfreuliches zu melden. Das Theater 
hat leidliche Schauspieler aber eine gewohnlich unleidliche Regie. 
Da unterzog sich kurzlich die Direktion der uberaus verdienstlichen 
Aufgabe, Eulenbergs „Alles um Geld" herauszubringen. Herbert 
Eulenberg ist ganz und gar Romantiker. Sein Drama, eines der 
wertvollsten und zukunftstrachtigsten Buhnenwerke, die seit dem 
Entstehen einer modernen Kultur geschaffen worden sind, erfor- 
dert das vorsichtigste Eingehen auf unwirkliche, symbolhafte Gescheh- 
nisse. Alles geht wie hinter Schleiern vor sich. Die Regie des 
Schauspielhauses aber griff vollig daneben. Aus dem schwarme- 
rischen Traumen einer „Kreatur Gottes" wurde das legere Sichab- 
finden eines fidelen Pechvogels. Was von einem Regisseur zualler- 
erst verlangt werden muss, ist die Erkennung dessen, worauf es in 
einem Drama ankommt. Ferner gehort zu seinen Obliegenheiten eine 
gewisse Instruktion der Schauspieler, wie sie sich auf der Bilhne 
zu benehmen haben. Wenn, wie haufig im Schauspielhause, jeder 
seinen eigenen Intentionen uberlassen bleibt, so geschieht dem Stuck 
unrecht, dem Publikum und auch den Schauspielern selbst, deren 
Leistungsfahigkeit infolge fortwahrender Fehlleistungen natlirlich unter- 
schatzt wird. Das Schauspielhaus hat ein Darstellerpersonal, mit dem 
es viel bessere Wirkungen erzielen kann, als gemeinhin erzielt werden. 



— 172 — 

Die Damen Lina Woiwode und Consuela Nicoletti fanden in „Alles 
um Geld" selbst heraus, was der Dichter von ihnen wollte, ebenso Frau 
Gliimer. In Rosslers reizendem Lustspiel „Die flinf Frankfurter" 
boten Frau Gliimer und Frl. Woiwode ebenfalls ausgezeichnete 
Leistungen. Gute Schauspieler sind Herr Dumke, Herr Hans Raabe, 
Herr Steiner, — aber sie haben alle nicht die Anleitung, die not 
tate, und der einzige Darsteller, der dem Theater Licht, Warme, 
Wohligkeit gibt, der unersetzliche Gustav Waldau, ist die langste 
Zeit am Schauspielhause gewesen. Herr Direktor Stolberg sollte 
sich daran erinnern, dass das Schauspielhaus einen guten Ruf zu 
wahren hat. Er sollte das Theater in Acht nehmen, dass dieser 
gute Ruf nicht zum Teufel geht. An seinen Schauspielern lage es 
nicht, es lage an ihm selbst. 

Das Bild, das ich da vom Munchener Theaterzustand zeich- 
nen musste, sieht nicht sonderlich erhebend aus. Das Hoftheater ein 
Schartekenarsenal, das Lustspielhaus ein unzulanglicher Bau in ent- 
legener Gegend, das Schauspielhaus im Begriff, zu verwahrlosen. 
Wie soil das enden ? Ob wir einmal ein ausserlich und innerlich 
ausreichendes Theater nach Munchen bekommen werden ? Oder bleibt 
alles wie es ist, und die Fachkollegen von der Tagespresse sorgen 
auch fiirderhin daftir, dass sich das Kulturstreben dieser Stadt im 
Spiegel der Kritik blank und hubsch ausnimmt ? Lasst uns die Fahne 
des Fortschritts unentwegt hochhalten und frohlich weiterwursteln! 



Bemerkungen. 



Georg Heym. Aus den nachsten Freundeskreisen des jungen 
Dichters geht mir dieser Brief zu: 

„Sehr geehrter Herr Muhsami . . . Am 16. Januar ist Georg 
Heym, 24 Jahre alt, im Wannsee ertrunken. Man wird spater die 
verschiedenen Entwicklungs-Stufen dieses Dichters analysieren mtis- 
sen ; denn die Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen, die er fur 
seine Erlebnisse fand, ist — bei der Klirze seiner Schaffens-Zeit 
— iiberraschend. Er veroffentlichte, wie Ihnen wol bekannt ist, 
einen Band Verse: „Der ewige Tag" (Rowohlt 1911) und eine 
Reihe einzelner Gedichte in der „Aktion" und im „Pan". An 
diesen Werken fiel zunachst die Scharfe und die Wucht seines 
Sehens auf, mit der er seine Umwelt (die grossen Stadte), Ueber- 
liefertes (die franzosische Revolution) und durch seine Fantasie 
Gegebenes (die Reiche der Toten) erfasste und in sich zog. — 
Wesentlich erscheint nun, dass er — und je spater, je mehr — 
nicht ein festes plastisches Bild hinzustellen suchte, sondern den 



— 173 — 

Strom der Bilder, wie sie ihm auftauchten, den pulsenden Bilder- 
Strom einfing, ohne sonderlich auf die reale Verkniipfung zu achten, 
(Besonders ist dies erkennbar in den „Schwarzen Visionen", dem 
zuletzt entstandenen Gedicht seines Buches). Bei der — hoffentlich 
bald erfolgenden — Herausgabe des Nachlasses wird sich zeigen, 
wie er so die starre Grausigkeit, die an seinen alteren Versen 
Fremde erschreckte und auch wol abstiess, in klingende Farbig- 
keit aufloste. — 

Vielleicht gelingt es dieser kurzen Notiz, fur deren Abdruck ich 
Ihnen sehr danken wlirde, bei einigen Lesern Ihrer Zeitschrift, In- 
teresse fur Georg Heym hervorzurufen. Ich verbleibe, sehr ge- 
ehrter Herr Milhsam, 

Ihr ganz ergebener 
Mlinchen, 3. 2. 1911. Robert Jentzsch. 

Herr Jentzsch stellt mir gleichzeitig aus dem ungedruckten 

Nachlass Heyms ein im Spatherbst 1911 entstandenes Gedicht zur 

Verfligung, das hier folgt: 

Frohlichkeit. 

Es rauscht und saust von manchen Karussellen 
wie Sonnen flammend in den Nackmittagen, 
und viele Leute sehen mit Behagen, 
wie sich Kamele drehn und Rosse schnelle. 

Die starren Schwdne und die Elefanzen, 

der eine hebt vor Freude schon das Bein 

und grunzt im hohlen Bauche wie ein Schwein, 

und alle Tiere fangen an zu tanzen. 

Doch nebenan, im Sonnenlicht, dem hellen, 
gehen die Maurer, schwarz, wie Lduse klein, 
hoch im Gertist, ein feuriger Verein, 
und schlagen Takt mit ihren Maurer-Kellen. 

An diesem Gedicht gibt es viel auszusetzen: gewiss. Man 
soil nicht um eines Reimes willen Witze machen (dazu hat bislang 
nur Christian Morgenstern die Berechtigung erwiesen), man soil 
auch den Rhytmus nicht so salopp behandeln, wie es hier geschehen 
ist. — Aber wodurch mir dieses Gedicht, wie alle, die ich von 
Georg Heym gelesen habe, vor den Versen fast aller seiner Alters- 
genossen ausgezeichnet scheint, das ist die Lebendigkeit seiner Em- 



— 174 — 

pfindung. Man kann sagen: ein schlechtes Gedicht A ein nachlassiges 
Gedicht, ein schluderiges Gedicht, — aber nie kann man sagen: 
ein belangloses Gedicht. Die Hoffnungen auf die Entwicklung der 
HeymBchen! Kunst setzten, taten es, weil sie in seinen Versen 
innere Notwendigkeit erkannten. Er schrieb seine Gedichte, weil 
er ein Dichter war, nicht weil er die Absicht hatte, Gedichte zu 
machen. 

Hermann Bahr hat einmal das hiibsche Wort gefunden: Es 
ist der Trost der alternden Generation, dass es immer wieder 
Zwanzigjahrige gibt. Ist es Hermann Bahr schon einmal aufgefallen, 
dass heute wir, die wir zwischen dreissig und vierzig stehen, eigentlich 
die Jtingsten sind? Seit in Wien das Versemachen zum Sport gewor- 
den ist, seit man dort bewiesen hat, dass mit einem Band Hoffmanns- 
thai in der Hand jeder Gymnasiast gute Gedichte machen kann, 
gibt es keinen Nachwuchs mehr. Die Berliner Produktivitat aber hat 
sich von der Produktion emanzipiert. Sie begntigt sich mit der 
Verherrlichung der Reproduktion. Lasst uns Musik komponieren, 
Bilder malen, Lyrik dichten, wie Kerr und Hardekopf Kritiken schrei- 
ben! — Mit diesem Programm grlinden die Jtingsten Literatur- 
zirkel. Unsere Zwanzigjahrigen sind senil. Hoffentlich werden die 
Nobel-Preisrichter bald auf sie aufmerksam. 

Georg Heym war anders als seine Altersgefahrten. In seiner 
Kunst war Leben, Fiihlen, Schwingen, Sehen, Wollen, Werden. 
Der Trost, den wir Dreissigjahrigen der Generation Bahr gegeben 
haben, ist uns versagt. Eine diinne Stelle auf dem Wannsee-Eis, 
— und wir bleiben die Jtinersten. 



Vom politischen Kasperltheater. Im Reiche und in Bayern 
haben wir den erhebenden Anblick genossen, wie Links geschlossen 
gegen Rechts, wie der Fortschritt gegen die Reaktion marschierte, und 
wie die Macht des „schwarzblauen Blocks" ein fur allemale ge- 
brochen wurde. — Die Sozialdemokraten haben vier und eine viertel 
Million Stimmen gesammelt und einhundertundzehn Abgeordnete in 
den Reichstag entsandt. Nun muss sich alles, alles wenden. 

Der liebe Gott hat die Welt ungemein sinnvoll eingerichtet. 
Die Dinge, die zu einander gehoren, hat er wie im Museum tiberall 
zu einander gestellt. Deutschland hat die starkste sozialdemokrati- 
sche Partei — vier und eine viertel Million Republikaner: nirgends 
in der Welt steht die Monarchie auf sichererem Grund als in Deutsch- 
land. Deutschland hat die ttichtigste sozialdemokratische Partei — 
vier und eine viertel Million Antikapitalisten: eine Kapitalsanlage 
in deutschen Unternehmungen gilt tiberall als die solideste Vorsicht. 
Deutschland hat die erfolgreichste sozialdemokratische Partei — vier 
und eine viertel Million internationaler Revolutionare, vertreten durch 
einhundertundzehn zahnefletschende Mandatare: Der deutsche Soldat 
ist der verlasslichste, den es gibt, in seine Seele ist noch kein zwei- 
felnder Gedanke eingezogen, wenn der Kaiser eines Tages den 



— 175 — 

beliebten „Ernstfall" erlebt, dann kann er sich auf vier und eine 
viertel Million sozialdemokraitscher Wahler, reprasentiert durch ein- 
hundertundzehn Abgeordnete, verlassen, 

Auch im engeren Vaterlande sind heisse Schlachten geschla- 
gen worden. Die „vereinigten Zentrumsgegner", Liberale, Sozial- 
demokraten und Bauernbiindler, zogen mit gemeinsamen Kandidaten- 
listen ins Feld, um die schwarze Majoritat des Landtags zu besiegen 
Fast ein Dutzend Sitze verloren die Ultramontanen in diesem Gemetzel, 
und wenn sie zusammen mit den Konservativen auch noch ilber eine 
Stimmenzahl von einigen neunzig verfligen, wogegen der ^inks- 
block" bloss 69 Vertreter hat, sagen uns doch die Zeitungen 
der vereinigten staatserhaltenden und staatssturzlerischen Zentrums- 
gegner taglich, dass die Differenz das nachste Mai noch kleiner sein 
wird, wenn man inzwischen nur fleissig zusammenhalt. Das nachste 
Mai — das ist nach sechs Jahren. Und nach aber und aber sechs 
Jahren wird die Zentrumsmajoritat vielleicht gebrochen sein, und dann 
bekommt Bayern eine neue Wahlkreiseinteilung und jede freiheitliche 
Sehnsucht erflillt sich. Nur Geduld muss man haben. 

Vorerst wurde der bisherige Fraktionsvorsitzende des Zentrums 
im Reichstage, Freiherr von Hertling, bayerischer Ministerprasident. 
Der soeben konstuierte freiheitliche Reichstag aber erwahlte zu seinem 
Prasidenten den ultramontanen Dr. Spahn. 

Ein slisser Trost ist uns geblieben: Munchen ist in Reichs- 
und Landtag ausschliesslich sozialdemokratisch und liberal vertreten. 
Munchen verfligt auch ilber eine liberale Stadt- und Polizeiverwal- 
tung, und die liberalen und sozialdemokratischen Stadtvater haben 
einwandfrei bewiesen, dass sie fur die Erhaltung von Tugend und 
Sittlichkeit in dieser Stadt imstande sind, unabhangig von schwarzen 
Einfllissen, ihre Mucker selbst zu stellen. 



Abel. „Abel, Zeitschrift flir Sklaverei" nennt sich eine Faschings- 
zeitschrift, die im Verlage von Hans Goltz in Munchen erschienen und 
von Grafen Paul von Keyserling jr. herausgegeben ist. Der „Kain" 
wird schon in der Aufmachung des Heftes sehr niedlich parodiert, 
und ich personlich muss mir allerlei Frozzeleien gefallen lassen 
Ich bin nicht sehr empfindlich. Vor allem verschliesse ich mich keines- 
wegs der geschaftlichen Erwagung, dass meinem Blatte da eine, 
vielleicht ungewollte, jedenfalls aber sehr schatzbare Reklame gemacht 
wird. Ich revanchiere mich, indem ich meine Leser unter Vermeidung 
jeglicher Kritik des Heftchens auf sein Erscheinen hinweise. Es 
kostet filnfzig Pfennige. 



Miinchen-Schilda. Da es gerade Faschingszeit ist, mag hier 
eine kleine Geschichte von neuem erzahlt werden, die zwar schon 
zwei Jahre zurtickliegt, aber den Vorzug hat, wahr zu sein. Aeltere 
Einwohner Milnchens erinnern sich noch des Jahres 1909. Das war das 
Jahr der Freiheit und der ungebundenen Lebensfreude fur Bayerns 
Hauptstadt. Damals gab es dicht beim Bahnhof ein Cafehaus, das 
die ganze Nacht geoffnet war: das Cafe Imperial. Fur unsereinen, 
der die polizeiwidrige Gewohnheit hat, manchmal bis in spate Nacht- 
stunden zu arbeiten, und der dann das Bedurfnis spurt, auszugehen, 
eine Tasse Bouillon oder einen Schnaps zu sich zu nehmen oder gar 
noch mit Bekannten Gesprache zu fuhren, war das Cafe Imperial 



— 176 — 

in diesem Jahre sehr oft das Ziel nachtlicher Wanderungen. Schach, 
Karten oder Billard spielen durfte man nach drei Uhr zwar nicht 
mehr in dem Lokal, auch Zeitungen wurden, wenn ich mich recht 
erinnere, den Gasten nicht mehr zu lesen gegeben — denn die Polizei 
wusste wohl Mass zu halten mit ihrer Freigiebigkeit. Aber man 
wusste doch, wo man bleiben konnte, falls man noch einen freien 
Platz im Cafe Imperial fand. Denn von alien Gegenden Munchens 
stromten jede Nacht ungeheure Menschenmassen zu dem einzigen 
Etablissement, das nach 3 Uhr Gaste empfing. Das Jahr 1909 ging 
herum. Man hatte sich daran gewohnt, Milnchen filr eine freiheit- 
liche Stadt zu halten. Aber die Polizei war bei Erteilung der 
Nachtkonzession an den Wirt des Cafes Imperial vorsichtig gewesen. 
Sie hatte sie ihm nur versuchsweise filr ein Jahr zugebilligt. Als das 
Jahr zu Ende ging, und der Mann um Verlangerung seiner Ver- 
gilnstigung nachsuchte, wurde sie ihm verweigert. Mit dieser Begrlin- 
dung: Es habe sich gezeigt, dass die Lokalitaten des Cafes Imperial 
nicht imstande seien, dem Andrang der unterkunftheischenden Nacht- 
besucher gerecht zu werden. Dieses Cafehaus sei deshalb wie alle 
andern wieder von 3 Uhr ab zu schliessen. 

Als dieser Bescheid an den Wirt des Cafes Imperial erging, 
lagen der Mlinchener Polizei noch einige dreissig Gesuche um Be- 
willigung des Nachtbetriebes vor. Aber heute noch wird an 355 Tagen 
des Jahres — zehn Redoutentage wahrend des Karnevals sind aus- 
genommen — die Bedtirfnisfrage nach einem Munchener Nachtlokal 
von der liberalen Stadtverwaltung verneint, und der Dorfbuttel Miln- 
chens qualt sich Nacht fiir Nacht unter den vielen hundert Personen 
Ordnung zu halten, die nach 3 Uhr planlos durch die Strassen der 
Residenz Ziehen und Unterkunft suchen. 



Prefirelationsbureau „fcanfa" 

Ztltpb. ami moabit tui SCfUll NW 23 -*> holpnner Ufer 7 «. 

Jnt).: Jng. m. Kraufe 
lirfert alle Ilact)n(J)teil tiber 

Kunft literatur, rUiffcnfdE)aft 

ftjnell — Dotlftandig — preisroert. 

flKademijjJ) und lUerarifd) fjebildete refetoren. 
DoTjiiulidiE Organifation 3 



Verantwortlich fiir Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. I u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



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Oicr Urtette 

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5«tlrlfd>e Olod>enTd)Tift 

t)cr Kotnct 

Die CagesprcBet 



On ntnAer: 

. . . ein derartiges Blatt, 
du an allem und jedem 
norgelt u. von dessen Spott 
nichts sicher ist, gehen 
Tarboten! 

Ote elegante lOelt; 

. . . ein Blatt, das weiteste 
Verbreitung verdient, denn 
mit kraftigen Peitschen- 
hieben geht es gegen alle 
Verlogenheiten, gegen Ban- 
ausen und Philister vor. 



. . . ein solches Blatt, das 
mutig gegen alle falsche 
Pruderie und Heuchelei »a 
Felde zieht, hat an* schon 
lang* gefehlt! 

Der Honftrnattnti 

. . . Wir mochten das 
Blatt, du an alien Ein- 
richtungen etwas zu tadeln 
hat, gerne unterdriicken, 
aber wie anfangen ? 




Prcls pro nummcr 20 Pfg., pro Qua rial (13 Itr.) j 
mk. 2,50. Rctmhalttgc Probebaiide 50 Pfg. 

Zu t>ab«n btl alien Bud)- u. Zeftungsfyandltrn odtr 00m j 

Komrtocriau munften. — — • 



Bitte hier abzutrennen. 



Biicherzettel. 



Mit 

3 Pfennig 

zu 

frankieren. 



An 



Don 

erift mutifam 

crfdiifncn folgende BUcJicr. 



OlC IDllftC* Oedlflte. 1904. m. 2.40. 

Dft Kt&tCt* ecdKfite. 1909. m. 2.- 

Oic liodtjft&plct* luwptei. 1906. m.2.- 

Zu btEictjcn durd) icdc Budtjftandlung unci den 
Kiim Derlag, niundirn, DaadcrftrdBc la. 



Bitte hier abzutrennen. 



Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

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Jahrgang I. No. 12. Marz 1912. 

KMN 

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HemuJgeber; 

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Inhalt: Die Bergarbeiter. — Tagebuch aus dem Gefangnis. 
„M. N. N." — Bemerkungen. — Die Stimmrechts-Amazonen. 
Die Geheimnisse von Czenstochau. — Ein Opfer seines Berufs. 
Bittingers Fehltritt. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfa. 



Kain-Kalender 

fiir das Jahr 1912 

Herausgeber: ERICH MUHSAM 

Samtl. Beitrage sind vom Herausgeber :: Preis 1 Mark 

Zu beziehen durch jede Buchhandlung und den 
KAIN-VERLAG, MUNCHEN, Baaderstrasse 1 a. 



NEUE BLATTER 

HALBMONATSSCHRIFT 

erscheint am 5. und 20 jeden Monats im Format von 24X32 mit ein 
bis zwei Handzeichnungen zum Preise von 25 Pf., jahrlich Mk. 5.50. 

I N H A LT 
des ersten Heftes: MATISSE: Akt / CLAUDEL 
Rezitation aus der Einsetzung des Ruhetages / PASCOLI 
Der Taumel / DAUBLER : Der Nachtwandler / PHILIPPE 
Briefe / LEHMBRUCK: Akt / 

des zweiten Heftes: GENGWA HIROMI: Chinesi- 

scher Holzschnitt / CLAUDEL: Magnificat / CLAUDEL: 

Aufbau der Kirche / CLAUDEL: Ausschau vom Meer 

auf das Land / CLAUDEL: Besuch / CLAUDEL: Der 

Schauende / CLAUDEL: Beschluss / 

des dritten Heftes: DERAIN: Holzschnitt / GEIGER : 

Ode / GIDE: Mopsus / RAY: Jules Romain 

des vierten Heftes: RODIN: Akt / PEGUY:Myste- 

rium / GIDE: Anmerkungen / TREUGE: Gedichte / 

L'ARBAUD: Barnabas / 

Spatere Nummern bringen Handzeichnungen von 

RODIN / MUNCH / PICASSO / BARLACH / RENOIR 

Probenummern werden umsonst nicht abgegeben, 
jede gute Buchhandlung wird zum Bezug der NEUEN BLATTER 
empfohlen. Wo diese Art des Bezuges auf Schwierigkeiten stosst, erfolgt 
derVersand gern durch den Verlag, der das Porto besonders berechnet. 

ERICH BARON /VERLAG/ BERLIN W. 15/205 



Jahrgang I. Munchen, 

No. 12. Marz 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 



-^imr^^T tr 31-1 ip^m^Trrn mora niininnLH" t -r t t. t.~\ it n -i - ,j i in ei rr a lit nam mjiiinim 



„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag". 

Munchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

Dieses Heft schliesst den ersten J ahrgang des „Kain" ab. 
Die Ataonnenten werden gebeten, den Abonnementspteis fiir das 
nachste Jahr an die Geschaftsstelle einzusenden. Von denen, 
de das Blatt weder neu- noch abbestellen, wird das J ahres- 
abomement, ihr Einverstandnis vorausgesetzt, bei Zusendung 
des Aprilheftes dirch Postnachnahme einkassiert werden. Dem 
Aprilheft wird Titelblatt ind Inhaltsverzeichnis zim ersten J ahr- 
gang beigelegt werden, damit sich de Leser den „Kain" nach 
J ahrgangen binden lassen konnen. 

KAIN-VERLAG. 



Die Bergarbeiter. 

Abgesperrt von jeglichem Sonnenlicht, klaftertief unter 
dem Erdreich, in jedem Moment der Gefahr schlagen- 
der Wetter ausgesetzt, verrichten die Kohlenarbeiter ihr 
schweres Werk. Giftiger Staub setzt sich in ihre Lungen 
fest und zerstort ihre Lebenskraft vor der Zeit, — ihre 
Aufseher aber, die Stellvertreter ihrer Arbeitgeber, priifen, 
messen und wagen, ob jeder einzelne auch genug Kohlen 
zutage fordert, und feilschen, um ihren Auftraggebern ge- 



— 178 — 

Mlig zu sein, dem armen Arbeiter von seiner karglichen 
Besoldung immer noch ein Weniges ab. Akkordarbeit 
nennt man das System, nach dem sich die Entlohnung 
nicht um die Zeit einer Anstrengung, sondern um die 
Quantitat des Geleisteten kiimmert. In jeder verniinftig 
eingerichteten Gesellschaft ware es selbstverstandlich, dass 
das Resultat einer Leistung den Nutzen bestimmte, den der 
Arbeiter von seiner Miihe hatte. In der kapitalistischen 
Gesellschaft hingegen ist diese Methode die denkbar unge- 
rechteste, und der Hinweis der Kapitalisten auf das mora- 
lische Prinzip, dass sich der Lohn einer Arbeit nach dem 
Ausmass ihres Ertrages richten miisse, ist tiickisch und 
verlogen. 

Diejenigen, die mit dem Risiko ihrer Gesundheit und 
ihres Lebens die Arbeitsgeratschaften fremder Menschen 
handhaben und dem Besitze einer privilegierten Minder- 
heit seine Nutzbarkeit verschaffen, haben an der Verwer- 
tung ihrer Produktion nicht das geringste Interesse. Hir 
Arbeitstrieb wird von keinem ethischen Gefuhl, von keiner 
Gegenseitigkeitsverpflichtung gespornt, sondern aus- 
schliessUch von dem Zwang, fur sich und ihre Familien 
den notwendigsten Unterhalt herauszuschlagen. Die Un- 
ternehmer dagegen, die als einziges Risiko ihr spekulatori- 
sches Interesse einsetzen, fordem die hochste Anspannung 
der manuellen Leistungskraft der Arbeiter, weil ihnen 
bei der Ueberzahl arbeitsfahiger Menschen am Leben des 
einzelnen gar nichts, an der Ergiebigkeit der Arbeit mog- 
lichst Weniger alles liegt. Um dieses Hochstmass der 
Anstrengung zu erzielen, werfen sie die Aussicht auf bes- 
sere Lebensfuhrung ausserhalb der Grube den Arbeitern 
als Koder hin und bewirken dadurch bei alien Arbeitern 
eine Ueberspannung der Leistungskraft, mithin friihzeitige 
Abwirtschaftung der Organe und verkiirzte Arbeitsfahig- 
keit, die nur dem Arbeiter zum Schaden gereicht, weil 
der Unternehmer ja jederzeit jungen unerschopften Er- 
satz findet, Untergrabung des kameradschafflichen Ge- 



— 179 — 

fuhls und bei den Beamten und Aufsehern Herausforde- 
rung chikanoser Willkiir und Grossmannssucht 

Die englischen Grubenarbeiter fordern angesichts die- 
ser Verhaltnisse die Festsetzung von Mindestlohnen, um 
dadurch der unumschrankten Despotie der Bergwerks- 
besitzer entgegenzuwirken. Der Wille derer, deren Ar- 
beitskraft das Kapital ausbeutet, um Kapital sein zu kon- 
nen, hat nur einen Weg, sich Geltung zu verschaffen: 
die Verweigerung der Arbeitskraft, den organisierten, soli- 
darischen, konsequenzbereiten Streik. Diesen Weg hat 
die englische Bergarbeiterschaft beschritten, und wir sehen 
gegenwartig einer der grossartigsten Kraftproben zwi- 
schen Ann und Reich zu, die die Geschichte der Arbeiter- 
bewegung bisher geboten hat. 

Der Umfang des Kampfes (und noch weniger die 
Forderungen der Streikenden) ist das Wichtigste nicht, 
was bei der Beobachtung des Vorgangs den sozial beweg- 
ten Zeitgenossen in Atem halt. Es ist vielmehr das Land, 
in dem die Aktion gefuhrt wird, und der Vergleich mit 
parallelen Streikerscheinungen, was hier so ungeheuer 
interessant und aufregend ist. England ist — daran andert 
die monarchische Verfassung gar nichts — eines der 
demokratischsten Lander der Erde. Radikal-demokratische 
Oppositionsparteien haben dort infolgedessen mangels gros- 
ser und umwalzender Programmforderungen sehr wenig 
Aussicht auf starke Popularitat. Auf wirtschaftUchem Ge- 
biet haben die Trades-Unions so ausgiebig auf eine rela- 
tive Friedlichkeit zwischen Kapital und Arbeit hingearbeitet, 
dass England vielen als ein Beispiel fur die Lehre gait, 
die eine natiirhche eruptionslose Entwicklung von kapita- 
Ustischem zu sozialistischem Gesellschaftgefuge behauptet. 
Man traute den grossbritannischen Arbeitern die Ent- 
schlossenheit zu radikaler Selbsthilfe umsoweniger zu, 
als eine politische Parlaments-Vertretung der Proletarier 
in den drei Konigreichen so gut wie gar nicht existiert. 



— 180 — 

Da traten vor einem halben Jahre plotzlich die Seeleute 
in den Streik. Mit einer Bewusstheit, mit einer in sich 
selbst gegriindeten Disziplin wurde der Kampf begonnen 
und mit Hilfe der verwandten Gewerke zum Erfolg gefuhrt, 
die auf dem ganzen europaischen Festland verbluffte, und 
die plotzlich zeigte, dass gerade England Vielleicht den 
bestgediingten Boden fur radikale sozialistische Wand- 
lungen hat. 

Zumal in Deutschland, dessen Arbeiterschaft sich nir- 
gends laut genug ihrer straffen Gewerkschaftsorganisa- 
tionen riihmen kann, konnte ein grosser Streik, der die. 
Besserung der Lebenslage einer das ganze Reich um- 
spannenden Arbeitergruppe zum Ziele hatte, noch nie 
durchgefiihrt werden, obwohl doch gerade hier die Ver- 
fassung der Arbeiterorganisationen eine durchaus zentra- 
listische ist, und obwohl doch hier die Meinung allgemeine 
Giiltigkeit hat, dass ein zentrales Kommando allein ge- 
eignet ist, eine grosse gemeinsame Aktion zu dirigieren. 
Ueberschauen wir aber nach riickwarts die grossen Ar- 
beiterkampfe der letzten Jahre in Deutschland, so stosst 
die Erinnerung immer nur auf partielle Lohnbewegungen. 
Handelte es sich einmal um Kampfe, die gleichzeitig in 
verschiedenen Distrikten gefuhrt werden mussten, so hor- 
ten wir stets von den Arbeitern die bittere Anklage, ihnen 
sei der Kampf von den Arbeitgebern aufgezwungen, sie 
hatten keinen Streik begonnen, sondem seien ausgesperrt 
worden. Die reichste, disziplinierteste und an Zahl machtigste 
organisierte Arbeiterschaft der Welt lasst sich also immer 
wieder in die Defensive drangen und findet auf keinem 
Gebiet den Mut zu einer entschlossenen Aggressivitat. 

Man erinnere sich an den grossen Textilarbeiterstreik 
in Crimmitschau im Jahre 1902. Die Kasse der Gewerk- 
schaft war bis zum Rande voll. Taglich liefen aus alien 
Teilen des Landes und des Auslandes tausende und aber- 
tausende Mark fur die Ausstandigen ein, die sich bei der 
Klaglichkeit ihrer Lage aller Sympathien erfreuten. Der 



— 181 — 

„Vorwarts" berichtete triumphierend, der Streik sei mit 
den vorhandenen Mitteln noch monatelang zu halten. Am 
Tage nach dieser Mitteilung aber brachte derselbe „Vor- 
warts" die Nachricht, die Arbeit sei von den Streiken- 
den bedingungslos wieder aufgenommen worden, und als 
Grund wurde angegeben, bei langerer Arbeitsstockung 
ware die ganze Industrie zugrunde gegangen, diese Ver- 
antwortung habe die Streikleitung nicht tragen wollen 
Einmal angenommen, diese Begriindung sei aus ehrlichem 
Herzen gekommen (in Wahrheit wurde der Streik natiir- 
lich von der sozialdemokratischen Partei inhibiert, die 
furchtete, durch den fortwahrenden Zustrom von Arbei- 
tergroschen in die Streikkasse werde der Reichstagswahl- 
fonds fur 1903 Schaden leiden), — also die Aufrichtig- 
keit der Entschuldigung fur die Niederlage einmal vor- 
ausgesetzt, erheben sich diese Fragen: 1st es Sache der 
Arbeiter, sich um den Bestand einer Industrie zu sorgen, 
fur die zu schaffen so unertraglich ist, dass selbst sachsi- 
sche Weber gegen sie in den Streik treten mussten? 
Weiter: Treibt eine Industrie ihre Unerbittlichkeit gegen 
Streikforderungen bis zum eigenen Zusammenbruch, da 
doch das Bedurfhis nach Leinenproduktion angebhch nach 
wie vor bestand, ist dann nicht die Zeit gekommen, wo 
die Arbeiter mit Hilfe der grossen fur den Streik ge- 
sammelten Kapitalien die Fabriken in eigene Regie neh- 
men und die soziahstische Tat der Begriindung einer 
Produktivgenossenschaft untemehmen sollten? Drittens 
aber: Ware nicht die selbstverstandliche Folge der Beden- 
ken der Streikleitung die gewesen, in samflichen Textil- 
fabriken Deutschlands den Solidaritatsstreik zu prokla- 
mieren, um dadurch der Konkurrenz den Profit aus dem 
Streik abzuschneiden und gleichzeitig die Arbeiter der 
anderen Gegenden von der Verantwortung streikbrecheri- 
scher Verraterei zu entlasten? Die zentralgewaltigen Drat- 
zieher aber dachten anders, bliesen zum Riickzug und 



— 182 — 

bangten den armen Webern das alte Elend wieder auf 
den Buckel. 

Noch widerlicher war das Verhalten der politischen 
Klassenkampfer bei dem Bergarbeiterstreik im Ruhrge- 
biet im Jahre 1905. Die Aussichten standen fur die Ar- 
beiter glanzend. Sehr gegen den Willen der Zentral- 
leitung griff die Bewegung immer weiter um sich, alles 
Bremsen half nichts, die Ausstandigen begriffen den Vor- 
teil ihrer Situation und beschlossen uber die Kopfe der 
Herren Sachse und Hue hinweg, den Streik weiterzufiihren 
und auszudehnen. Franzosische und belgische Gruben 
erklarten sich mit den Deutschen solidarisch, sodass in 
einem sehr umfanglichen Bezirk die Bergarbeit ruhte. 
Inzwischen hatte sich die preussische Regierung ins Mit- 
tel gelegt und mit den parlamentarischen Streikfuhrern 
unterhandelt. Der Handelsminister Moller versprach ein 
Bergarbeitergesetz, und obgleich er keinerlei Garantien 
gab, was darin verfugt werden sollte, und obendrein noch 
im preussischen Abgeordnetenhaus eine Rede hielt, in 
der er unverhohlen seine Sympathie fur die Bergwerks- 
besitzer aussprach, ging jetzt in der Parteipresse, in den 
Knappschaftszeitungen und in den Reden der sogenann- 
ten Vertrauensleute ein aufgeregtes Gegacker an, die Berg- 
arbeiter durften der Legislator nicht vorgreifen, sie miiss- 
ten ihrem Fiihrern folgen, sie vergingen sich gegen die 
Disziplin, und wenn sie nicht aufhorten zu streiken, seien 
alle Bande frommer Scheu gelockert. NatiirUch liessen 
sich die Streikenden nicht storen und verweigerten den 
Leitern den Gehorsam, die das unglaubliche Ansinnen 
an sie stellten, ihre Position im giinstigsten Moment auf- 
zugeben. Selbst die Drohung, die Streikzuschiisse wiirden 
gesperrt werden, verfing nicht. Da griff man endlich zu 
einem ganz infamen Mittel. Man verbreitete — das alles 
ist erweislich wahr — in wichtigen Streikorten Flugblatter 
mit der Behauptung, anderwarts sei die Arbeit wieder 
aufgenommen worden. Diese Luge brachte natiirlich Ver- 



— 183 — 

wirrung in den Kampf. Wurde erst wieder in einigen Ze- 
chen gearbeitet, so hatte der Streik in den andern kei- 
nen Sinn mehr. Der Streik ging also verloren und es trat 
der beispiellose Fall ein, dass die deutschen Arbeiter an 
ihren belgischen Kollegen, die fur sie in den Solidaritats- 
streik getreten waren, zu Streikbrechern wurden. Dass 
bei ihren Bemiihungen, die Arbeiter zur „Vernunft" zu 
bringen, die Herren Hue und Sachse von ihren eigenen 
Pfleglingen Priigel bekamen, ist das Erfreulichste, was 
die deutsche Bergarbeiterbewegung von 1905 der Nach- 
welt hinterlassen hat. Das von Herrn Moller angekiin- 
digte preussische Bergarbeitergesetz kam wirklich. Es 
sah so aus, dass samtliche sozialdemokratische Zeitun- 
gen in wiitender Entriistung erklarten, jetzt seien die 
Bergarbeiter noch iibler daran als vorher. Natiirlich ist 
die Aussicht, einen neuen Streik erfolgreich durchzufiih- 
ren, seither betrachtlich gesunken. 

Welcher Unterschied zwischen den deutschen Strei- 
kern und den englischen! — Von heute auf morgen 
legen auf der ganzen Insel eine Million Arbeiter das 
Werkzeug nieder, ohne Zentralleitung, ohne jahrzehnte- 
lange Schulung durch Diplomaten und Advokaten, ohne 
angstliches Fragen: diirfen wir auch? — Jeder kennt 
sein Interesse, jeder hat eigene Initiative, jeder beschliesst 
nach eigenem Willen. Aber gerade darum ist Einigkeit in 
der Menge, gerade darum Solidaritat und Entschlossenheit. 
Schon schliessen sich andere Organisationen an. Die Eisen- 
bahner weigern sich, Kohlen zu befordern, die belgischen 
und franzosischen Seeleute weigern sich, Kohlen, die fur 
England bestimmt sind und — natiirlich! — aus Deutsch- 
land kommen, zu verladen und iibers Meer zu fahren. 
Im ganzen Land steigen die Kohlenpreise ins Unerschwing- 
liche, und die Arbeiter werden ihre Anspriiche durchset- 
zen, weil sie sich nicht auf gefiillte Kassen verlassen, 
sondern auf ihre wohlangewandte Energie, und weil sie 



— 184 — 

sich nicht von besoldeten Fiihrern kommandieren lassen, 
sondern den eigenen Verstand nach dem Rechten fragen. 
Mit Geld kann nie ein Streik gewonnen werden, 
weil auf der andern Seite stets mehr Geld ist. Von einer 
Zentralmacht kann nie ein Streik dirigiert werden, weil 
die, die mit ihrem eigenen Leibe fur ihre eigene Sache 
kampfen, keine Tatkraft haben konnen, wenn sie nicht 
selbst beschliessen diirfen was not tut. Wehe der Ar- 
beiterbewegung, die Politikern in die Klauen gerat, denn 
die kummert nicht die Arbeiterbewegung, sondern die 
Politik. Werden die deutschen Arbeiter von den engli- 
schen lernen? — Sie werden nicht. Sie werden wahlen 
und wieder wahlen und immer wahlen. Die Gewahlten 
aber haben keine Zeit, sich um Arbeiterfragen zu kiim- 
mern. Sie miissen streiten und schachern, wer bei ihren 
Beratungen das Presidium fiihren soil, und sie miissen 
untereinander darum raufen, ob ein Sozialist den Hof- 
knix machen darf oder nicht. 



Seit der Niederschrift der vorigen Betrachtung kommen aus 
Dortmund und Essen taglich Nachrichten, die es wahrscheinlich 
machen, dass beim Erscheinen dieses Heftes die Bergarbeiter des 
Ruhrreviers von neuem im Streik stehen werden. Das jammerliche 
Verhalten der dem „alten Verbande" eng verbtindeten „christlichen" 
Gewerkschaften zeigt, dass die Initiative auch diesmal wieder von 
den Arbeitern ausgeht, die, durch die Erfahrungen von 1905 ge- 
witzigt, hoffentlich den eigenen Entschlilssen mehr vertrauen wer- 
den als den diplomatischen Kunststlicken der Zentralverbands-Leiter. 
Die foderalistisch organisierten Syndikalisten, die zumeist radikal- 
sozialistische und anarchistische Tendenzen verfolgen, haben im Streik- 
bezirk erfreulich starken Einfluss. Ihre zweckbewusste Beratung 
wird voraussichtlich ein zu fruhes Paktieren mit den Zechenbesitzern 
und ein Eingehen auf Vermittlungsvorschlage der zur Aufrechthal- 
tung der kapitalistischen Einrichtungen erkorenen Regierang zu ver- 
hindern wissen. Die gleichzeitige Ruhe der Bergwerke in England 
und Deutschland muss in kurzester Frist den Kohlenmangel in 
ganz Europa so nachdrucklich fiihlbar machen, dass der Lebenswille 
der gesamten Bevolkerung einen Vergleich nach dem Diktat der 
Arbeiter erzwingen wird. Die Streikenden konnen nicht laut genug 



— 185 — 

vor den Vertrostungen ihrer Flihrer auf eine gelegenere Zeit gewarnt 
werden. Mag das englische Beispiel anfeuernd auf sie wirken, 
damit wir endlich einmal auch in Deutschland einen energisch durch- 
gefuhrten Wirtschaftskampf erleben. Die Englander haben die Ver- 
gleichsvorschlage ihrer Regierung abgelehnt und sich damit das 
Missfallen der liberalen Zeitungen zugezogen. Denen, die nach 
der Sympathie des Burgertums schielen, sei gesagt, dass sie immer 
nur solange dauert, wie das Interesse der Grubenaktionare nicht 
gefahrdet ist. Sobald eine Einschrankung der Ausbeutungsmoglich- 
keit der Arbeitskrafte akut zu werden droht, ist die ganze arbeiter- 
freundliche Bourgeosie nicht nur mit der Zusammenziehung zahl- 
reicher Gendarmerie im Streikgebiet einverstanden, sondern zetert 
auch noch nach Maschinengewehren und Standrecht. Die Arbeitet; 
des Ruhrreviers sind als mutige Kampfer bewahrt. Sie warten 
nicht, bis die Unternehmer sie bei entsprechender Konjunktur aus- 
sperren, und mlissen daher nicht, wie vor zwei Jahren die Bau- 
arbeiter und jetzt wieder die Schneider, notwendig die Schwacheren 
bleiben. Es ist zu hoffen, dass durch ihre entschlossene Offensive 
die durch die schlappe Betulichkeit der parlamentarischen Klug- 
schnacker arg misskreditierte deutsche Gewerkschaftsbewegung neue 
Kraft und Festigkeit gewinne. 



Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Mittags wurde mir eine Graupensuppe gebracht, in der hier 
und da Rindfleischfetzen schwammen. Mir grauste allmahlich vor den 
Suppen, und ich fragte, wie es denn eigentlich mit meiner Selbst- 
bekostigung bestellt sei. Der Aufseher erklarte mir, dass ich das 
eher hatte sagen mussen, und dass er mir jetzt nichts holen konne. 
So zwang ich also wieder meine Suppe herunter und ass das 
klitschige Brot dazu. Aber nachmittags, als ich fast am Ende der 
zweiten Schmidschen Erzahlung war, kam ein uniformierter Herr in 
meine Zelle, der mir mein Briefpapier nebst Bleistift brachte (nach- 
dem kurz vorher schon auf mein energisches Bitten der Warter 
zwei Bogen Schreibpapier nebst Tinte und Feder gebracht hatte), und 
fragte nach meinen ubrigen Wunschen. Ich hielt den Herrn zuerst 
filr einen Oberaufseher, nachdem ich ihn aber mehrfach so be- 
titelt hatte, nahm er vor einigen Tagen eine Gelegenheit wahr, um 
mich dariiber aufzuklaren, dass er der Inspektor sei und das ganze 
Gefangnis unter sich habe. Ich kann sagen, dass ich an diesem 
Inspektor hier meinen besten Freund, meine zuverlassigste Sttitze habe. 
Der Mann erleichtert mir das Leben, soviel er irgend kann und 



— 186 — 

hat mir tatsachlich schon soviel geholfen und genutzt, dass ich 
ihm aus dieser unangenehmen Zeit ein sehr gutes Andenken bewahren 
werde. Zunachst orientierte er mich iiber die Methode, zu der ge- 
nehmigten Selbsfbekostigung zu gelangen, indem er mir eine Speise- 
karte des Restaurateurs Fahrland iiberbrachte, mit dem die Ge- 
fangnisverwaltung das dort Bezeichnete mit angegebenen Preisen 
vereinbart habe. Ich solle nur taglich aufschreiben, was ich haben 
wolle und morgens den Zettel fur den ganzen Tag abgeben. Zum 
Essen erlaubte er mir, taglich zwei Flaschen Bier zu trinken, Charlot- 
tenburger Schlossbrau, dessen Qualitat er mir sehr pries. Ich bestellte 
noch fur den gleichen Abend ein Schnitzel mit Kompott nebst zwei 
Flaschen Bier und filr den nachsten Morgen schwarzen Kaffee mit 
zwei geschmierten Brotchen. Dann bat ich den Inspektor inbrtinstig, 
mir das Rauchen zu gestatten. Ich hatte dieses Anliegen schon dem 
Assessor B. vorgetragen, der hatte mich aber damit an den Arzt 
verwiesen, einen Herrn, den ich bis zum heutigen Tage noch nicht 
zu Gesicht bekommen habe. Ich setzte dem Inspektor auseinander A 
dass ich gewohnt sei, taglich 10, 12 bis 15 schwere Zigarren 
zu rauchen, und dass mich die zwei Tage, die ich das Rauchen jetzt 
entbehren musste, schon ganz schwermiltig gemacht hatten. In der 
Tat glaube ich, dass ziemlich arges Kopfweh und viele sehr qualende 
Gedanken, die mich hier bedrlicken, bei hinlanglichem Zigarren- 
genuss vermieden werden konnten. Ich bat also, mir von den 
neun Zigarren, die ich auf der Reise nach Zurich rauchen wollte, 
jeden Tag wenigstens zwei zu bewilligen. Der Inspektor versicherte 
mir, dass er mir ohne ausdruckliche Genehmigung keine geben 
diirfe, als ich ihm aber begreiflich machte, dass meine Gesund- 
heit bei weiterer Nikotinenthaltsamkeit nach meinem Geftihl Schaden 
leiden musse, erklarte er endlich, dass er mir zwei Zigarren herauf- 
schicken wolle und die Bewilligung dazu nachholen werde. Ich 
gestehe, dass ich dem Manne sehr dankbar war und bin. 

Nachdem er mich allein gelassen hatte, schrieb ich zuerst auf 
das Gefangnispapier, das so geknifft war, dass der Briefbogen gleich- 
zeitig das Kuvert darstellte, zwei Briefe: an Landauer und an 
Caro, worin ich eine Reihe von Wiinschen liber Massnahmen ausserte, 
die mir fui meine Verteidigung wichtig schienen. Vor allem bat ich 
Landauer, meinen Artikel „Neue Freunde"), in dem ich iiber 
meine Absichten mit den „Vagabunden" berichtete und seine Aus- 
einandersetzung iiber die rechtliche Beziehung des Sozialistischen 
Bundes zum Vereinsgesetz an Caro und an Bernstein zu schicken, 
und Caro bat ich, mir Lektiire zu bc„jrgen. Ob alle Briefe, die ich 
von hier absende, ihr Ziel erreichen, weiss ich nicht. Auf eine 



') „Sozialist" vom 1. August 1909 (Jahrg. I. Nr. 12). 



— 187 — 

ganze Fiille von Briefen, die ich schrieb, ist gar keine Antwort ge- 
kommen. Von Wohl erhielt ich am dritten November ein Telegramm, 
das am ersten abgesandt war und in dem er versprach, er werde 
„noch heute" schreiben. Ein Brief von ihm ist aber bis jetzt nicht 
in meine Hande gelangt. Ausser diesem Telegramm brachte mir 
die Post in der ganzen Zeit meines Aufenthaltes hier nur eine 
Postkarte und eine Nummer der „Schaubilhne" . . . Ob nun in 
der Regel meine Briefe nicht befordert werden, oder ob die Briefe 
an mich nicht abgeliefert werden, entzieht sich meiner Beurteilung. 
Vielleicht kommt vieles, was irgend etwas an Wilnschen, Meinun- 
gen und dergleichen enthalt, was sich auf meine „Straftat" bezieht, 
einfach zu den Gerichtsakten. Dass seit einer vollen Woche kein 
Brief an mich geschrieben sein sollte, halte ich fiir ausgeschlossen. 
Jedenfalls wirkt diese Unsicherheit im Verkehr mit der Aussenwelt 
auf mich ausserst deprimierend. 

Fortsetzung folgt. 

„M. N. N." 

Nordlich von Augsburg wohnen die Preussen, ostlich von Rosen- 
heim die Schlawiner. Der von diesen beiden Volkerschaften flan- 
kierte Winkel begrenzt den Wirkungsbezirk der „Munchener Neuesten 
Nachrichten". 

Man konnte meinen: Zeitung ist Zeitung, Schmock ist Schmock, 
die „M. N. N." aber sind eine lokale Munchener Angelegenheit, 
die 'jenseits von Augsburg und Rosenheim keine Seele interessiert. 
Mich dtinkt jedoch die Aufgabe lohnend, einmal an einem Muster- 
beispiel aufzuzeigen, welche Jammerlichkeit in den Bergen Lese- 
papiers gespeichert ist, aus der der deutsche Burger beim Fruhstuck, 
beim Abendbrot und bei der Verdauung seine geistige Nah- 
rung zieht. 

Um meine Ansicht tiber das Munchener Zentral-Intelligenz-Organ 
vorweg in einem Satze zusammenzufassen: Die „Munchener Neue- 
sten Nachrichten" schlagen in intellektueller Hinsicht an Dummheit, 
in ethischer Hinsicht an Gesinnungslosigkeit unter alien deutschen 
Zeitungen jeden Rekord. Diese Meinung spreche ich unter aus- 
drilcklicher Wahrung meiner sehr geringschatzigen Beurteilung samt- 
licher ubrigen in Mlinchen oder sonstwo erscheinenden Tagesblatter 
aus. — Und ich gehe noch weiter und behaupte: Die Kummerlich- 
keit und Indolenz der „Munchener Neuesten Nachrichten" tragt als 
wesentliches Moment zur Stagnation im Munchener Geistesleben bei. 

Vom Ochsen kann man bekanntlich nicht mehr verlangen als 
Rindfleisch, von einer liberalen Zeitung also nicht mehr als schwan- 
kenden Charakter. Von einer einigermassen intelligenten Redaktion 



— 188 — 

sollte man aber erwarten dtirfen, dass schneller Wechsel in der 
Beurteilung dieser oder jener Angelegenheit durch allmahliche Ueber- 
gange wenigstens notdilrftig verdeckt wird. Hat z. B. das „Berliner 
Tageblatt" einmal eine Weile in orgiastischer Arbeiterfreundlich- 
keit geschwelgt, und es entsteht in irgendeinem Gewerbe ein Konflikt 
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, so geschieht die von der 
Rilcksicht auf die kapitalkraftigen Abonnenten gebotene Schwenkung 
so vorsichtig und geschickt, dass sparer an der Borse kein Mensch 
mehr Weiss, wie eng das gesinnungstuchtige Blatt noch vor kurzem 
den begehrlichen Massen verbilndet war. Auf der Redaktion der 
„M. N. N." aber wird mit der rechten Hand schon ein konser- 
vativer Artikel geschrieben, wenn die linke noch von roter Tinte klebt. 
Heute alldeutsch, morgen kosmopolitisch; heute Preussen in 
Deutschland voran, morgen bayerisch-partikularistisch; heute anglo- 
phil, morgen Krieg mit England; heute droht der temperamentvolle 
Dr. Hirth mit der Revision der monarchischen Gefuhle, morgen wird 
gedampft, besanftigt, gebremst und eine Devotion vor der Dynastie 
an den Tag gelegt, dass sich einem der Magen umdreht. Halt 
irgend ein Freidenker und Hornachaffer in Mlinchen atheistische 
Sonntagspredigten, so ist man stramm gottlos; spricht im Kindlkeller 
ein abgesetzter protest-protestantischer Pfarrer, so beschimpft man 
mit ihm vom christlichen Standpunkt her die protestantische Kirche; 
geht's gegen den Katholizismus, wird der evangelische Glaube als einzig 
seligmachend empfohlen, und am Fronleichnamstag trieft man ilber 
von katholischer Frommigkeit. Nicht anders wird's mit der Sitt- 
lichkeit gehalten: wo sich Autoritaten fur freie Kunstiibungen ein- 
setzen, kann es gar nicht nackt genug hergehen, tagt aber gerade 
ein Kongress zur Bekampfung von „Schmutz und Schund in Wort 
und Bild", dann verdreht man die Augen und das Kausen vollfilhrt 
seine moralischen Grotesktanze unter der Cimbelbegleitung liberaler 
Tugendwachter. Vermutlich angstigt man sich vor der Moglichkeit, 
der Kongress konnte bei seiner Jagd nach dem „Schund in Wort" 
einer Nummer der „M. N. N." habhaft werden. Dass die moralische 
Entrtistung tiber Prostitution und Kuppelei im redaktionellen Teil des 
Blattes mit gewissen Anzeigen im Inseratenteil oft in amtisantem 
Gegensatz steht, braucht nicht aufzuregen. Das ist fast uberall 
so, und in Wien gibt es zum Nachweis solcher Diskrepanzen seit vier- 
zehn Jahren ein Spezialorgan. 

Am wiistesten sieht es im Feuilleton aus. Die Langweiligkeit 
der Abhandlungen in alien Ehren. Das Publikum soil wohl darauf 
aufmerksam gemacht werden, dass die Essays lediglich dem Zweck 
der Raumausfullung zu genugen haben. Dass die Romane unter 
dem Strich minderer Durchschnitt sind, mag auch hingehen. Gute 
Romane, noch dazu Erstdrucke, kosten viel Geld, und das spart 



— 189 — 

man am besten da, wo Kulturbedtirfnisse berlicksichtigt werden 
mlissen. Aber man iiberwinde sich einmal und sehe sich an, in 
welcher Weise die Kunststadt Munchen von ihrer grossten Zeitung 
iiber die aktuellen Vorgange im kunstlerischen Leben orientiert wird. 
Den einzelnen Kritikern soil gar kein Vorwurf gemacht werden. 
Man hat oft den Eindruck, als ob sie es viel besser wussten, als sie 
es aussprechen durfen. In den Berichten liber Theater, Musik und 
bildende Kttnste werden Eiertanze aufgefiihrt, die jeden Variete 
Jongleur beschamen konnen. Niemals ein freies, kraftiges Wort 
fur etwas Neues, Unerhortes, Besonderes, niemals ein mannliches 
Eintreten filr einen Verkannten, niemals eine Derbheit gegen ein 
iiberschatztes Werk gegen einen Chlarlatan und Bluffer. Was der 
Geschmack der Masse gebilligt hat, ist sakrosankt, was er ablehnt, 
ist Tabu. Kultiviertere Nerven empfangen aus den Ausschleimungen 
solcher Kritiken nichts als Ekel und Wut. 

Haufig liest man in den Zeitungen die geschwollene Selbst- 
anpreisung, dass aus ihren Urteilen der Geschmack der Menge ge- 
lautert und gebildet werde. Das Gegenteil trifft zu. Die Meinung der 
Kasehandler wird aufgefangen, mit einer gebildeten Sauce Ubergossen 
und splchen, die lernen mochten, die unsicher sind in ihren kunstleri- 
schen Urteilen, als letzte Wahrheit serviert. 

Dass es aber bei den „Milnchener Neuesten Nachrichten" Ab- 
sicht ist, nur dem untergeordneten Geschmack zu schmeicheln, daftir 
kann der Beweis erbracht werden. Ueber das, was auf dem Gebiete 
der Kunst in Munchen vorgeht, kann sich hier jemand, der in die 
Berichte seines Leiborgans Zweifel setzt, zur Not auch selbst unter- 
richten und dann lachelnd gestehen, dass der Kritiker, den er 
nachprilfen wollte, aufgesessen ist oder aber seine Aufgabe sehr 
oberflachlich genommen hat. Man wiinscht aber auch zu wissen A 
wie die Dinge in Berlin stehen. 

Der Berliner Korrespondent der „Munchener Neuesten Nach- 
richten" heisst Richard Nordhausen. Der Herr braucht hier kaum 
charakterisiert zu werden. Er ist Redakteur einer der reaktio- 
narsten Zeitungen, die je auf dem Sumpfe deutscher Volksaufklarung 
erbliiht sind. Das weiss man in der Sendlingerstrasse genau so gut 
wie ich es weiss. Herr Nordhausen (auch unter dem Namen 
Caliban peinlich bekannt), ist preussisch-konservativ, antisemitisch und 
jedem Fortschritt, jeder Entwicklung im Grunde seines Herzens 
abgeneigt. Dieser Herr versorgt Munchen mit Mitteilungen iiber 
das Berliner Kulturleben, wobei er konsequent das Gute, Forderliche, 
Neue beschimpft und in den Dreck zieht, die iiberlebte Mittelmassig- 
keit aber streichelt und preist. Aber er schreibt ja nur furs Feuille- 
ton, er ist ja nur Plauderer unterm Strich: die Manner, deren kraftige 
Konstitution die Verantwortung fiir die „M. N. N." aushalt, scheinen 



— 190 — 

nicht zu wissen, dass alle Gemeinschaft unter den Menschen in ihren 
ausseren Formungen abhangig ist von den kulturellen Grundlagen 
ihrer Gesittung. Wird diese Gesittung — unter Hinzuziehung des 
Herrn Nordhausen — kiinstlich gebogen, so kann eine liberale Gestal- 
tung (das maltratierte Wort „liberal" hat ursprunglich eine sehr 
gute Bedeutung), der offentlichen Dinge nicht erwartet werden. — 
Den „Munchener Neuesten Nachrichten" kann also bloss der Rat 
erteilt werden, ihren Liberalismus entweder oder sich selbst aufzu- 
geben (von ihrem „Geiste" mochte ich doch lieber nicht reden). — 
Dass Munchen ohne sein Intelligenzblatt ohne Nachrichten liber die 
Vorgange bei den Preussen und Schlawinern bliebe, ware nicht zu 
befilrchten. Auch heute schon hat man die Mitteilungen, die die 
„M. N. N." im Morgenblatt bringen, meistens am Abend vorher 
bereits in einer Berliner Zeitung vom vergangenen Tage gelesen. 
Daher ja der Name: „Neueste Nachrichten". 



Bemerkungen. 



Die Stimmrechts-Amazonen. Es scheint am Platze, dem torich- 

ten Hohn gegenilber, mit dem allgemein die Bemlihungen der eng- 

lischen Wahlrechtskampferinnen betrachtet werden, das Streben dieser 

Frauen und die Versuche, ihr Ziel zu erreichen, in respektvoller 

Form zu kritisieren. Schon dass wirklich von Kampferinnen gesprochen 

werden darf, und dass ehrliche Leidenschaft ihr fur Frauen sehr 

ungewohnliches Vorgehen leitet, zwingt zu Achtung und Gruss. 

Zehntausende am Leben der Gesamtheit beteiligte Frauen sind zu der 

Erkenntnis gekommen, dass sie neben den Pflichten, die ihnen die 

Gesellschaft auferlegt, auch Rechte zu beanspruchen haben, und da 

ihre Pflichten gegen den Staat die gleichen sind wie die der Manner, 

so verlangen sie auch die gleichen Rechte, zu allernachst das Recht, 

an der Legislative aktiv teilzunehmen. Ihre Schriften, Petitionen, 

Resolutionen hat man ignoriert, man hat geglaubt, ilber die Wlinsche 

der Frauen mit einem Achselzucken hinweggehen zu dilrfen. Dieses 

Verhalten hat die natlirliche Antwort provoziert: fand die Diskussion 

kein Gehor, so musste man die Ohren der Manner durch Larm 

willig machen. Man musste die Bewegung inszenieren, die die 

ganze Oeffentlichkeit als Zeugin reklamierte, um der Missachtung 

der massgebenden Manner wirksam zu begegnen. Wenn eine so 

grosse Zahl Frauen, wie sich in London an den Strassendemonstra- 

tionen zur Erringung des Frauenwahlrechts beteiligt, den Entschluss 

fassen kann, in rebellischer Haltung durch die Strassen zu Ziehen, 

Fenster einzuwerfen und die kleinen Fauste drohend und kampf- 

bereit gegen die von starken Mannermuskeln bediente Staatsgewalt 

zu erheben, dann gehort schon die ganze stupide Arroganz einer auf 

dem Vorurteil von der Ueberlegenheit des Mannes aufgebauten 

Kultur dazu, um den Ernst des Wollens dieser Frauen zu bezweifeln. 

Es ist beschamend fur das sittliche Niveau der Manner, dass 

ihnen erst gesagt werden muss, dass es keine Pose sein kann, wenn 

sich Frauen scharenweise unter den Dachern ihrer Gatten und Kinder 



— 191 — 

weg um einer Idee willen ins Gefangnis setzen lassen. 

Was die Forderung der weiblichen Demonstranten selbst an- 
geht, so wissen meine Leser, wie weit ich davon entfernt bin, die 
Einflihrung des Frauenwahlrechts filr einen kulturellen Fortschritt 
zu halten. Dass die Frauen nicht wahlen diirfen, ist gewiss albern 
und ungerecht, da nun einmal der Parlamentarismus als eine frei- 
heitliche Errungenschaft gilt. Aber man mochte wiinschen, dass so 
entschlossene Vertreterinnen ihres Geschlechts sich fur wichtigere 
Dinge aufopferten, als filr Mannerrechte, die keine Rechte sind 
Die Verweigerung der politischen Mitwirkung ist unter den Miss- 
handlungen, denen die Frauen in alien Landern ausgesetzt sind, 
die gleichgultigste. Ist es ihnen um freieren Atem zu tun, so sollten 
sie ihre Anstrengungen zunachst auf eine wiirdigere Einschatzung 
ihrer personlichen Lebensbedlirfnisse richten. Solange das private 
Tun des Weibes der Kontrolle der Manner untersteht, solange die 
geschlechtliche Unerfahrenheit des Madchens von der Gesellschaft 
als Wertmass der Tugend Geltung hat, solange das sexuelle Leben 
der Frauen ausserhalb der staatlich gestempelten Ehe als verachtlich 
und unsittlich angesehen wird, solange wird das weibliche Geschlecht 
in der Tat dem mannlichen untenan sein, und solange sollten die 
Frauen nicht nach ausserlichen Gleichberechtigungs-Titeln greifen. 
Eine Frau, die sich schamt, Mutter illegitimer Kinder zu werden, 
hat keinen Anspruch auf Aemter, fur die Energie, Selbstandigkeit 
und eigene Verantwortung geforden werden. Mogen sich die Frauen 
zunachst einmal von den Vorurteilen einer prliden Moral befreien, 
mogen sie in ihren personlichen EntSchliessungen den eigenen Willen 
statt des Urteils der Mitmenschen bestimmen lassen, dann werden 
sie sich bei den Mannern schnell genug die Achtung verschafft 
haben, die auch ihren politischen Wiinschen den erforderlichen 
Nachdruck geben wird, — zumal in England. 



Die Geheimnisse von Czenstochau. Die Berichte liber die 
Vorgange im Kloster von Czenstochau lesen sich wie eine roman- 
tische Erzahlung aus der Renaissance-Zeit: Kirchenraub, sexuelle 
Orgien, Ehebruch, Mord — alles mit abenteuerlichen Finessen garniert, 
alles von den patentierten Hutern christlicher Demut und Frommig- 
keit exekutiert. Bruder Macoch wird ja wohl von den sibirischen 
Bergwerken nicht zurilckkehren, und der urns Heil der Kirche 
besorgten Menschheit bleibt die Zuversicht, dass soviel klosterliche 
Niedertracht nie wieder an der Rampe des offentlichen Theaters 
erscheinen wird. Ueberaus beruhigend muss auch die Versicherung 
des Anklagevertreters wirken, der zu Beginn seines Plaidoyers die 
Erklarung abgab, die Mutter Gottes von Czenstochau werde trotz der 
bedauerlichen Entgleisungen ihrer priesterlichen Anbeter ihre wunder- 
tatige Wirksamkeit keineswegs einstellen. Der ermordete Waclof drehte 
sich bei diesen Worten des Staatsanwalts im Sofa um. 



Ein Opfer seines Berufs. In Berlin wurde ein Herr arretiert, 
der sich bei jiingeren Strassenpassanten mannlichen Geschlechts da- 
durch unbeliebt gemacht hatte, dass er ihnen, ohne seinerseits sinn- 
liche Begierden zu erregen, zartliche Antrage stellte. Et legitimierte 
sich der Polizei als Pastor a. D. und ist identisch mit einem eifrigen 



— 192 — 

im Evangelischen Bunde an bevorzugter Stelle tatigen Bekampfer 
der Unsittlichkeit. Nun wird er sich vor dem Strafgericht verant- 
worten mttssen. Es kann ja aber auch nicht ausbleiben, dass die 
standige Sorge um die Moral der lieben Nachsten und mithin die 
unausgesetzte Beschaftigung mit sexuellen Dingen die Geschlechts- 
nerven scheusslich strapazieren muss, und so strauchelt denn der 
sittliche Mensch viel leichter als der unsittliche. Dass aber die 
jungen Leute dem Herrn Pastor samt und sonders einen Korb 
gegeben haben, muss das Missgeschick unseres Tugendpredigers be- 
sonders beklagenswert erscheinen lassen. Hatte er wenigstens etwas 
von seinen Bemilhungen gehabt ! 



Bittingers Fehltritt. In allem muss es die Munchener Polizei 
der Berliner nachtun. Schutzmanns-Helmspitzen, Zensur-Verbote, 
Schliessung der Bordelle, Anarchistenprozesse — eins nach dem 
andern hat man den preussischen Brudern abgekuckt, und nach- 
dem Herr v. Jagow eine moralische Affaire gehabt hat, durfte 
naturlich in Munchen ein „Fall Bittinger" nicht ausbleiben. Eine 
ungeschickte Hand hat die Munchener Polizei in all ihren Unterneh- 
mungen gezeigt, und so ist auch der bisherige Leiter der Kausen- 
Filiale in der Weinstrasse nur recht bescheiden fehlgetreten. Um 
sich fiber sein Pech amiisieren zu konnen, muss man zunachst schon 
den Ekel gegen die Sensationskulis hinunterschlucken, die nach drei 
Jahren die von der Polizeihand getatschelten Madchenhoschen ins 
Licht gehangt haben. Man wird von mir schwerlich erwarten, dass 
ich mich in sittlichen Entrustungskrampfen winden sollte, weil der 
Chef der Munchener Sittenpolizei in der Sektlaune beim Bal pare einer 
jungen Dame an die Beine gelangt hat. Ich werde mich hiiten, 
eine Handlung zu verurteilen, zu der ich jederzeit selbst kapabel 
ware. Immerhin mochte ich aber eine gelinde Schadenfreude nicht 
verhehlen, die mir von der Betrachtung erweckt wird, dass die 
— an sich recht schabige — offentliche Breitwalzung einer solchen 
Angelegenheit ausgerechnet einen Mann angeht, dem Gott das Amt 
gab, den Lebenswandel seiner Mitmenschen zu uberwachen, einen 
Mann obendrein, der sich um mich personlich sehr ausgiebig bemiiht 
hat. Er hat mir nieine Koffer durchwiihlen lassen, er hat mich 
eingesperrt, und er hat bei seiner verdienstvollen Vorarbeit zur 
Inszenierung des Sollerprozesses den redlichsten Eifer gezeigt, mir 
in meiner Verbindung mit den Munchener Strizzi und Lustknaben 
(die allesamt keine Florentiner oder Capueser sind) innigere als 
nur kameradschaftliche Beziehungen nachzuweisen. Nun wissen wir 
also, dass auch in dieser keuschen Brust menschliche Geflihle 
wohnen. Ich meine, man kann iiber die Tatsache ruhig zur Tages- 
ordnung ubergehen, dass der derzeitige Stuttgarter Polizeidirektor 
einmal seiner Tischnachbarin unter die Rocke gegriffen hat, zumal 
er ja, nach seiner eigenen Gerichtsaussage, nichts dabei fand. 



Verantwortlich fiir Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Munchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Munchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftstelle: Munchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



KAIN, Heft 10. Inhalt: Der Humbug der Wahlen. — 
Oaha. — Die Speisung der Armen. — Der Lustmorder. 

KAIN, Heft 11. Inhalt: Fasching. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Georg Heym. — Vom 
politischen Kasperltheater. Abel. Miinchen-Schilda. 



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Zu hrzirhcn ilurrt) ictir Bud)tjanfluing imtl den 
Kain Dcrlag, muufljfn, BaadrrftraBe la. 



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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-VerlagMiinchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Adresse: 



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fc ) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen. 






Jahrgang II. 



No. 1. 



April 1912. 



KMN 

Zeif/chriftfur 
Men/chlichfy 
HerauJcjeber; 

(rich Huh fm 




In halt: Anarchistisches Bekenntnis. — Miinchner Theater. — 
Intrlguen. — Bemerkungen. — Karl May. — Die Pleite im 
Ruhrrevier. — Mottl und die „Munchener Post". — Die Tugend 
hat gesiegt. 



Kain-Verlag Munchen. 



30 Pfg. 



Kain-Kalender 

fur das Jahr 1912 

Herausgeber: ERICH MUHSAM 

Samtl. Beitrage sind vom Herausgeber :: Preis 1 Mark 

Zu beziehen durch jede Buchhandlung und den 
KAIN-VERLAG, MUNCHEN, Baaderstrasse 1 a. 



Kulturgemeinschaft Freie Generation. 

Soeben erschienen: 

<■#* .Tahrbuch der Freien *#* 
= Generation fur 1912 ^^ 

Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus — 

Sozialismus. 

Aus dem reichhaltigen Inhalt des 128 Seiten umfassen- 
den, illustrierten Bandes heben wir hervor: 

Peter Krapotkin: lieber Leo Tolstoi. — Luipi: Die Grundlagen des freien 
Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammern des Staates. — 
Aufruf der Internat Antimilitarischen Assoziation: An die Rekruten Frank- 
reichs ! Fritz Brupbacher: Die Aufgaben des Anarchismus im demokratischen 
Staate. — Otto Karmin: Sylvain Marechal und die Verschworung der 
Gleichen. — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses 
zwischen ideal und Wirklichkeit — Andreas Kleinlein: Der Syndikalismus 
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis Aus dem Lehen eines revo- 
oo lutionaren Kampfers etc. etc. oo 



Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1. — , bei Bezug von 3 Exempl. fur 

insges. Mk. 2.25. 

Samtliche Geldsendungen richte man an : 

Rudolf Grossmann, Klostemeuburg (bei Wien) 

Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich. 



Jahrgang II Miinchen, 

No. 1. April 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

■ ■MHiilim.li.Mi<*I^J.M..MtM-M.M,ifcXi l .li.^ ^ 

„ K A I N " erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 
Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 



'-^Ti'.Gim-Tza'iinj-jr^r.rz pTanm iEms mrn-rxrE^^rcsm^mmr-rrrTTTrTiTTrn-rrTTJirr-ri 5x j. n jiu i 



Anarchistisches Bekenntnis. 

En rundes Jahr ist abgelaufen, seit ich zum ersten 
Male die Freude hatte, mit dieser Bekenntnis-Zeitschrift 
vor die Oeffentlichkeit zu treten. Der „Kain" hat sich seit- 
dem gute Freunde geworben, zwar noch nicht genug, 
um aus eigener Kraft leben zu konnet aber doch so 
viele, dass begriindete Aussicht besteht, ihn in kurzer Zeit 
ohne weitere personliche Opfer wirken zu sehen. Es ent- 
spricht nicht meinem Geschmack, das Schallrohr an den 
Mund zu setzen und mit marktschreierischer Anpreisung 
der eigenen Leistung neue Abonnenten anzulocken. Ich 
muss es denen, die an meiner Art, iiber die Dinge der 
Welt zu urteilen, Gefallen gefunden haben, iiberlassen, 
ihre Lektiire weiterzuempfehlen, ich personlich beschranke 
mich auf das Versprechen, auch den neuen Jahrgang und 
alle, die ihm hoffentlich folgen werden, in der Ehrlichkeit 
und in dem Bemiihen um Gerechtigkeit und menschlichen 
Anstand entstehen zu lassen, die dem „Kain" bisher niitz- 
lich gewesen sind. 

Ueberschaue ich heute das sittliche Resultat der bisher 
im „Kain" akkumulierten Arbeit, so glaube ich mich zu 



einem Erfolge froh begliickwunschen zu diirfen: ich, habe 
bewirkt, dass eine betrachtliche Anzahl vor sich selbst 
aufrichtiger Menschen zu einer Revision ihrer Ansichten 
iiber anarchistische Tendenzen gelangt ist. Sowenig mir 
prinzipiell an einer Festlegung meiner Sinnesart in einen 
programmatischen Begriff liegt, so wichtig ist mir doch 
das Bekenntnis grade zum Anarchismus, weil dieses Wort 
von intriganten Politikern geflissentlich in seiner Bedeu- 
tung verwirrt wurde und, wenigstens in Deutschland, im 
Urteil der Meisten als die verbrecherische Konfession 
zugelloser Naturen aufgefasst wird. Grade jetzt aber ist 
mir die Betonung meiner Eigenschaft als Anarchist umso 
wichtiger, als die Schiisse aus dem Revolver des Italieners 
Dalba den Giftmischern neuen Anlass gegeben haben, 
diesen Aberglauben zu starken. 

Das Wort Anarchismus bezeichnet ethymologisch et- 
was Negatives, die Abwesenheit von Zwang und Knech- 
tung, genau wie das Wort Freiheit eine Negation bedeutet, 
da es erst mit Beziehung auf die Frage: wo von? einen 
Sinn erhalt. Aber ebenso wie Freiheit ist Anarchismus 
ein Begriff voll positiver jauchzender Bejahung. Derm 
der Gedanke an die Erlosung von Gewalt, Gesetz und Staat 
kann nur entstehen in der Verbindung mit einer grossen 
heiligen Sehnsucht nach neuen schonen Lebensformen. 

Diese Sehnsucht ist es, die um Freiheit ringende 
Menschen zu anarchistischen Verbindungen vereinigt, der 
Glaube an die Moglichkeit einer Wandlung und der Wille, 
die neue Gesellschaft vorzubereiten. Bestimmte Mittel zur 
Aenderung oder Beseitigung waltender Zustande konnen 
wohl unter Anarchisten verabredet werden, wenn aber 
eine sozialethische Idee mit einer von einzelnen ihrer 
Anhanger gelegentlich angewandten Kampfmethode iden- 
tirlziert wird, so kann man, um hoflich zu bleiben, eine 
solche Dummheit nur mit bosartiger Absicht entschuldi- 
gen. Das Christentum ist nicht falsch, weil zu seiner Eta- 
blierung unendhch viel Blut vergossen wurde, aber die 



Christen, die um ihrer Ueberzeugung willen mordeten, 
handelten falsch, weil ihr Tun unchristlich war. Das- 
selbe gilt fur den Anarchismus: wer in der Meinung, 
damit seiner Sache dienen zu konnen, die Waffe gegen 
einen widerstrebenden Nebenmenschen erhebt, verletzt die 
Grundidee des Anarchismus, die Gewaltlosigkeit, und han- 
delt also unanarchistisch. Deshalb lehne ich den politischen 
Mord als anarchistisches Kampfmittel ab. Mit diesem Ar- 
gument ware ich auch dem jungen Dalba begegnet, hatte 
ich Einfluss auf seine Entschliessungen gehabt. 

Leider konnte ich mit dem tapferen jungen Italiener 
nicht polemisieren, — und so will ich mien jetzt, da er 
getan hat, was sein Temperament gebot, schiitzend vor 
inn stellen und inn verteidigen gegen das journalistische 
Geschmeiss, das inn begeifert. Hande weg! Diesen Mann 
reklamiere ich als meinen Kameraden! 

Wohl, was Dalba tat, widersprach dem anarchistischen 
Grundprinzip. Aber es geschah aus reinem begeistertem 
Herzen, und fem liegt es mir wie jedem Anarchisten, 
solchem Kampfer den kameradschaftlichen Gruss zu ver- 
weigern. Kaiser Karl, den man den Grossen nennt, mor- 
dete Tausende, um dem Christentum die Bahn zu ebnen. 
Sein Kampf war unchristlich, da die christliche Lehre 
den Mord verbietet. Aber kein Christ wird dem Bekeh- 
rungs-Kaiser die Eigenschaft als Christ bestreiten, der aus 
reinem uberzeugtem Herzen tat, was er seinem Glauben 
zu schulden meinte. Damals fuhrte man namlich noch 
Kriege um sittlicher Ideen willen, — die Christen von 
heute morden fur realere Nutzlichkeiten. 

In Tripolis stehen viele Tausende italienischer Man- 
ner unter Waffen. Sie haben die Aufgabe, das Land den 
Tiirken, die es bisher ausbeuteten, wegzunehmen, und 
die Einwohner den Italienern horig zu machen. Die mit 
diesem Auftrage die Heimstatten der Araber verwiisten, 
ungezahlte fremde Menschen toten, ohne Weiber, Greise 
und Kinder der Araber zu schonen, und die dabei ihr 



eigenes Leben den Kugeln der Feinde aussetzen, haben 
von ihrem unsinnigen Tun selbst nicht den kleinsten Nut- 
zen. Sie entziehen ihre Arbeitskraft ihren Familien und 
ihrem Volke, nur um denen, die schon iiber ihre Arbeits- 
leistung verfugen, neue Ausbeutungsmoglichkeiten zu 
schaffen. Viele von ihnen werden nicht heimkehren, viele 
von diesen kraftigsten Mannern, iiber die ItaUen verfiigt, 
Uegen schon seit Monaten in tripolitanischer Erde gebettet, 
viele werden als Kriippel und arbeitsunfahig die Heimat 
wiedersehen. — Aber obgleich sie ihr Leben jeden Tag 
fur das Vaterland der Reichen bereit halten miissen, ob- 
gleich ihnen zugemutet wird, gegen fremde Menschen 
barbarisch zu wiiten, sind sie marschiert. Sie mussten 
marschieren, und wer sich geweigert hatte, ware fiisiliert 
worden. Ihr Konig hat die Entscheidung iiber Krieg oder 
Frieden, — er hat den Krieg bestimmt. Die Soldaten 
miissen gehorchen. 

Man kann sagen, Victor Emanuel habe den Krieg 
nicht gewollt, die Verhaltnisse, das Interesse seines Landes, 
wie er es versteht, haben inn gedrangt, er hatte seinen 
Thron gefahrdet, wenn er sich nicht fur den Krieg ent- 
schieden hatte. Das ist alles moglich. Es ist auch moglich, 
dass Victor Emanuel ein guter, liebenswiirdiger, gefiihl- 
voller Mensch ist. Aber er ist Konig, er ist Reprasentant 
alles dessen, was in seinem Lande von Staatswegen ge- 
schieht. Er tragt — er allein — die letzte Verantwortung 
flir den grauenvollen tripolitanischen Krieg. Wollte er 
sich dieser Verantwortung entziehen, so hatte er abdanken 
konnen. Er hat in seinem Namen den Krieg sanktio- 
niert, in seinem, und nur in seinem Namen fliesst das Blut 
der Araber und der Italiener. 

Ganz ItaUen scheint seit dem Ausbruch des Krieges 
in einen wahren Blutrausch geraten zu sein. Jeder kleine 
lacherliche Scheinsieg, der iiber die Tiirken errungen wird, 
lost orgiastischen Jubel aus, der Konig, seine Generale 
und Minister und die italienische Armee sind popularer 



als je. — Nur in den Unterschichten des Volkes gart es. 
Die, die im Elend leben, weil ihnen die Manner, die 
Sonne, die Briider, die Freunde im Feuer stehen, die 
wissen nichts von Kriegsbegeisterung, die kennen nur 
ein Gefiihl: Hass und Wut. Einer aber, ein junger fanati- 
scher Mensch, den sein Freiheitswille ins anarchistische 
Lager getrieben hat und der dort die Zusammenhange der 
Dinge erfuhr, ladt seinen Revolver, stellt sich unter den 
Haufen, der dem Konige zujubelt, und schiesst. Schiesst, 
obwohl er weiss, dass es ihn das Leben kostet, obwohl 
er weiss, dass seine Tat von denen, die sie ansehen, 
nicht verstanden wird, dass das erste Echo seiner Schiisse 
Abscheu und Rachedurst sein wird. Schiesst, weil sein 
Zorn und seine Leidenschaft sich entladen miissen, komme, 
was kommen mag. Schiesst einmal, zweimal, dreimal auf 
den Konig, der ohne Rechenschaft zum Kriege gerufen 
hat, in des sen Namen Dalbas Landsleute schiessen und 
erschossen werden. Schiesst, bis man ihn packt, ihm die 
Waffe abnimmt, ihn schlagt und in den Kerker wirft, aus 
dem er nicht lebend wieder ans Licht kommen wird. 

Feiger Morder! Fluchwiirdiges Verbrechen! gellt es 
durch die Zeitungen. Feige? Ich bewundere wahrlich 
den Mut des Gesindels, das hinterm sichem Pult die 
selbstmorderische Tat eines Begeisterten feige zu nennen 
wagt. Fluchwiirdig? Ich nehme die Schmockphrase auf, 
saubere das Wort von seiner journalistischen Klebrigkeit 
und wende es gegen die, die es stereotyp und stumpsinnig 
bei jedem Attentat bemiihen. 

Fluchwiirdig ist die Oberflachlichkeit der Zeitungs- 
schmierer, die alles Ernste, LeidenschaftUche, Feierliche 
in ihre alberne Perspektive zerren, um es verkleinern 
und abplatten zu konnen. Fluchwiirdig ist ihre Niichtern- 
heit, die alles Begeisterte an Zweckmassigkeiten wagt. 
Fluchwiirdig ist ihre Verlogenheit, die alles Wahrhafte und 
Aufrichtige mit scheelen Blicken beaugt, die jede ehrliche 
Gesinnung verdachtigt und alles Mutige und Starke ver- 



hohnt und lastert. Dreimal fluchwiirdig aber ist die Sinne 
kalte, die sich iiberlegen diinkt, weil sie nicht versteht, 
was heisse Herzen wollen. 

Die sozialdemokratischen Blatter haben, soweit ich 
sie kontrollieren konnte, in ihrer Beurteilung des Dalba- 
schen Anschlags den gehassigen Ton vermieden. Sie haben 
sich auf die Feststellung beschrankt, dass ihre Partei indi- 
viduahstische Gewaltakte grundsatzlich ablehnt, weil sie 
sich davon keinen Vorteil fiir freiheithche Ziele verspreche. 
Ich kann dies Argument nicht anerkennen. Ich bin iiber- 
zeugt, dass, rein praktisch gewertet, schon manches Atten- 
tat, mancher politische Mord in einem Grade propagan- 
distisch gewirkt hat, dass revolutionare Triebe eines Vol- 
kes dadurch geweckt und freiheithche Erhebungen be- 
schleunigt wurden: ich erinnere nur an Lissabon, wo die 
Verschworung Weniger, die den Konig Carlos beseitigten, 
die Revolution und die Umgestaltung der Staatsordnung 
zur Folge hatten. — Aber ich wehre mien dagegen, dass 
taktische Momente das Verhalten der Menschen iiber- 
haupt bestimmen A sollten. Mord ist Mord. Ich lehne dieses 
Kampfmittel ab, gleichviel wer der Morder, wer das Opfer 
ist. Das hindert mich nicht, im einzelnen Falle mit dem 
zu sympathisieren, der solche furchtbare Tat auf sich 
nimmt, ihn vor aller Welt meinen Genossen zu nennen, 
und selbst mich zu freuen, wenn sein Vorhaben gelingt 
und sein Blut nicht nutzlos der Rache der Feinde anheim- 
fallt. Raten wiirde ich niemals zu einem Gewaltakt — es 
sei derm wahrend einer Revolution — , im Gegenteil: 
vemehmlich und eindringlich wamen wiirde ich jeden, 
der ihn beschlosse. Die geschehene unabanderliche Tat 
aber beurteile ich nicht nach ihrem Erfolg, sondern nach 
dem Antrieb des Taters. Wer aus eigenem Entschluss, 
von unwiderstehlichem Eifer getrieben, unter Aufopferung 
des eigenen Lebens die Waffe gegen den, den er schuldig 
sieht, erhoben hat, der tragt allein die Verantwortung fur 
sein Tun, und es steht den andern, die untatig waren, iibel 



an, ihm nachtraglich Riigen zu erteilen. Ein Kamerad, 
der um seines, um meines Ideals willen stirbt — ich 
entblosse den Kopf. 

Natiirlich konnte man in den Zeitungen auch dieses 
Mai wieder die Forderung nach internationalen Anar- 
chistengesetzen finden, und natiirlich wurde diese For- 
derung am lautesten in deutschen Blattern gestellt Be- 
griindet wird das Verlangen immer wieder mit der kind- 
lichen Einbildung, Anarchisten seien Leute, die in jeder 
Hosentasche eine Bombe und in jeder Westentasche einem 
Revolver tragen und jeden Moment ihres Lebens darauf 
lauern, warm sie diese Werkzeuge in morderische Tatigkeit 
setzen konnen. Seit es bei mir und einigen anderen Anar- 
chisten evident geworden ist, dass wir gewohnlich nicht 
mit solchen Utensilien ausgestattet sind und sogar bis zu 
einem gewissen Grade anstandige Motive haben fur unsere 
Tendenzen, hat man zur Kennzeichnung unserer ethischen 
Verblodung fur uns die Bezeichnung „Edel-Anarchisten" 
erfunden. Den Kafferp gegeniiber, die da glauben, mir 
einen Gefallen zu tun, wenn sie mich mit einer schmocki- 
gen Wendung in Gegensatz zu meinen Genossen setzen, 
mochte ich folgendes bemerken: Ich bin Anarchist ohne 
Einschrankung, d. h. einer, der in der Einrichtung des 
Staats mit alien seinen Zwangs- und Gewaltvollmachten 
das Grundiibel des menschlichen Zusammenlebens erblickt 
Ich fiihle mich als Anarchist solidarisch mit alien, die 
derselben Ueberzeugung leben, und die, je nach Tempera- 
ment und Veranlagung, fur diese Ueberzeugung mit ihrer 
Person eintreten, also auch mit denen, die geglaubt haben, 
mit Dynamit der anarchistischen Sache dienen zu konnen. 
Ich verbitte mir jeden Versuch mich von der Gemeinschaft 
dieser Idealisten abzusondern. Dass ich — aus ahnlichen 
Griinden wie der Anarchist Tolstoj — die aggressive 
Gewalt im Prinzip verwerfe, berechtigt niemanden, meinen 
Charakter als Anarchisten in irgend einer Form anzu- 
zweifeln, umsoweniger als meine Ablehnung der Gewalt 



engstens in meiner anarchistischen Gesinnung begriindet 
ist und von der grossen Mehrheit meiner anarchistischen 
Genossen durchaus gutgeheissen wird. 

Wie soil so ein internationales Anarchisten-Gesetz 
wohl aussehen? Will man jeden, der bestimmte philo- 
sophische und soziale Tendenzen verfolgt, unter einen 
Ausnahmezustand bringen? Oder sollen sich die geplanten 
Rigorositaten auf solche Anarchisten beschranken, die nichlt 
den Frieden bringen sondem das Schwert? Woran aber 
will man die Terroristen von den Pazifisten unterscheiden ? 
— Und wenn jemand aus andern als anarchistischen Mo- 
tiven einen Potentaten umbringt? Kommt er dann mit 
unters Anarchistengesetz? Oder sollen sich die Verfugun- 
gen nur gegen Ansichten richten, nicht aber gegen 
Handlungen? Es scheint ja nicht allgemein bekannt zu 
sein, dass der Terrorismus keineswegs eine anarchisti- 
sche Spezialitat ist. AUe Parteien, am oftesten Konser- 
vative und Klerikale haben das Mittel des politischen 
Mordes zu alien Zeiten und in alien Landern ausgiebig 
anzuwenden gewusst. Die Konservativen und Klerikalen 
unserer Zeit aber haben vergessen, dass das Kampfinittel 
unterdriickter Minderheiten noch alleweil die Gewalt war. 

Wir Anarchisten haben von Ausnahmegesetzen sehr 
wenig zu fiirchten. Es ist ein weitverbreiteter Aberglaube, 
dass man lebensstarken Ideeen mit Polizeichikanen schaden 
konne. Die Sozialdemokratie in Deutschland dankte ihr 
Erstarken wesenthch dem SoziaUstengesetz, ihre Versump- 
fung und Verflachung dagegen ist auf ihre sich iiberall 
vollziehende Einordnung in den Staatsbetrieb zuruckzufuh- 
ren. Deutschland ist das Land, in dem Gesinnung 
achtet. Seit die Sozialdemokraten ihre sozialistische Ge- 
sinnung preisgegeben haben, werden sie als gleichwertige 
Menschen in alien Burger schichten anerkannt Der Anar- 
chist dagegen, der an den Institutionen der Gesellschaft 
eine Kritik ubt, die die Bequemlichkeit des selbstzufrie- 
denen Seins gefahrdet, wird gesellschaftlich und wirt- 



schaftlich an die Wand gedriickt. In Frankreich ist es 
anders. Anatole France verficht anarchistische Grundsatze, 
Octave Mirbeau war Begriinder anarchistisch-agitatorischer 
Zeitschriften; dort lasst man jede Meinung gelten, die 
von ehrlichen Mannern ausgesprochen wird. Und Frank- 
reich kennt den anarchistischen Terror wie kein anderes 
Land. Die Deutschen aber, die seit Reinsdorffs Tod niemals 
durch anarchistische Gewaltsplane erschreckt wurden, zei- 
gen einander den Menschen, der mit der bestehenden 
gesellschaftlichen Ordnung nicht einverstanden ist, wie 
ein feuerfurzendes Fabeltier, und aus lauter Angst vor 
der Vokabel Anarchismus fallt ihnen bei ihrer Erwah- 
nung eine Bombe in die Hose. 

Am seltsamsten beriihrt es, wenn sich selbst Kiinst- 
ler von dieser Vokabelfurcht ergriffen zeigen. Ihnen muss 
gesagt werden, dass alle Kunst notwendig anarchisch ist, 
und dass ein Mensch zuerst Anarchist sein muss, um 
Kiinstler sein zu konnen. Derm alles kiinstlerische Schaf- 
fen entspricht der Sehnsucht nach Befreiung von Zwang 
und ist im Wesen frei von Autoritat und ausserlichem 
Gesetz. Die innere Bindung und Ordnung der Kunst 
aber hangt tief zusammen mit den Beziehungen des ein- 
zelnen freiheitlichen Individuums zum ganzen Organis- 
mus der Gesellschaft. Diese Beziehungen zwischen Mensch 
und Menschheit, die in der Kunst ihren hochsten Ausdruck 
hat und die in der Paragraphenmuhle des Staats zer- 
malmt wurde und verloren ging, wieder herzustellen, das 
ist der Sinn unserer, der Anarchisten, Werbearbeit, und 
diesem Streben, um dessentwillen wir geachtet und ge- 
lastert werden, wird der „Kain" auf seine Art nach wie vor 
seine Krafte widmen. 



Das „Tagebuch aus dem Gefangnis" musste wegen Raum- 
raangel in diesem Hefte fortgelassen werden. 



— 10 — 

Munchener Theater. 
Intriguen. 

Die Sippe, die alle christliche Demut, Nachstenliebe und Gott- 
ergebung in Erbpacht hat, schwimmt gegenwartig in Gnaden und in 
weltlicher Macht. Das hat die frommen Seelen benommen, und was nie 
in ihnen vorging, wird jetzt Ereignis: sie besinnen sich auf ihre 
Liebe zur Kunst. Sie wollen die Munchener Kunst reformieren, — 
beim Theater geht es los. 

Der aussere Anlass zu der ilberraschenden Kulturbeflissenheit 
der Kirchenvogte war sehr gering. Ein Stuck des Herrn Sternheini, 
„Die Kassette" wurde vom Premierenpublikum des Residenztheaters 
unter Spektakel abgelehnt. Ich war nicht dabei, kenne auch das ver- 
hangnisvolle Elaborat nicht und finde es unendlich wenig belangvoll, 
ob diejenigen Recht haben, die es als miserable Sudelei bezeichnen, 
oder die andern, unter denen sich Leute von bewahrtem Urteil be- 
finden, die dem Stuck erhebliche literarische Qualitaten zusprechen. 
Bei der Annahme eines Theaterstuckes, bei der Einstudierung, bei 
den Proben und im Moment, wo der Vorhang aufgeht, hat noch nie 
ein Direktor, ein Regisseur oder ein Darsteller gewusst, ob die Premiere 
einen Kanonenerfolg oder ein flirchterliches Debacle bringen wird. 
Der personliche Geschmack literarisch geschulter und in Theaterdingen 
erfahrener Menschen muss wahlen, und es ist unter anstandigen 
Kritikern bisher nirgends ilblich gewesen, einen Buhnenleiter zu 
schmahen, wenn der Geschmack des Publikums schliesslich anders 
entschied als er. 

Exzellenz Freiherr von Speidel, der Generalintendant des Mun- 
chener Hof- und Nationaltheaters, war, ehe er das schwere Amt eines 
in Kunstdingen Verantwortlichen Iibernahm, General der bayerischen 
Armee. Die Gepflogenheit, Dilettanten an die Spitze kunstlerischer 
Unternehmungen zu stellen, soil hier nicht kritisiert werden. Es 
soil an die Tatsache selbst die Frage gekmipft werden: Was hat ein 
solcher Dilettant als pflichtbewusster Mann zu tun, um die seinem 
Einfluss unterstellte Anstalt auf ernster kunstlerischer Hohe zu 
halten ? — Die Antwort ergibt sich von selbst: Er hat Berater um sich 
zu sammeln, die keine Dilettanten sind, im Fach bewahrte Personlich- 
keiten, denen der Chef Liebe, Hingebung und Verstandnis fur ihre Auf- 
gaben zutraut. 

Als Herr von Speidel die Leitung der Hofbtihne Iibernahm, fand 
er die Oper vortrefflich vor, das Schauspiel aber verstaubt, rlickstandig 
und im Hinblick auf Repertoire und Darstellerpersonal vollig unge- 
nligend ausgerustet. Speidel beliess vieles beim alten, zu vieles, wie 
manchen dilnkt. Aber er erkannte seine Pflicht, in einer Stadt von 



— 11 — 

der kulturellen Vorgeschrittenheit Miinchens den modernen Ansprlichen 
an dramatische Darbietungen Konzessionen zu machen, und engagierte 
neben die Zopftrager Possartscher Observanz fiir Regie und Schau- 
spiel Krafte allererster Ordnung. 

Der Erfolg der Speidelschen Reorganisationstatigkeit ist der, 
dass das Residenztheater — wenn ich mein Urteil auf die Leistungen 
der von Speidel neu herangezogenen Krafte beschranke — unter alien 
deutschen Hofblihnen ktinstlerisch an erster Stelle steht, unter alien 
Miinchener Theatern das beste ist und bei der Einordnung in die 
deutschen Btthnen uberhaupt mit nur wenigen andern in der vorder- 
sten Reihe rangiert. Die iiberaus erfreuliche Erscheinung der unter 
dem derzeitigen Intendanten bewirkten Wandlung des Hoftheaters von 
einer provinzlerischen Dutzendbuhne zu einem wertvollen, kulturforder- 
lichen Institut ist engstens verknlipft mit dem Namen Albert Steinriick. 

Der Name Steinriick darf, seit er in Munchen sein Konnen ent- 
faltete, unbedenklich neben den Namen Bassermann, Sauer, Moissi, 
Wegener, neben denen der allerstarksten Buhnentalente ausgesprochen 
werden. Seinen schauspielerischen Leistungen ebenbilrtig sind seine 
Leistungen als Regisseur. Es ist traurig, in Munchen daran erinnern 
zu miissen, welche glanzenden Taten die Inszenierungen von Shaws 
,.Casar und Cleopatra", von Ibsens „Baumeister Solness", von Adolf 
Pauls (schwachem) Schauspiel „Die Sprache der Vogel" waren. 
Aber es ist notig, mit allem Nachdruck daran zu erinnern, mit lauter 
Stimme immer wieder zu fordern, dass den Fahigkeiten dieses Man- 
nes mehr Aufgaben gestellt werden als bisher. 

Sternheims „Kassette" war von Steinriick inszeniert worden, 
Steinriick hatte die Hauptrolle in dem Stuck, Steinriick hatte, wie nach- 
her bekannt wurde, Herrn von Speidei die Annahme der Arbeit em- 
pfohlen. Das war fur die Schwarzalben ein gefundener Frass, — und 
fur einige noch, die heimlich an derselben Strippe Ziehen. Die 
„Mlinchener Zeitung", die sich vom Tage des Ministerwechsels 
an bestrebt zeigte, ihren Liberalismus dem neuen Regime loyal einzu- 
ordnen, fand bei ihrem Beschnuppern des Theaterskandals, dass es 
bedenklich sei, einem Manne beratende Stimme bei der Auswahl auf- 
zuflihrender Stilcke zu geben, der dabei gern fur sich eine Bomben- 
rolle herausschinden mochte. Also eine aufgelegte Verdachtigung der 
kilnstlerischen Reinlichkeit des Charakters Steinrilcks. Auf einen 
Verteidigungsbrief Steinrilcks, der sich energisch gegen die Unter- 
stellungen des Blattes wehrte, folgte eine Wiederholung der Nieder- 
trachtigkeit. 

Jetzt griff der „Bayerische Kurier" zum Horn und brachte einen 
Artikel voll der giftigsten, gemeinsten, schabigsten Angriffe gegen 
Steinrilcks Tatigkeit weniger als gegen seine Person, und hinter diesen 



— 12 — 

Angriffen voller tiickischer Anrempelungen des Intendanten. Es war 
klar, dass man es in diesen Kreisen, deren klerikal-politischen Inter- 
essen jedes Aufleuchten geistiger Werte gefahrlich scheint, auf den 
Sturz Speidels absieht. Tagtaglich erscheinen jetzt in dem licht- 
scheuen Zeitungswisch neue Perfidieen gegen die verdienstvollen 
Manner des Hoftheaters. Auch das Kausen hat sich der Sache schon 
angenommen, und es scheint, als ob das Kesseltreiben durchaus bis 
zur Vernichtung des Wildes fortgesetzt werden soil. 

Die Behauptung, ein Schauspieler und Regisseur dlirfe keine 
Vorschlage machen, welche Stiicke gespielt werden sollen, ist un- 
glaublich dumm. Natlirlich kann auch er sich in der Prognose fur den 
Publikumserfolg vollig irren, aber jedenfalls wird er seltener vorbei- 
hauen, als ein Dramaturg, der rein literarisch wertet und alle die 
kleinen Imponderabilien, in der technischen Gestaltung des Buhnen- 
werks ubersieht, fur die der, der mit dem ganzen Sein mit der Bilhne 
verwachsen ist, den Instinkt hat. Aber wozu mit Grilnden gegen Leute 
polemisieren, denen es garnicht um die kunsflerische Sache, sondern 
um dunkle politische Plane geht ? 

Herr v. Speidel soil gesturzt werden und Steinrilck droht, ange- 
sichts der verbitternden Machenschaften der klerikalen Horde Mlin- 
chen zu verlassen. — Das darf nicht geschehen 1 

Soil das Hoftheater wieder zur alten Trostlosigkeit versimpeln ? 
Soil die Residenzbtihne wieder zur Domane der Schonthan, Blumen- 
thal, Wichert, Birch-Pfeiffer und Kotzebue werden? Die sich in 
Mlinchen an anstandiges Schauspiel gewohnt haben, die das anstandige 
Schauspiel nicht mehr missen wollen — und das sind nahezu alle, 
die uberhaupt Theaterbesucher sind — sollten den pfaffischen In- 
triguen die Macht ihrer uberlegenen Intelligenz, ihres hoheren Kultur- 
standes entgegenstellen. Es muss denen, die endlich liber die Be- 
setzung des Intendantenpostens zu entscheiden haben, auf das Aller- 
vernehmlichste deutlich gemacht werden, dass Herr v. Speidel sich 
durch sein Bestreben, unter Hinzuziehung ausserordentlich wertvoller 
Hilfskrafte, das Hoftheater auf das Niveau einer erfreulichen kunst- 
lerischen Leistungskraft zu heben, das Vertrauen aller Kunstfreunde 
erworben hat, und dass sein Ausscheiden, das Steinrilcks Abgang 
vom Hoftheat A r sehr leicht nach sich Ziehen kann, als ein Affront gegen 
das ganze geistige Leben in Munchen betrachtet werden wtirde. Ein 
solcher Affornt aber miisste mit dem konsequenten Boykott gegen das 
Hoftheater-Schauspiel beantwortet werden. 

Ueber wesentliche Theaterereignisse an den Biihnen Munchens 
ist wenig zu berichten. Nur an einem, vom „Neuen Verein" veranstal- 
teten Abend mochte ich nicht stillschweigend vorubergehen. (Ich be- 



— 13 — 

halte mir ubrigens vor, ilber die Wirksamkeit des „Neuen Vereins" 
demnachst in einem besonderen Artikel zu referieren.) Man spielte 
im Schauspielhaus „Psyches Erwachen", ein Schauspiel von Wilhelm 
Weigand. Das Stuck ist nicht so betrachtlich, dass ich es einer 
kritischen Wertung an dieser Stelle uberhaupt unterziehen mochte. Ich 
schatze Weigand hoch als Essayisten; Dramatiker ist er durchaus 
nicht, und die Art, wie er das alte Kandaules-Problem zu modernisieren 
versucht, ist banal und ohne klinstlerische Bedeutung. — Aber zur 
Gestaltung der Hauptrolle war ein Gast von Berlin gekommen, dessen 
Name schon das Drama weiht, in dem er wirkt: Lina Lossen. 
Die Kunst dieser Frau ist erschutternd herrlich, und wie sie in Wei- 
gands Stilck der Hedwig Krell Leben gab, echtes warmes Leben, das 
dies konstruierte Geschopf vollig der Theatersphare entriickte, das 
sollte in Mlinchen unvergessen bleiben. Bei Lina Lossen ist jeder 
Laut natiirlich, jede Bewegung wahr und schon, jedes Wort ilber- 
zeugt und uberzeugend. Seit sie vom Hoftheater schied, war sie jetzt 
die erste, die soviel weibliche Schonheit, soviel kilnstlerische Tiefe 
wieder auf eine Munchener Buhne stellte. 

Lina Lossen hat bei den Zeitungskritikern mit ihrer Leistung 
keinen Anklang gefunden. In schoner Uebereinstimmung fand man in 
den „Munchener Neuesten Nachrichten", in der „Munchener Zeitung" 
und in der „Munchener Post" konstatiert, dass die Kunstlerin, seit sie 
von uns ging, an Ausdruckskraft verloren habe. Merkwurdig. Man 
fragt sich immer wieder erstaunt, woran es bloss liegen kann, dass 
eine Leistung, wie wir sie hier in Jahr und Tag nicht erleben, 
gerade an den zur Kritik bestellten Herrschaften so spurlos vortiber- 
gehen kann. Manchmal scheint mir, standig in Milnchen wirkende 
Schauspieler darf oder mag man nicht verreissen — Gott, man 
trifft sich mal personlich irgendwo — , so lasst man eben das 
Temperament an Gasten aus, die gleich wieder abreisen. Das kame 
aber einer Irrefilhrung des Publikums und einer Krankung des Gastes 
gleich, die ihn schwer abschrecken konnte, sich je wieder vor solchen 
Meinungsmachern zu produzieren. Bliebe als Erklarung also nur die 
vollige Urteilsunfahigkeit der Rezensenten ubrig, und damit der Vor- 
wurf, dass sie die Sachverstandigen in Dingen spielen, zu denen ihnen 
jede kritische Fuhlung fehlt. — Oder sollte etwa bei dem emporenden 
Fehlurteil liber die Leistung Lina Lossens personliche Politik im 
Spiele sein, und ich ware berechtigt, den Untertitel dieser Betrach- 
tung auch auf den zweiten Teil meiner Ausfuhrungen zu beziehen ? 



Bemerkungen. 



Karl May. Es tut mir leid, dass Karl May diese Zeilen nicht mehr 
lesen wird. Ich hatte sie auch geschrieben, wenn, er nicht in diesen 



— 14 — 

Tagen gestorben ware. Jetzt bin ich in der iiblen Lage, zu gleicher Zeit 
ilber den Verfasser von „01d Shatterhand" freundliche Worte sagen 
zu miissen, wo sich „angesichts der Majestat des Todes" allerlei 
Schornalisten ebenfalls dazu gedrangt fuhlen, die vorgestern noch 
ganze Fasser voll Jauche iiber den Mann ausgossen. Vor ein paar 
Wochen hatte der „Akademische Verband filr Literatur und Musik" 
in Wien Karl May zu einer Vorlesung eingeladen. Darob grosses 
Entrustungsgeheul bei den patentierten Kulturhlitern Es hatte sich 
namlich in einem Beleidigungsprozess, den May nolens volens gegen 
den gelben Lebius anstrengen musste, herausgestellt, dass der alte 
Mann in seinen Jugendjahren recht abenteuerlichen Ulk getrieben 
hat und dafilr sogar (bedecke deinen Himmel, Zeus!) im Gefangnis 
sitzen musste. Es war klar, dass so ein Kerl ein literarischer 
Charlatan war, dessen Produkte nicht den geringsten Wert haben 
konnten, umsoweniger, als ihm philologisch gerichtete Splirgeister 
nachwiesen, dass er die Gegenden des wilden Westens und des 
dunkeln Afrikas, die er so lebendig zu schildern wusste, niemals 
mit eigenen Augen gesehen hat. Dabei sind alle seine Erzahlungen in 
der Ich-Form abgefasst — ein frivoler Lugner also, ein Hochstapler 
und kalter Schurke. 

Es mogen wohl zwanzig Jahre her sein, seit ich zuletzt im 
„Guten Kameraden" Maysche Erzahlungen las. Ich kann mich also 
nicht mehr erinnern, ob sein Stil zu Einwendungen grossen Anlass 
gab. Ich nehme an, dass er nicht miserabler war als der der 
frommen und patriotischen Geschichten der Schullesebiicher. Aber 
ich will eine Kanaille heissen, wenn ich je leugnen sollte, dass mich, als 
ich Quartaner war, „Winnetou", „Die Sklavenkarawane" und ,,Der 
blaurote Methusalem" verdammt mehr begeistert haben, als alle 
Heldenstudien des Cornelius Nepos zusammengenommen. Wenn es 
wahr ist, dass Karl May als junger Mensch Rauberbanden organisiert 
hat, so beweist das garnichts gegen seine schriftstellerischen Fahig- 
keiten, erklart aber viel von seiner phantastischen Erfindungskunst 
und erweist all sein in den Buchern behauptetes Erleben als inner- 
lich wahr. Sein Abenteurertum — meinetwegen nennts seinen ver- 
brecherischen Instinkt — hat sich eben in spateren Jahren ver- 
geistigt, sein Tatendrang hat sich in Phantasie umgesetzt, und 
wir Jungen hatten den Vorteil froher Erregungen und klihner 
Vorstellungsbilder davon, die unsere bestellten Padagogen mit der 
Durchkauung klassischer Dramen nur unter Schweissverlust wieder 
eliminieren konnten. 

Was mogen sich die Leute wohl unter dichterischem Schaffen 
vorstellen, die May vorwerfen, er sei garnicht in den Landern ge- 
wesen, die er beschrieben hat ? Dass das nicht aus der Lektilre seiner 
Werke hervorgeht, sondern erst durch Nachschnuffelung konstatiert 
werden muss, sollte, meine ich, jedes Gebelfer gegen sein Talent 
zum Schweigen bringen. Als wir „Wilhelm Tell" lasen, wurde uns als 
besonderes Verdienst Schillers gepriesen, dass er nie in der Schweiz 
war und nur aus der Phantasie seine Kulissen-Landschaften schuf. 
Schreibt aber heute jemand eine Unterhaltungsgeschichte, deren 
Helden Sudanesen sind, so hat er vor strengen Richtern zu erweisen, 
dass er wirklich selber im Sudan gelebt hat. Was alles seine An- 
greifer gegen May vorbringen, spricht fur ihn, und es ist schandliche 
Undankbarkeit derer, die ihre besten Jungenstunden seinen Mords- 
geschichten verdanken, dem Manne, der das Pradikat eines Dichters 



— 15 — 

ohne Einschrankung verdient, nachtraglich seine Verdienste zu 
schmalern. 

Ich ftthle mich nicht zum Tugendwachter geschaffen, und wenn 
ich heute vor die Wahl gestellt wlirde, entweder Mays Erzahlungen 
oder die Entrustungsartikel gegen Karl May zu lesen, bei Gott! zu den 
Zeitungsblattern griffe ich nicht. 

Die Pleite im Ruhrrevier. So jammervoll klaglich, wie es jetzt 
gekommen ist, haben sich die argsten Pessimisten den Ausgang der 
Beigarbeiter-Aktion im Ruhrgebiet nicht vorgestellt. Nachdem die 
Bergwerksbesitzer die angehauften Kohlenvorrate vom Vorjahr mit 
erheblicher Preiserhohung und unter Ersparung der Arbeitslohne ab- 
gesetzt hatten, nahmen die zweihunderttausend Streiker die Arbeit 
unter den alten Bedingungen wieder auf, grenzenlos geschwacht an 
Kampfmitteln und Kampflust. Ich habe hier vor einem Monat die 
Hoffnung ausgesprochen, diesmal werde Zielklarheit, Entschlossenheit 
und rlicksichtsloser Wille am Werk sein — ich gebe zu, dass ich mich 
mit dieser Erwartung schwer blamiert habe. Nach dieser Pleite der 
deutschen Gewerkschafts-Unternehmungen kann man getrost zugeben, 
dass unsere Arbeiter schon am richtigsten handeln, wenn sie alle 
soizalistischen Allilren unterlassen und sich mit Haut und Haaren 
den parlamentarischen Mehrheitsbeschllissen verschreiben. 

Mit 50 000 christlichen Streikbrechern im Rlicken — so hiess es — 
kann ein Ausstand nicht zu Ende gefiihrt werden. Pardon: Dass 
die Christlichen nicht mittun wiirden, hatten sie von vornherein an- 
gekiindigt. War man der Meinung, ein Streik sei bei Beteiligung von 
nur 7 5 % der Arbeiter nicht zu gewinnen, so hatte man ihn nicht erst 
proklamieren dilrfen. Aber, was die Herren Praktiker nicht einsehen 
und in all ihrer Praxis nicht lernen wollen: das bischen .Streikarbeit, 
das die in Pfaffenhanden murksenden „Christlichen" verrichten, spielt 
gar keine Rolle gegenuber der Streikarbeit, die in den vom Streik 
nicht betroffenen deutschen Gruben geleistet wird von Arbeitern, die 
der gleichen Zentralleitung unterstehen wie die Ausstandigen. Man 
wlinscht, um die Gewerkschaftskassen zu schonen, in Deutschland 
keine Solidaritats- und Sympathiestreike und lasst lieber die Absicht 
einer Streikaktion, durch Aushungerung des Marktes Forderungen zu 
erzwingen, illusorisch werden, als dass man sich zur Inszenierung 
durchgreifender Massnahmen entschlosse. — Herr Sachse hat die Be- 
hauptung konservativer und ultramontaner Reichstagskollegen, es 
handle sich im Ruhrrevier um einen Sympathiestreik filr die englischen 
Grubenarbeiter, emport zuriickgewiesen. Er war tief beleidigt, dass 
man deutschen Arbeitern so etwas wie eine Sympathiehandlung 
fur auslandische Kameraden zutraute, — und so hat ihr eigener 
Zentralleiter den Arbeitern auch noch die sittliche Gloriole ihrer 
Niederlage genommen und ihnen die Moglichkeit abgeschnitten, 
ihr kurzes Auftrotzen als Freundschaftsdemonstration fur die Englander 
zu deuten. Auf dem nachsten internationalen Gewerkschaftskongress 
werden die Herren Sachse und Hue den englischen Streikfuhrern gute 
Lehren erteilen, wie man Ausstande schnell zu Ende fiihrt. Sie haben 
ein neues Meisterstuck in dieser Branche geliefert. 

Mottl und die „Munchener Post"- Im Augustheft des „Kain" 
habe ich im Anschluss an Vorgange, die mit dem Tode Felix Mottls 



— 16 — 

in Verbindung standen, schwere Vorwurfe gegen die „Munchener 
Post" erhoben. Ich sehe mich aus Grunden publizistischer Reinlichkeit 
veranlasst, (unaufgefordert; folgendes zu erklaren: 

Von einer Personlichkeit, deren Ehrlichkeit ich vertraue, und 
die orientiert sein muss, ist mir glaubhaft mitgeteilt worden, dass 
der Artikel der „Munchener Post", der sich mit Mottls Aufgebots- 
Anzeige befasste, ohne Kenntnis der privaten Personalien des Dirigen- 
ten geschrieben wurde, und dass ein blosser Zufall das, was darin 
prinzipiell behandelt wurde, als personliche Anrempelung erscheinen 
liess. Ich nehme also das, was in meiner Bemerkung „Mottl, ein 
Opfer der Milnchener Post" gesagt ist, soweit zurtick, wie es 
sich auf den besonderen Fall Mottl bezieht. 

Die Schlusssatze der Notiz halte ich im vollen Umfange auf- 
recht. Ich habe nach wie vor keine Ursache, ein Blatt mit Samt- 
handschuhen anzufassen, das mich seinen Lesern hintereinander als 
Agenten der liberalen Partei, als Lockspitzel, als Irrsinnigen und 
als Paderasten denunziert hat, das trotz der blindigsten Widerlegung 
aller dieser Verleumdungen niemals ein Wort davon revoziert hat, 
und das, im Vertrauen darauf, dass ich als Anarchist keine blirger- 
lichen Richter bemuhen werde, um andere als biirgerlich-geschaftliche 
Ansprilche zu ertrotzen, meinem Anwalt gegeniiber erklaren liess, 
§ 11-Berichtigungen des Herrn Mlihsam fanden in der „Milnchener 
Post" keine Aufnahme. Solche Erfahrungen, die ja nicht ich allein 
gemacht habe, werden es auch verstandlich scheinen lassen, dass 
mir bei jener Mottl-Notiz gar kein Zweifel aufstieg, dass auch hier 
personliche Gehassigkeit und Sensationsmacherei im Spiele sei. Sollte 
die „Munchener Post" einmal beginnen, in manierlicher Form mit 
Menschen zu diskutieren, die anders denken als ihre Abonnenten, 
so wird man auch ihr respektvoll gegenubertreten und sich nicht langer 
befugt halten, hinter jeder Bosheit gegen eine Behorde eine Gemein- 
heit gegen eine Privatperson zu vermuten. 



Die Tugend hat gesiegt. Die Milnchener Polizei hat nun endlich 
doch das Verdienst auf sich geladen, das Land Bayern endgiiltig 
von der Gegenwart der Nackttanzerin Via-Villany gesaubert zu haben. 
Das Gericht hatte die Dame von der Anklage, sich gegen den 
Strafgesetzbuch-Paragraphen, der den Exhibitionismus bedroht, ver- 
gangen zu haben, freigesprochen. Wo der Weg der Justiz nicht genligt, 
um auf den Berg der Gerechtigkeit zu gelangen, hat man Stufen 
gemeisselt: die nennt man den Verordnungsweg. Diese Stufen fuhren 
zwar nicht geradeaus in die Hohe, sondern winden sich hinten herum, 
und auf dem Verordnungswege fand man die gewiinschte Methode, 
die Nackttanzerin reglementmassig kaltzustellen. Man erkannte in 
ihr plotzlich eine lastige Auslanderin und verwies sie des schonen 
Bayerlandes. Nicht weil sie nackt getanzt hat, war Frl. Villany 
lastig — keineswegs. Nur weil sie sich iiber ihre Nationalitat nicht 
ausweisen konnte. Sie behauptete, Franzosin zu sein, aber in der 
Weinstrasse glaubte man es ihr nicht, und weil die Streitenden 
nicht zu einer Einigung kommen konnten, und man die Polizei, 
so lastig sie sich immer mache, nicht hinausschmeissen kann, 
musste die Tanzerin der Behorde glauben, dass sie keine Franzosin 
sei und deshalb nicht in Bayern wohnen diirfe. Wer sich nicht 
ausweisen kann, wird ausgewiesen. Meine Damen, merken Sie sich 
das, — oder bleiben Sie bekleidet! 

Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Munchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Munchen. Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Munchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



KAIN, Heft 11. Inhalt: Fasching. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Georg Heym. — Vom 
politischen Kasperltheater. -- Abel. — Miinchen-Schilda. 

KAIN, Heft 12. In halt: Die Bergarbeiter. — Tagebuch aus 
dem Gefangnis. — „M. N. N." — Die Stimmrechts-Amazonen. 
— Die Geheimnisse von Czenstochau. — Ein Opfer seines 
Berufs. — Bittingers Fehltritt. 



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Dft KtdtCt* ecdKfitc. 1909. m. 2.- 
OlC !?0Cjt)Jt3.plCr* lunrpiei. i9o«. m.2 - 

Zu lirzif hni tiurrt) ictlr Burt) I) a milium unrt den 
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„KAIN", Jahrgang 1912. (Kain-Verlag Munchen, Baader- 
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. Zahlbar 
bei Empfang der ersten Nummer. 

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Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



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*) Nichtgewiinschtes bitte zu durchstreichen. 



Jahrgangll No. 2. Mai 1912. 

KMN 

Zeif/chrffffur 

MenAhlichRrf 
HemuJgeber; 

(rich Huh/am 




Inhalt: Politisches Varlete. — Aus dem „Krater". — Tagebuch 
ans dem Gefangnis. — Bemerkung-en. — Der riihrige Zensor. 
— „Titanic". — Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. 



Kain-Verlag Munchen. 

30 Pfg. 



Kain-Kalender 

fiir das Jahr 1912 

Herausgeber: ERICH MUHSAM 

Samtl. Beitrage sind vom Herausgeber :: Preis 1 Mark 

Zu beziehen durch jede Buchhandlung und den 
KAIN-VERLAG, MUNCHEN, Baaderstrasse 1 a. 



Kulturgemeinschaft Freie Generation. 

Soeben erschienen: 

<«#* .Tahrbuch der Freien *#* 
= Generation fiir 1912 ^^ 

Dokumente der Weltanschauung des Anaichismus — 

Sozialismus. 

Aus dem reichhaltigen Inhalt des 128 Seiten umfassen- 
den, illustrierten Bandes heben wir hervor: 

Peter Krapotkin: Ueber Leo Tolstoi. — Lulpi: Die Giundlagen des freien 
Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammem des Staates- — 
Aufruf der Intemat Antimilitarischen Assoziation: An die Rekruten Frank- 
reichs I Frit? Brupbaoher: Die Aufgaben des Anarchismus im demokratischen 
Staate. — Otto Karmin: Sylvain Marechal und die Verse hworung der 
Gleichen. — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses 
zwisc h en J deal und Wirklichkeit — Andreas Klelnleln: Der Syndikalismus 
in Deutschland. — Domete F. Niguwenhu'»- Aus dem Lehen eines revo- 
oo lutlonaren Kampfers eta, etc. oo 

Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1. — , bei Bezug von 3 Exerapl. fiir 

insges. Mk. 2.25. 

Samtliche Geldsendungen richte man an : 

Rudolf Grossmann, Klostemeuburg (bei Wien) 

Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich. 



Jahrgang II. Munchen, 

No. 2. Mai 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

■ iiirriii'i.n-.i.n.f, imii.i i„i„i,ii„i.i„i,,i„i i.,i„i„ii,i„i.,i„i„i„i.,i,ii i.i.i.i i ii i„i ,i„i. ■, i,i .iil.thi .i.i.m 

„KAIN" erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt 

filr das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Munchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind warn Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

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Politisches Variete. 

Politik ist die Kunst, Staatsgeschafte zu besorgen. 
Kunst nicht im Sinne der werteschaffenden Kultur, son- 
dern im Sinne der Artistik: derm in der Politik handelt es 
sich um Jonglieren, Balanzieren, Seiltanzen, Spriinge- 
machen. Politik also ist das Kunststiick, Staatsgeschafte 
zu besorgen. 

Die Berufsartisten dieser Spezies der Leichtathletik 
nennt man Diplomaten. Ihre Fertigkeit ist Begriffsver- 
renkung, Rechtsverdrehung, Verschwindenlassen offenkun- 
diger Tatsachen und Herbeizaubern von Irrealitaten. Wer 
es im Durcheinanderwerfen scheinlogischer Seifenblasen 
zu besonderer Geschicklichkeit gebracht hat, wird von 
den Staatsbiirgern als Staatsmann hoch gepriesen und er- 
halt von seiner Direktion edelsteingeschmiickte Orden. 

Die Stars der Diplomatic scheinen seit geraumer 
Zeit ausgestorben zu sein. Die das Handwerk heutzutage 
betreiben, beweisen in ihren Vorfuhrungen soviel Unge- 
schick, dass das zahlende Publikum ihnen nachgerade hin- 
ter die Schliche kommt. Man fangt an, die Hexerei zu 
bezweifeln, da den Hexenmeistern die Geschwindigkeit 



— 18 — 

abhanden gekommen ist. Dilettanten drangen sich an den 
Zauberkasten, den Zuschauern gefallt die Gaukelei nicht 
mehr, sie wollen mitspielen und zeigen, wie man die Sache 
besser machen kann. Der geheimnisvolle Staatskarren hat 
die Gardinen zu weit zuriickgeschoben. Die Zauberuten- 
silien sind erkannt worden. Hinz und Kunz wollen selber 
zu jonglieren versuchen. Man musste den Wagen rot 
lackieren und aufs Firmenschild „Demokratie" malen. 

Hinz und Kunz haben ihren Willen erreicht. Die 
Staatskunst ist auf die Dorfer gegangen. Die Markte und 
Flecken wahlen ihre Faxenmacher selbst und sehen be- 
friedigt zu, wie die Auserwahlten ihre teueren Porzellan- 
teller auf der Nase balanzieren, fallen lassen und entzwei- 
schmeissen. Hinter der Biihne ist man bemiiht, die Scher- 
ben zu kitten, damit das Variete weiter spielen kann. 

Fin wenig Kritik hat das p. t. zahlende Publikum all- 
mahlich gelernt. Darauf ist es aber noch nicht gekommen, 
dass die Teller und Glaskugeln, mit denen im pohtischen 
Bumstheater gearbeitet wird, seine Rechte und Interessen 
sind, dass der Gaul, auf dem die Diplomatic hohe Schule 
reitet, sein Buckel, und das Seil, auf dem Politik getanzt 
wird, sein Lebensnerv ist. Es schaut gemachlich zu, wie die 
Staatsartisten der verschiedenen Lander um seine Knochen 
wiirfeln und findet gar nichts dabei, dass zur Austragung 
ihrer Katzbalgereien sein Blut gezapft wird. 

Der politische Hokuspokus ist ein verdammt gefahr- 
liches Handwerk, nicht fur die, die es treiben, sondern fur 
die, mit denen es getrieben wird: und das Objekt der 
Politik sind die Volker, sind die Nationen im Rahrnen der 
von den Diplomaten gezogenen Landesgrenzen. Alle poli- 
tische Aktion gilt der Uebertolpelung, Ueberschreiung, 
Uebervorteilung des nationalen Konkurrenz-Varietes. 

Treten Sie ein, meine Herrschaften! Hier ist zu sehen 
der zweiundvierzig Jahre alte Wundervogel Deutschland! 
Das Fabelhafteste in seiner Art 1 Reicht mit ausgespannten 
Fittichen von der Maass bis an die Memel, und vom Kopf 
zu den Krallen von der Etsch bis an den Belt! Noch nicht 



— 19 — 

dagewesen! Schlagt jede Konkurrenz! Balanziert in einer 
Klaue das starkste aller stehenden Heere, mit Reservisten 
und Landwehr vier Millionen Mann! Dazu eine Riesen- 
Schlachtflotte: Panzer, Kreuzer, Torpedos und alles Zube- 
hor! Kolossal! — In der andern Ihre Steuern, meine Ver- 
ehrten! Ihre Abgaben an Nahrungs- und Genussmitteln, an 
Beleuchtung, Heizung, Kleidung, Vergnugung und einen 
kolossalen Bruchteil aller Ihrer Einnahmen! Schwingt 
gleichzeitig im Schnabel eine noch nie gesehene enorme 
neue Wehrvorlage nebst eben erfundener Steuerdeckung! 
Kommen Sie naher, meine Herrschaften! Einzig dastehend ! 
Kinder und Militar ohne Charge zahlen die Halfte! 
Und nebenan: 

Kikeriki! Entrez 'sieurs-dames! Hier ist zu sehen 
der beriihmte, konkurrenzlose, wunderbare gallische Hahn! 
Der, wo die Franzosen das Fliegen gelehrt hat! Er verfugt 
iiber die starkste Luftflotte der Welt! Er beherrscht die 
ruhmreiche, unbesiegbare gewaltige grrrrande armee! Er 
wird fliegen vor Ihren Augen a BerUn! Er wird anfuhren 
la grrrande Nation und wird zerstoren von oben herunter 
mit Bomben und Granaten die Konkurrenz prussienne! 
Vive la republique francaise! Entrez 'sieurs-dames! Ki- 
keriki! 

Das p. t. Publikum ostlich und westhch der Vogesen 
spent Mauler und Ohren auf, schreit bravo! und zahlt. 
Zahlt, dass ihm das Blut aus den Poren schwitzt, zahlt, 
dass es iiber dem Geldklimpem nicht hort, wie sich hinter 
den Kulissen der pohtischen Varietes ostlich und westlich 
der Vogesen die Artisten unter einander priigeln. 

In jeder Bude haben sich Parteien gebildet. Die wis- 
sen schon kaum mehr, dass sie das Dach des Nachbars 
in Brand stecken wollen, die mochten nur noch, jeder 
dem andern, die Kosten aufladen. Und die Harlekine 
und Clowns, die Akrobaten und Salonhumoristen iiber- 
briillen einander und schreien ins Publikum hinein: Wahlt! 
Ich bin der wahre Jakob! Wer rrrich wahlt, soil garnichts 
zahlen! Ich will nicht dich besteuem, lieber Wahler, son- 



— 20 — 

dem deinen Freund, deinen Nachsten, deinen Gutsherrn, 
deinen Taglohner, deine Waschfrau, deinen Gastwirt, aber 
beileibe nicht dich! Und der Wahler horts, ist ergriffen 
von der Weisheit seines Kandidaten und macht von seinem 
Rechte Gebrauch — ostlich der Vogesen und westlich. 

Mochtet ihr nicht die politischen Gauklerbuden abbre- 
chen, liebe Mitmenschen? Mochtet ihr nicht einsehen, dass 
euer Land da ist, wo ihr lebt und gedeiht, und nicht da, 
wo Bismarck Grenzlatten gebaut hat? Mochtet ihr nicht 
versuchen, fur den Ertrag eurer Arbeit zu leben, statt da- 
mit Armeen zu futtern ? Mochtet ihr nicht Verstandigung 
anstreben zwischen euch und friedliche Gemeinschaft, statt 
fur Kampf und Krieg Marktschreier zu dingen? Mochtet 
ihr nicht, liebe Mitmenschen, westlich und ostlich der Vo- 
gesen, diesseits und jenseits der Meere, euch gegenseitig 
anschauen und euch fragen, ob ihr dazu Menschen seid, 
urn allezeit als Statisten in einem Affentheater zu wir- 
ken? Mochtet ihr nicht, jeder bei sich selbst, einmal Um- 
schau halten, ob denn im eigenen Lande alles im Rech- 
ten ist, statt euch gegenseitig anzufletschen und Boses 
zu tun? 

Weit, weit im asiatischen Osten haben sich, fast unbe- 
merkt im Getose des politischen Variete-Krakehls seltsame 
Wandlungen vollzogen. Ueber Nacht, mochte man sagen, 
hat die machtige Mandschu-Dynastie aufgehort zu sein. 
Fin Riesenvolk hat Ordnung geschafft im eigenen Lande. 
Die Aufteilung Chinas, die unsere Lehrer uns mit propheti- 
schem Blick vorausgesagt haben, vollzieht sich: nur anders, 
als unsere Lehrer sie sich vorstellten. China wird aufge- 
teilt unter den Chinesen. — Aber das ist weit, weit von hier, 
im asiatischen Osten. Wir werden ins Kino-Variete gehen 
und uns den Film aufrollen lassen. 



— 21 — 

Aus dem „Krater". 

Der im Jahre 1909 im Berliner Morgen-Verlage erschienene 
Gedichtband „Der Krater", von Erich Miihsam, ist in den Kain- 
Verlag ubergegangen. Da der Verfasser dieses Buch fur sein bis jetzt 
wertvollstes halt, wird er im Ausnahmefalle einmal von der Ge- 
pflogenheit absehen dtirfen, im „Kain" nur Ungedrucktes zu ver- 
offentlichen. Die folgenden Gedichte sind samtlich im „Krater" 
enthalten. 

Aus dem I. Teil: „Lyrik". 

Die Kirchenuhr schldgt Mitternacht. 

Da unten schdumt der Fluss und keucht. 

Die Eisenbriicke dchzt und kracht, 

und meine Stirn ist kalt und feucht. 

Und meine Finger stehn gespreizt, 
es zittert im Gelenk das Knie, 
und hinter meinen Augen heizt 
der Mondschein brandige Phantasie. 

Was will das lusterne Gestirn? — — 
Ein Baum greift aus. Ein Vogel krachzt. 
Ein Peitschenschlag durchreisst mein Him . . . 
Es keucht der Eluss. — Die Briicke dchzt. 



Ein kleines gelbes Haus, plump iiberdeckt 
von einem flachen Dach aus schwarzem Schiefert 
in dem ein klobig roter Schornstein steckt. 
Unformig klimmt aus dieses Schornsteins Bauch 
ein dumpfer Lichtschein, eingepackt in Rauch, 
der in der Luft verkriecht wie Ungeziefer. — 
Ein Vogel macht sich aus dem Lichtschein los, 
wachst rot zum Himmel, wachst — wird weltengross, 
durchzuckt die Nacht in grausiger Geberde — 
und blutet schwere, rote Angst zur Erde. 



22 



Nun, armes Herz, nun half es aus, 

was tilckisch ein Geschick verhangt. 

Nicht jeder wohnt in einem Haus, 

wo Freude sich auf Freude drdngt. 

Und wer da wandert, Fuss vor Fuss 
den wehen Weg durch Leid und Pein, 
der schreibe lachend einen Gruss 
dem Nachsten auf den Meilenstein. 

Und geht er dann ein andres Mai 
den Weg des Leids — er wird ihn gehnl 
dann bleibt er wohl in seiner 2ual 
an jenem Meilensteine stehn. 

Er liest den Gruss, den er dereinst 
fur einen fremden Nachsten schrieb, 
und denkt sich: Herze, wenn du weinst, 
nimm mit dem eignen Trost fiirlieb. 



Hinter den Hdusern heult ein Hund. 
Denn die Schatten der Nacht sind bleich und lang; 
und des Meeres Herz ist vom Weinen wund; — 
und der Mond wiihlt lilstern im Tang. 

Durch Morgennebel streicht hastig ein Boot, 
die Segel schwarz, wie vom Tod gekusst. 
Die Flut faucht salzig ndher und droht . 
Dang knarrt der Seele morsches Geriist. 



— 23 — 
Ale dem II. (satirischen) Teil. 

Friihlingserwachen. 

Wieder hat sich die Natur verjiingt, 
wieder sich mit frischem Stoff gediingt, 
und dem Moder wie den jungen Keimen 
hat die Kunst zu malen und zu reimen. 
Die Gebeine harren der Bestattung, 
wdhrenddem die Friichte der Begattung 
frohlich ins Bereich des Lebens ziehn, — 
insoferne sie soweit gediehn. 

Viech- und Menschern heben sich die Busen; 
in den Bdumen quillt's und den Gemiisen. 

Tief im Kern der Fr de hats gekracht: 

Ja, der Friih-, der Friihling ist erwacht. 



Der tote Kater. 

Warum schleicht der Bube Peter 
mit gesenktem Kopf herum ? 

Warum feixt er? Warum geht er 
nicht in das Gymnasium ? 

Was geschah mit ihm? Was tat er ? 
Seht, von einer Wdscheleine 
schlenkert ein gewesener Kater, 
senkrecht ausgestreckt die Beine. — 
Schlenkert schon seit sieben Tagen; 
Peters Blicke aber schleichen, 
wo die Tat sich zugetragen, 
wo es stinkt nach alten Leichen . . . 

Was der Bube sich wohl dachte, 
als er dieses scheu vollbrachte? — 

Wollt er nur die Luft verstankern? 

Oder freut er sich am Schlenkern? 



— 24 — 

Der Revoluzzer. 

Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet. 

War einmal ein Revoluzzer, 
im Zivilstand Lampenputzer; 

ging im Revoluzzerschritt 
mit den Revoluzzern mit. 

Und er schrie: „Ich revoluzze!" 

Und die Revoluzzermiitze 
schob er auf das linke Ohr, 

kam sich hochst gefahrlich vor. 

Doch die Revoluzzer schritten 
mitten in der Strassen Mitten, 
wo er sonsten unverdrutzt 
alle Gaslaternen putzt. 

Sie vom Boden zu entfernen, 
rupfte man die Gaslaternen 
aus dem Strassenpflaster aus, 
zwecks des Barrikadenbaus. 

Aber unser Revoluzzer 

schrie: „Ich bin der Lampenputzer 

dieses guten Leuchtelichts. 

Bitte, bitte, tut ihm nichts! 

Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen, 
kann kein Burger nichts mehr sehen, 
Lasst die Lampen stehn, ich bittl 
Denn sonst spiel' ich nicht mehr mit!" 

Doch die Revoluzzer lachten, 
und die Gaslaternen krachten, 
und der Lampenputzer schlich 
fort und weinte bitterlich. 

Dann ist er zuhaus geblieben 
und hat dort ein Buch geschrieben: 
ndmlich, wie man revoluzzt 
und dabei doch Lampen putzt. 



— 25 — 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Ich schrieb also an Caro und Landauer, und wahrenddem kam 
der Aufseher mit zwei Zigarren. Ich liess mir gleich von ihm Feuer 
geben und sog nun den warmen Qualm mit einer Gier in meinen, 
Schlund, als ob ein liebendes Madchen seinen Herzensschatz nach 
jahrelanger Trennung wiederfande und abktisste. Diese erste Zigarre, 
bei der ich meine Briefe zu Ende schrieb, war ein wahrhafter Genuss, 
den ich mir noch damit erhohte, dass ich gelegentlich aufsprang und 
die paar Schritte, die die Zelle dazu Raum liess, paffend auf- und 
abspazierte. Ganz gliicklich stimmte mich auch die Aussicht, dass 
ich zum Abendbrot endlich etwas Kompaktes in den Leib bekom- 
men sollte. Denn, wenn ich zusammenrechnete, was ich seit meiner 
Verhaftung an Nahrung zu mir genommen hatte, so ergab sich 
diese Zusammenstellung: Freitag abend: Milchreissuppe; Sonnabend 
friih: Weisser Kaffee; Sonnabend mittag: Graupensuppe; Sonnabend 
abend: Kartoffelsuppe; Sonntag friih: Weisser Kaffee; Sonntag mit- 
tag: Graupensuppe mit Fleischfasern. Dazu immer das feuchte 
Brot, das schmeckte, als hatte man aufgeweichtes Papier mit Kar- 
toffelmehl verknetet. Abgesehen davon, dass solche Kost einem 
auch nur kiimmerlich verwohnten Gaumen sehr bald recht unsym- 
pathisch wird, bewirkte sie bei mir auch eine iibertriebene Frequen- 
tierung des „Leibstuhls", was wiederum auf die Atmosphare in 
meiner Zelle keineswegs erfrischend einwirkte. 

Nachdem meine Lampe angeziindet war, setzte ich daran die 
zweite Zigarre in Brand. Sie genoss ich mit etwas ruhigerem, abge- 
klarterem Vergniigen. Ich liess ihren Dampf langsam von der 
Zunge gleiten und trieb ihn dann ruckweise durch runde Lippen aus 
dem Mund, sodass der blaue Rauch in Ringen und Blasen, in 
Tiiten und allerlei zierlichen Arabesken vor meinen Augen umher- 
floss. Diese Art zu rauchen ist nach alter Erfahrung das beste 
Aphrodisiacum filr meine Muse. So geriet ich auch jetzt in die 
Stimmung, meine Gefangenschaft von einer lyrischen Seite her zu 
betrachten, und diese Stimmung setzte sich in folgende Verse um: 

Auf dem Meere tanzt die Welle 

nach der Freiheit Windmusik. 

Raum zum Tanz hat meine Zelle 

sechzehn Meter im Kubik. 

Aus den blauen Himmeln zittert 

Sehnsucht, die die Herzen stillt. 

Meine Luke ist vergittert 

und ihr dickes Glas gerillt. 

Liebe tupft mit weichen leisen 

Fingern an ein Bett ihr Mai. 



— 26 — 

Meine Pforte ist aus Eisen, 

meine Pritsche hart und schmal. 

Tausend Ratsel, tausend Fragen 

machen manchen Menschen dumm. 

Ich hab eine nur zu tragen: 

Warum sitz ich hier ? Warum ? 

Hinterm Auge wohnt die Trane 

und sie weint zu ihrer Zeit. 

Eingesperrt sind meine Plane 

namens der Gerechtigkeit. 

Wie ein Flaggstock sind Entwiirfe, 

den ein Wind vom Dache warf. 

Denn man meint oft, dass man diirfe, 

was man schliesslich doch nicht darf. 
Bevor ich weiter berichte, will ich mir eine Aufregung von der 
Seele zu schreiben suchen, die mir im Augenblick mehr gilt als 
korrekte Buchftihrung. Eben war Caro hier. Dieser Besuch, der 
eine haufige erfreuliche Abwechslung ist in der Eintonigkeit meiner 
Tage, bringt mich aus der Zelle hinaus und ins Bilro, wo ich stets 
den Inspektor antreffe. Ich bitte schon, seit ich hier bin, um die 
Auslieferung meines kleinen Notizbuches mit den Versen, die seit 
dem Erscheinen den „Kraters" entstanden sind. Gestern wollte 
mir der Inspektor das Buch endlich schicken, ich erhielt aber statt 
dessen nur meine Brieftasche. Nun benutzte ich eben die Gelegen, 
heit, ihn auf den vermeintlichen Irrtum aufmerksam zu machen, und 
da stellt sich heraus, dass das Notizbuch uberhaupt nicht unter 
den Sachen ist, die die Polizei notiert und mitgegeben hat. Ich 
bin vollig verzweifelt. Niemals habe ich das Buch aus der Hand 
gelegt, nie es aus der Tasche gelassen. Dass es zuhause in der 
.... Strasse geblieben sein sollte, halte ich fur ganz undenkbar, 
auch glaube ich mich bestimmt zu erinnern, dass ich es im Polizei, 
bilro in Charlottenburg mit aus der Tasche gekramt habe. Von der 
Berliner Polizei erhielt ich es nach der Haussuchung zurttck. Das 
weiss ich ganz sicher. Denn als ich auf dem Zettel, der bei 
den zuriickgelieferten Papieren lag, las: 11 Schriftstiicke, ein leeres 
Kuvert und ein Notizbuch, da war das erste, dass ich mich orien- 
tierte, welches Notizbuch sie behalten hatten, und ich war seelen- 
froh, als ich konstatierte, dass mein kleines Versbiichelchen da war 
und nur das dicke Buch mit den aktuellen Gedichten, den Adressen 
und den ublichen Gelegenheitsnotizen fehlte, obwohl auch darin 
mancherlei steht, was ich nur sehr ungern vermisse. Und nun soil 
das kleine Wachstuchbuch verloren sein! Der lyrische Ertrag eines 
ganzen Jahres! Mit so vielen kleinen, feinen, zarten Versen an F., 
von denen ich keine Abschrift habe. Wie nervos wurde ich schon, 
wenn irgend ein naher Bekannter aus irgendeiner Veranlassung das 



— 27 — 

Buch eine Viertelminute lang in der Hand hielt! Und nun fahren 
mir rohe Polizeifauste in die Taschen und es soil weg sein! Ware 
doch alles andere zum Satan gegangen, was ich bei rnir hatte! Das 
Geld meinetwegen. Die 171 Mark ware immer noch zu ersetzen 
gewesen, diese Verse sind es niemals. Wer bin ich denn, dass man 
so mit meinem geistigen, meinem seelischen Gut verfahren darf ?! 
Aber die Polizei ist eine Institution, die das Privileg hat — — ') 
Ich habe Caro gebeten, sofort alles zu tun, um das Notizbuch zu 
retten, fur alle Falle bei der Wirtin suchen zu lassen und vor allem die 
Charlottenburger Polizei anzufragen. Natilrlich wird alles ohne Er- 
folg sein. Ich mttsste nicht der alte Pechvogel sein, der ich bin, um 
das, was einmal verloren ist, wiederzubekommen. Ich werde mich vor- 
erst bemuhen, die Angst, den Schmerz, den Chok zu unterdrlicken, 
der mich schwerer trifft, als die Verhaftung mit alien ihren Ein- 
zelheiten, schwerer fast, als mich der Tod eines lieben Menschen 
treffen konnte. s ) 

Nachdem ich also an jenem ersten Sonntag das Gedicht 
gemacht hatte, wurde es Zeit zum Abendessen. Ich horte, wie den 
Nachbarn ihre Suppe gebracht wurde, und nicht lange darauf kam 
Giesmann mit meinem Schnitzel und dem Bier. Ich bin jetzt nicht 
in der Verfassung, den Genuss, den mir dieses Abendbrot bereitete 
— es lag auch ein richtiges frisches Berliner Brotchen bei — in der 
behaglichen Breite nachzuerzahlen, wie ich das bei den Zigarren tat. 
Ich stelle nur fest, dass ich das Schnitzel mit ehrlichem Vergntigen 
ass, das Bier dazu in langen, geniesserischen Zligen aus der Flasche 
trank und nur bedauerte, so bald mit den Herrlichkeiten fertig zu 
sein und dann gleich ins Bett zu mttssen, da ich vorher sehr gern 
noch ein bischen frische Luft und Bewegung gehabt hatte. Es 
half mir nichts. Es klingelte, und die harte Pritsche musste aufge- 
schlagen werden. Der Schlaf liess auch diese Nacht viel zu wiinschen 
iibrig, wie ich denn, seit ich hier bin, noch keine einzige Nacht so ge- 
schlafen habe, wie ich es dringend notig hatte. 

Am nachsten Morgen musste ich schon aus dem Bett, als es 
noch ganz dunkel war, und die Geschaftigkeit in alien Zellen und 
an alien Latrinen begann schon zur Wochentagszeit, d. h. gleich nach 
6 Uhr. Natlirlich war ich zur Aufstehenszeit am miidesten, denn, 
mag man mich immerhin zwingen, mich um 7 Uhr nachmittags hin- 
zulegen, das Einschlafen bin ich nun mal erst zwischen 2 und 5 Uhr 
nachts gewohnt, und diese Gewohnheit lege ich anscheinend sehr 



)Den Nachsatz mochte ich mit Rilcksicht auf die hohe Staats- 
autoritat der Drucklegung vorenthalten. 

*) Ich erhielt das Notizbuch nach meiner Haftentlassung zurttck. 
Es war aus Versehen dem Untersuchungsrichter in Munchen ge- 
schickt worden, der es mir auf Antrag wieder zustellen liess. 



— 28 — 

schwer ab. Ich war infolgedessen auch nach dem Anziehen noch recht 
schlafrig, und als der Kaffee in dem grossen Bottich herumgetragen 
wurde und die dlistere Straflingsstimme „Essnapf!" rief, da hielt 
ich ganz mechanisch meinen Essnapf unter den Schopfloffel und 
kriegte ihn fast ganz voll mit warmem weissem Kaffee. Auch das 
Mordsstiick Brot wurde mir wieder ausgehandigt. Ich goss den 
Kaffee, soweit es mir gelingen wollte, in meinen Hals, den Rest in 
das Geschirr, das ich kurz vorher gereinigt hatte. Von dem Brot 
ass ich nur wenig, das ilbrige nahm mir Giesmann nachher mit 
Vergnligen ab. 

An diesem Morgen lernte ich wieder etwas Neues kennen, 
namlich den gemeinsamen „Spaziergang" im Freien. Um V28 Uhr in 
der Frilhe wurde die Zelle aufgemacht, der Aufseher machte mich 
darauf aufmerksam, dass man gleich ins Freie gehe und ersuchte 
mich, meinen Hut zu nehmen. Ich glaubte, jetzt werde ich wohl in 
einen schmucken Garten gefiihrt werden, wo ich mich gemachlich 
zwischen herbstlichen Baumen — es war immerhin schon der erste 
November — ergehen diirfte. Diesen Glauben dampfte ich dann 
freilich ein wenig, als auf dem Korridor ein Beamter auf mich zu- 
trat — ich hielt ihn immer filr einen der drei bis vier Aufseher, 
weiss aber jetzt, dass er der Oberaufseher ist — und mich fragte, 
ob ich auch mit hinunter wolle. Zu einer anderen Zeit konne er mich 
leider nicht hinauslassen, aber ich brauchte nicht mit den andern in 
einer Reihe zu gehen, sondern moge nur immer in der Mitte des 
Hofes allein bleiben. Darauf legte er die Hande um den Mund, 
stemmte sich mit aller Kraft gegen das Brlickengelander und rief 
lautschallend: „Austreten!" — Aus alien Zellen kamen sie jetzt 
hervor, die Untersuchungsgefangenen, die Zivilgefangenen und die 
Strafgefangenen, jeder mit dem Hut in der Hand, und liefen die 
Treppen hinunter zum untersten Korridor. Dort stellten sie pich 
Mann filr Mann nebeneinander auf. Mich schickte der Oberaufseher 
ans ausserste Ende, und dann setzte sich der Zug in Bewegung, ein 
paar weitere Stufen hinunter zum Gefangnishof. Diesen Hof um- 
schliesst nach drei Seiten das Gefangnis selbst, nach der vierten 
eine hohe Mauer, ilber die hinweg man die Ruckwand eines Char- 
lottenburger Miethauses mit vielen Winkeln und allerlei von diirfti- 
gen Gardinen verhangten Klichen- und Treppenfenstern sieht. Der 
Hof hat, das habe ich wiederholt gezahlt, 90 Schritte im Umfang 
und eignet sich, da die ihn umgebenden Hausmauern mindestens 
25 Meter hoch sein dtirften, und da auf die Steine, mit denen er 
gepflastert ist, fortwahrend dicker, kranker Auswurf gespuckt wird, 
zu einem Luftkurort so gut wie Timbuktu zum Seebad. Um diesen Hof 
marschierten also die Gefangenen herum, immer im Gansemarsch, 
und als ich mich dem Zuge anschliessen wollte, legte mir der Ober- 
aufseher nahe, doch allein quer ilber den Hof zu spazieren. Das tat 



— 29 — 

ich denn auch, — aber nur das eine Mai. Es ist mir unangenehm, 
in den Blicken der armen Menschen die Frage zu lesen: Warum 
soil der nicht mit uns in einem Zuge gehen ? Weil er einen 
besseren Anzug tragi ? — Ich bin vom nachsten Tage ab immer 
mit im Gansemarsch gegangen. 

Fortsetzung folgt. 



Bemerkungen. 



Der riihrige Zensor. Ein in seiner Eigenschaft als Dramatiker 
trotz jahrzehntelanger Bemuhungen bisher unbekannter Autor ent- 
schliesst sich, das Elaborat seiner Seele von offentlicher Tribune her- 
unter vorzulesen. Das ist sein gutes Recht, wie es das gute Recht 
seiner Zuhorer gewesen ware, ihren Beifall oder ihr Missvergnilgen 
zur Orientierung des Dichters verlauten zu lassen. Aus der Vorlesung 
wird nichts, weil die Polizei sie verbietet. Der Autor schlagt Larm. 
Auch das ist sein gutes Recht, ebenso dass er einen Protest verfasse, 
in dem er sich in miserablem Deutsch seine Qualitat als dichterisches 
Genie bestatigt, und dass er mit diesem Protest hausieren geht, um 
Unterschriften zu sammeln. Den Mann trifft gar kein Vorwurf, 
wohl aber die Leute, die ihre guten, wertvollen Namen dazu hergeben, 
dass einem Minderblirtigen das Zeugnis als Ebenbtirtiger ausgestellt 
wird, bloss weil die Polizei sein Werk nicht fur die Vorlesung 
freigeben will. Das Zensurverbot bestatigt einer Arbeit weder ihren 
Unwert noch ihren Wert. Ein Zensurverbot wird dadurch, dass 
Manner wie Wedekind, Thoma, Meyrink usw. das betroffene Drama 
vor aller Welt preisen, nicht mehr ins Unrecht gestellt, als wenn 
sie sich mit der Erklarung begnilgt hatten: „Die Polizei ist keine 
aesthetische Instanz. Wir protestieren dagegen, dass sie sich als 
solche aufspielt." — Eine solche Erklarung hatte ich, auch wenn 
ich das Werk und seinen Verfasser durchaus niedrig einschatze, 
unbedenklich und uberzeugt mit unterzeichnet. Damit, dass die 
Protestierenden zugleich ein Werturteil abgeben, erreichen sie erstens, 
dass die Polizei sagen kann: Die Herren begrtinden ja ihren Protest 
mit der uberragenden Qualitat des Stlickes. Sie geben damit zu, 
dass wir schlechte Stilcke von der offentlichen Vorlesung ausschliessen 
sollen. Was aber gute und schlechte Stlicke sind, darin gehen 
die Meinungen auseinander, und wir haben den Zensurbeirat ') und 
die Macht, also gilt vorerst unsere Meinung. Zweitens bewirken 
die Herren, dass sich jeder Dilettant nach einem polizeilichen Vor- 



') Zu allgemeinem Befremden ist neuerdings Herr Thomas 
Mann In den Milnchener Zensurbeirat eingetreten. Ich bezweifle 
naturlich nicht, dass sein Entschluss in der Hoffnung wurzelte, als 
Mitzensor Talenten gegen die Polizeimacht zu helfen. Die Erfah- 
rungen, die Max Halbe zur Niederlegung seines Ehrenamts veran- 
lasst haben, hatten aber doch Herrn Mann warnen sollen, geinen 
ausgezeichneten Namen fur die Zensurtaten des Herrn v. d. Heydte 
mitverantwortlich zu machen. Jedes Verbot bleibt an alien Zensoren 
hangen. Denn wie jeweils dieser oder jener Beirat gestimmt hat, und 
ob ihm ein verbotenes Werk uberhaupt vorgelegen hat, bleibt durch- 
aus Geheimnis der Weinstrasse. Thomas Mann sollte sich wirklich 
filr eine solche Strohpuppen-Rolle zu schade sein und schleunigst 
dem Beispiel Max Halbes folgen. 



lesungsverbot sehnen wird, da er ja dadurch kostenlos von den 
Besten der deutschen Literatur die Bestatigung als Dichter erhalten 
kann. Wenn schon die Polizei dein Unterschied zwischen Wedekind, 
Thoma, Bahr auf der einen Seite und irgendeinem Stumper auf der 
anderen Seite nicht machen kann, die Herren Frank Wedekind 
und Ludwig Thoma, meine ich, soil ten ihn machen. 

Notabene: Ich habe stark Zweifel, ob sich die Polizei beim 
Verbieten offenflicher Vorlesungen uberhaupt in berechtigter Aus- 
ilbung ihrer Amtsvollmacht befindet. Ich beabsichtige, bei passen- 
der Gelegenheit die Probe aufs Exempel zu machen und, ohne die 
hohe Genehmigung einzuholen, das vorzutragen was mir passt. Die 
Bestimmungen, die fur offentliche Auffuhrungen gelten, gelten nach 
meiner Auffassung der Dinge keineswegs fur offentliche Vorlesun- 
gen eines Einzelnen. Ich fordere niemanden auf, irgend etwas 
gegen die Anordnungen der Polizei zu unternehmen, aber ich teile 
meinen Lesem mit, dass ich es tun wurde. 



„Titanic." Nachdem der Zeitungsleser die Familiennachrichten 
studiert und festgestellt hat, dass keiner seiner Freunde, Feinde und 
Anverwandten geboren, gestorben oder in den Ehestand getreten ist, 
wendet er sich der Rubrik „Ungllicksfalle und Verbrechen" zu. 
Ueber Gattenmorde, Liebestragodien, Rabenmtitter und Eifersuchts- 
dramen gelangt er zu den Automobilapachen, emport sich iiber 
die verbrecherische Kaltblutigkeit der Rauber, die ihm gleichwohl 
in verborgenen Seelenfalten imponiert, und ist schliesslich in hohem 
Masse befriedigt, dass die rachende Staatsgewalt der Banditen doch 
habhaft geworden ist, und dass Bonnot nicht ohne sehr ungewohn- 
liche und gruselerregende Begleitumstande ums Leben kam. Es 
folgt die Lektlire der Eisenbahnentgleisungen, Schiffszusammenstosse, 
Erdbeben, Schlagenden Wetter, Fabrikexplosionen und Warenhaus- 
brande, bei denen in der Regel nur eine grosse Anzahl von Leichen dem 
Bedlirfnis nach sensationellem Kitzel einigermassen genligt. Hat 
er die Spitzmarke „Schreckliches Ungllick auf den Fidji-lnseln" 
gelesen, so fragt der Leser nur: Wieviel Tote? und: Wer hat 
Schuld? Das Interesse an Bedauerlichkeiten erlahmt im Quadrat 
der Entfernung und im umgekehrten Verhaltnis zu Besitz und Ein- 
kommen der Betroffenen. 

Seit langer Zeit hat kein Unglilcksfall das offentliche Gemlit 
in solchem Masse erhitzt, wie die ,,Titanic"-Katastrophe. Der wahre 
Grund dieser Erhitzung liegt bestimmt nicht im puren Mitgefilhl mit 
den 1600 im Ozean begrabenen Menschen. Man hat Minenexplo- 
sionen erlebt, die doppelt und dreifach soviel Opfer verlangt haben, 
und der Gang der Geschafte blieb ungestort. Das Mitgefilhl gedieh 
hochstens bis zur Neugier, wen die Untersuchung schuldig finden 
wurde. Das Entsetzen tiber den Untergang der „Titanic" gilt nur 
einem Zehntel der Toten. Die Riesenzahl derer, die zugleich starben, 
i6t nichts als eine wirksame Folie bei der Beweinung der Minder- 
heit, deren Millionen sich gegeniiber der Kraft eines schwimmenden 
Eisbergs als unwirksam erwiesen haben. 

Gewiss ist es unendlich traurig, zu denken, dass Menschen 
in der Gewohnheit, ihren Launen jedes Vergnligen zu gonnen, ein 
neues unerhort prachtiges Schiff besteigen, dessen Name schon 
die Bezwingung jeder Naturmacht verspricht, und inmitten der Freude, 
als erste eine Siegesfahrt an Schnelligkeit, Sicherheit und Luxus liber 
das Weltmeer zu machen, vom eiskalten, unsaglich schauderhaften 



— 31 — 

Tode uberrascht werden. Aber der Gedanke dampft das Mitleid 
mit diesen reichen Leuten, dass bei den Rettungsversuchen die Armen, 
die nicht um des Vergnligens, sondern um ernster Lebensnotwendig- 
keiten willen die Reise mitmachten, ganz vernachlassigt wurden, 
ja, dass man, um den Reichen das Vergnilgen der Seereise zu er. 
hohen, die selbstverstandlichen Vorsichtsmassregeln schon vor der 
Abfahrt versaumt hatte. 

Jetzt, wo das Ungllick geschehen ist, klagt man die White 
Star Linie und ihre Direktoren an, dass nicht genug Rettungsboote 
an Bond waren. Die die Anklage erheben, sollten sich fragen, 
ob sie, hatten sie als Vergnilgungsreisende die Fahrt mitgemacht, 
nicht ganz einverstanden gewesen waren, dass da, wo fur die 
Zwischendeck-Passagiere Boote hatten untergebracht werden konnen, 
lieber Tennisplatze geschaffen waren und Bannen, die ihre Damen auf 
Kamelen abreiten dilrften. Man schimpft, dass die Gesellschaft 
den Schnelligkeitsrekord schlagen wollte und vergisst, dass das 
zu den Sensationen gehorte, die man dem verwohnten Luxuspublikum 
bieten musste. 

Die Forderung, die angesichts des Untergangs der „Titanic" er- 
hoben werden musste, sollte so lauten: Wer sich fur sein Geld in, 
Gefahren begeben will, dem soil man die Moglichkeit dazu mit allem 
nur erdenklichen Luxus schaffen. Man soil aber die Armen, die nur 
ubers Meer wollen, und denen weder an Tennisplatzen nach an Sports- 
erfolgen liegt, auf sicheren Schiffen und mit aller Vorsicht gesondert 
befordern. Um hundert Menschen eine Fahrt angenehm zu machen, 
soil man nicht tausend in Gefahr bringen, die von den Annehmlich- 
keiten ohnehin nichts haben. 

Endlich moge man die Anklagen gegen die Gesellschaft solange 
zuriickstellen, bis man sich nicht geprilft hat, ob man nicht selbst 
Dreck am Stecken hat. Kein Aktionar irgend eines Bergwerks sollte 
gegen die White Star Linie den Mund auftun, sondern bedenken, 
dass er, was oft schrecklich zu Tage trat, seine Dividenden der Er- 
sparung von Sicherheitsmassregeln fur die arbeitenden Bergleute 
dankt. Dem gefiihlvollen Zeitungsleser aber sei nahegelegt, seine 
Tranendriisen zu schonen. Seine Trauer um die 1600 Toten kann so 
gross nicht sein, da er jeden Tag bereit ist, filr die „Ehre der 
Nation" einem Krieg zuzustimmen, der, was er vorher ausrechnen 
kann, das Hundertfache an Menschenleben kosten kann. 

Werfen wir der Natur nicht ihre Eisberge vor, solange wir 
Menschen ihr mit unsern Mordwaffen den Rang ablaufen. 



Die Jesuiten. Es herrscht grosser Schrecken im Lande Bayern. 
Die Liberalen und Sozialdemokraten haben seit Jahr und Tag dem 
Zentrum geholfen, die Aufhebung des Jesuitengesetzes herbeizuflihren. 
Ungezahlte Male hat der Reichstag (der bekannte Willensausdruck 
des deutschen Volkes) denn auch die Aufhebung des Jesuitengesetzes 
beschlossen. Aber der Bundesrat, die Exekutive der Regierungen, 
wollte nicht. So blieb das Ausnahmegesetz in Kraft. Nun hat 
plotzlich Bayern eine neue Regierung gekriegt, die — ein erster 
Schritt zu dem von Liberalen und Sozialdemokraten inbrilnstig her- 
beigesehnten parlamentarischen Regime — der Mehrheit des Parla- 
ments entsprechend zusammengesetzt ist. Diese Regierung hat das 
Mittel gefunden, dem im Reichstag so oft bekundeten Willen des 
deutschen Volkes Geltung zu verschaffen. Sie hat mit einer geschickten 
Interpretation das von Liberalen und Sozialdemokraten immer wieder 



— 32 — 

abgelehnte Jesuitengesetz fur Bayern so ziemlich unwirksam gemacht. 
Eine echt demokratische, echt volkstiimliche Regierung — wie ? 
Ja, Husten I Die Liberalen und Sozialdemokraten haben sich anders 
besonnen. Sie schreien Zeter und Mordio, weil die Reichsgesetze voa 
der bayerischen Regierung nicht respektiert werden. Sie schreien im 
deutschen Reichstag und sie schreien im bayerischen Landtag, nur 
wahrend sie sonst den Bundesrat anklagen, dass er die Beschlilsse 
des deutschen Volkes nicht vollziehe, klagen sie ihn jetzt an. dass 
er die Interpretation eines Gesetzes im Sinne der Beschlilsse des 
deutschen Volkes nicht hindere. Und eine Angst vor den Jesuiten 
kommt dabei zum Vorschein, dass man sich die Nase zuhalt vor 
soviel vollen Hosen! Ach, liberale und sozialdemokratische Freiheits- 
kampen, lasst sie ruhig ins Land, die bosen Jesowiter! Mit Staats- 
gesetzen macht man unbequeme Bewegungen doch nicht tot, und 
euch gegenilber werden die Leutchen ohnehin nichts zu tun finden. 
Um mit euch Kroppzeug fertig zu werden, bedarf es wirklich 
keiner Jesuitenkiinste. 



Vom Geistesmarkt. Die „Meggendorfer Blatter", Zeitschrift filr 
Humor und Kunst, bringen in ihrer Nr. 1114 vom 30. April 1912, 
auf Seite 99 folgenden Witz: 

„Moderner Haushalt. 
Firau: „Ich habe zwei Zentner Kohlen bestellt !" 
Mann: „Warum denn gleich zwei ?"" 



jm Kain>0erlag munifien, Baadertfrafle ia 
lit crffljlencn: 



„0er Krater" 

Ofdidtjtc t>on eridt) miijfam. 



Prcis: m 2. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Mulisam, Miinchen, Akademiestrasse 9 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen. Baaderstr. la. Tel. 2355 



KAIN, Heft 12. Inhalt: Die Bergarbeiter. — Tagebuch aus 
dem Gefangnis. — „M. N. N." — Die Stimmrechts-Amazonen. 

— Die Geheimnisse von Czenstochau. — Ein Opfer seines 
Berufs. — Bittingers Fehltritt. 

J\.A1M, Hett 1. Inhalt: Anarchistisches Bekenntnis. — Miinch- 
ner Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. — 
Die Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchner Post". 

— Die Tugend hat gesiegt. 



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Pregrelatiotubureau „ftanfa" 

Cfltpb.rilint moattli Mi] BtrUll NW 23 ■♦■ tiolftriner Uftr 7 <*> 

Jnb.t Jng. 111. Hraufr 

lirfrrt allC llactiriftTtCU ubtr 

Kunft, Titeratur, tUiffcnfftaft 

fdjnell — DOllHandig — prctsiDtrt. 

nkadftnifd) und Uterarifdj gebildctc Tektoren. 
Porzugliifte Organifation 1 



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Bitte hier abzutrennen. 



Biicherzettel. 



An 




Don 

eridt) tttiittfam 

crfd)ifnen folgende DUOicr. 



OlC rDllftC* eedtdjtc. 1904. m. z.io. 
Utr KtdtCt* eedid)tc. m*. m. 2.— 

Die Uo^Jtapler^ mm*. ho«. m.*.- 

Zu bezic hni durrt) icric BudJbandlung unci dtn 
K.iin Dcrlau, niuntfirn, BaadcrftraBe la. 



Bitte hier abzutrennen. = 



Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift 

„KAIN", Jahrgang 1912. (Kain-Verlag Miinchen, Baader- 

strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. Zahlbar 
bei Empfang der ersten Nummer. 

Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*) 
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*) 



Genaue Adresse: 



Name: 



*) Nicht gewunschtes bitte zu durchstreichen. 



JahrgangIL No> 3> juni 1912 

KMN 

Zeit/chrifffiir 
rien/ch(ich(\eir 

HemuJgeber; 

(rich Huh/am 




Inhalt: Strindberg. — Tagebuch ans dem Gefangnis. — Miinchner 
Theater. — Bemerkungen. — Bonnot Gamier und Co. — Der 
Kampf mit dem Drachen. — Die entsprechende Siihne. — 
Geburtstagsgriisse. — Maria im Rosenhag. 



Kain-Verlag Munchen. 
30 Pfq. 



Oer Kratcr. 

Don eridt) muttfam. 



Kalii'UcrUu mnnrticn. 



Preis mfc. i.- 



Miihsams 



Lyrik 



Ki 



Autor eine seltsame Verschmelzung von Produkt und Produktivitat 



darstellt. Unsere Zeit ist schc 



iass in ihr meistens nicht die 



Shakespeares dichten, die Produktiven, sondern die Hamlets, die 
Produkte; nicht die Pragenden, sondern die Gepragten. Auch Miihsam 
ist ein Gepragter; nur hat ihm nicht die Literaturiibung und die 



Mode den Ster 



;1 



jfgedriickt, sondern das Leben und die Zustande 



unserer Zeit. Man hat den Eindruck: die Leiden, die er in bitteren 



id scharfen Tc 



m a n c h m a 



1 fast mit einem 



fei 



ldenExhibitionis- 



nnausschreit, 



rlebte 



lie von einem 



Indi 



:ht nur erfahrene, geistig und seelisch 
ividuum empfangen werden, sondern diese 



Schmerzen sind er selbst; sie sitzen nicht nur als Begegnuneen in 



G 



eist, 



sondern sie sine 



>n Geburt wegen mit ihm verbunder 



sie sind sein ganzer Mensch und sein Korper. Was er darum dichtet, 
ist nicht nur politische oder soziale oder sozialistische Lyrik; nicht 
nur leidende Liebe und Sehnsucht und Geilheit und Galgenhumor; 



ihm dichtet die Unbeherrschheit, 



Wut 



manchmal geradezu die Degeneration und Neurasthenic. Das Alles 



aber natiirlich 



verbunden wiederum mit geistig 



tiger Beherrschtheit mit 



5l 



Wissen um seinen Zustand, mit Witz und Ueberlegenheit und mit einer 



Giite 



die aus reichlicher Bosheit 



immer wieder hervorbric 



hi. 



Da nun Miihsam dazu eine sehr starke formale Begabung hat, eine 
grosse Kraft des Rhythmus, die oft bezwingend ist, die Kunst des 
Abrundens und Gestaltens, die Macht des anschaulichen Bildes bis 
zur Grellheit und der stark betonten Rede bis zur Beschwingtheit und 
obendrein eine erstaunliche Schlagkraft des Reims (die er nur nie 
verstandesmassig-witzig in den 



Ausbruch des Gefiihls 



umpsen 



lassen diirfte), so ergeben sich in dem Bande viele Gedichte, die uns 



il, 



Br 



ist, die Wildheit und den Aberwitz tief hinei 



zwingen. Wir erleben jn einem Mitfiihlen, gegen das nur der Kalt- 



eine Wehr hat, 



,,Lebensfeuer, 



Kr 



:ht" 



st, die 



Verbannte, dieser „TrunkenboId des Leides" 



Und manchmal kommt 



Sch 



onheit 



id der Weiht 



id der 



Selbstsicherheit, dass wir uns sagen: Wenn er, der diese Jugend der 



ualen un 



d des Tobens hat, eir 



il dc 



Reifer 



werden so 



lite 



dann wird er ein Grosserer sein, als dc vielen Scheinreifen, die schon 
fertig auf die Welt gekommen sind. Und vielleicht ist er auch 
heute schon ein Grosserer ? 

(Gustav Landauer in der „Zukunft".) 



is£*sJ9§is*^-iaei^*9i 



Jahrgang II. Miinchen, 

No. 3. Juni 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fLir JVLenschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

. Fil"-!' i Lnn-.i.:!.'.!"'!!-.;.!..!:!^. * -i '.l.ii.ii. I .^.|i f .t..«:Ti.,ii.t..KI.-TTir^TT|-r.Frr..A.|.n; i ■!': !.■»■ i » i ■» !■. «,i :i :nr>'.|-|. i ",, l-.*-l..tf 

„ K A I N " erscheint ira Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 
Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

«aa<^.TrarEre..i,ira i,,t l ,i,,i,.i„i .Triri ,,j,,.,^ i„i,n.,i...,t.i.til. 

Strindberg. 

Das Lebenswerk August Strindbergs ist abgeschlossen. 
Die Welt ist um eine Elementarkraft armer geworden. — 
Ich gestehe, dass diese Feststellung vorerst alles enthalt, was 
mir am frischen Grabe des Toten auszusprechen Bediirf- 
nis ist. In aller Eile die ausseren Daten seines Lebens 
aus Literaturkalendern und Konversationslexiken heraus- 
zustobern oder gar alles Erreichbare an Strindbergschen 
Biichern zusammenzuraffen, um aus niichtiger Durchsicht 
ein Charakterbild zu fixieren, kame mir wie Leichen- 
schandung vor. Ein zuverlassiges Portrait dieses Genies 
ist solange noch gar nicht moglich, wie der Nachlass, der 
wahrscheinlich sein Personlichstes enthalt, nicht vorhegt, und 
wie nicht eine abklarende Distanz zwischen der Zeit seines 
Schaffens und der einer objektiven Bewertung entstanden 
ist. Die Spannweite der Strindbergschen Produktion ist 
so gross, dass das kritische Urteil zunachst dem Gefuhl 
allein vorbehalten bleiben muss. Mein subjektives Geflihl 
ist voll Bewunderung fur die ungeheure dichterische Dyna- 
mik, die in Strindbergs Werken Gestaltung fand, und voll 
Ablehnung gegen das abgriindlich hassliche Weltbild, das 



— 34 — 

sich in alien seinen Leidenschaften spiegelt. Nichts schien 
diesem Riesengeist gottlich, alles sah er durch die Brille 
einer qualvollen Teufelsglaubigkeit. Die Konsequenz 
der Satanskonfession Strindbergs war der Gang nach 
Damaskus, war die Fluent ins Christentum. Aber Strind- 
berg blieb als Christ, was er als Heide gewesen war: 
ein mystischer Norgler, ein fluchender Titan. Und er 
hatte den Mut zu seiner Skepsis. Nichts gait ihm sicher, 
nichts erklart. Die Wissenschaft hat in Strindberg ihren 
gefahrlichsten Feind verloren. Das Raderwerk ruht, in 
dem ihre „Erkenntnisse" zerstiickelt wurden. Auch zu 
seinen Feigheiten hatte Strindberg den Mut. Er zitterte 
vor dem Weibe, das fur inn das starke Geschlecht repra- 
sentierte, dem er sich horig fuhlte und das er dafur hasste 
mit der ganzen Inbrunst seiner gigantischen Kiinstlerschaft. 
Unsagbar hasslich war die Welt, die Strindbergs Augen 
sahen, unsagbar grossartig aber ist das Bild, das er von 
dieser Welt gemalt hat. Mit Strindberg verblich die andere 
der Gestalten, die die letzten fiinfzig Jahre iiberragten: 
Leo Tolstoj ging vor ihm, den Nachfahren aber wird es iiber- 
lassen bleiben, ob sie sich zu Tolstojs himmUscher Welt 
oder zu Strindbergs hollischer entschliessen wollen. 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 
Wahrend ich nun so allein mitten liber den Hof ging, hin und 
zurlick, immer hin und zuriick, und die andern in langem Zuge — 
es waren 25 Mann (es wird in mehreren Abteilungen marschiert) — 
immer um den Hof herum, immer herum trotteten, sah ich mir die 
einzelnen Gestalten an. In Straflingsanziigen waren nur ganz wenige, 
nur solche, die, wie es in den Verhaltungsvorschriften hiess, ohne 
reinliche und schickliche Kleidung ins Gefangnis eingeliefert waren. 
Die meisten trugen einfache Arbeiteranziige mit Schirmmutzen und 
an den Fiissen Anstaltslatschen. Nur vielleicht funf oder sechs ausser 
mir hatten eigenes Schuhzeug an. Auch das Alter war nicht so 
unterschiedlich, wie man vermuten konnte. Mein Wagengefahrte, 
der Mann, der selbst an seiner Zurechnungsfahigkeit zweifelte und 
den ich in steifer Haltung im Zuge schreiten sah, dilrfte der alteste 
Insasse des Gefangnisses sein, sofern nicht in Abteilungen, die mir 



— 35 — 

unsichtbar bleiben, noch altere Leute stecken. Blass, kranklich und 
wenig intellegent sahen fast alle aus, wenige robuste Kerle nur, und 
fast gar keine geistig betrachtlichen Physiognomieen. 

Ich will einige hervortretende Typen hier festzuhalten suchen 
Einer war da, in Gang und Haltung wie ein Vikar, in schwarzem 
Gehrock, mit rundem schwarzen Hut, Oberhemd und schwarzer 
Kravatte, der bei weitem eleganteste der Hafflinge. Aber das Gesicht 
von ganz minderweitigem Ausdruck, Mode, reuig, interesselos. 
Grosse, schlappe aus den Manschetten hangende Hande. Wahr- 
scheinlich ein unzuverlassiger Geschaftsangestellter, der seinen Skat- 
verlust durch Unterschlagung einer Postanweisung decken wollte. 
Dann ist da ein gesunder, rundlicher, netter junger Kerl in blauem 
Straflingskittel. Er scheint immer lustig zu sein. Jedenfalls hat er 
etwas Sonniges, Lachendes an sich. Er ftthrt den klaglichen Zug 
an und scheint, wie ich an den folgenden Tagen beobachten konnte, 
an dieser Wttrde besonderes Gefallen zu finden. Man wird ihn mal 
geargert haben, und daraus mag eine Sachbeschadigung oder ein 
Hausfriedensbruch geworden sein. Einer ist da, ein Mensch von 
vielleicht 27 Jahren, der geht mit steif nach hinten gebogenem Kor- 
per, die Hande in die Taschen seiner gelben Jacke vergraben, die 
schwarzbartige Oberlippe zusammengekniffen, einher, ohne nach 
links oder rechts einen Blick zu werfen. Er sieht ziemlich ver- 
schlagen aus und man konnte ihn fur einen Heiratsschwindler halten. 
Zwei besser gekleidete Leute sind erst im Laufe der Woche dazu- 
gekommen. Einer, der zwei Zellen neben mir wohnt (neben meiner 
neuen Behausung namlich, von der noch zu reden sein wird), hat das 
intelligenteste Gesicht von alien meinen Mitgefangenen. Etwa 36 Jahre 
alt, blonden, dichten an den Seiten beschnittenen, nach unten gefranz- 
ten Schnurrbart, kluge braune Augen, sicheren, beinahe weltmanni- 
schen Gang. Heute kam er wahrend einer der Geschirrreinigung 
gewidmeten Zellenoffnung zu mir, mit einem Platteisen in der Hand, 
und bat mich um Lekture fur den Sonntag. Ich gab ihm die Apho- 
rismen von Peter Hille, die Droop unter dem Titel „Aus dem Heilig- 
tum der Schonheit" bei Reclam herausgegeben hat. Ob er viel 
Genuss an diesen Herrlichkeiten haben wird, weiss ich nicht. Ich 
trau ihm aber zu, dass er wenigstens das biographische Vorwort 
mit Interesse lesen wird. Ich hatte ihm gern was anderes mitgegeben, 
hatte aber garnichts geeignetes, weil ich die Bucher, die Caro mir 
kurzlich brachte, ihm heute zurtickgegeben habe. Da der Mann meinen 
Namen nicht kennt, der in dem Vorwort mehrfach genannt wird, 
kann er ja auch nicht auf die Vermutung kommen, dass ich ihm 
die Schrift etwa aus Eitelkeit uberlassen habe. Was mag er began- 
gen haben? Vielleicht eine Urkundenfalschung oder ein ahnliches 
Delikt, zu dem die Geschaftsusancen in unserer wunderlichen Gesell- 



— 36 — 

Schaftsordnung ja reichlich Gelegenheit bieten. Der andere Mann, 
von dem ich sprach, mag im gleichen Alter stehen. Er hat ein gelb- 
liches Gesicht, kurz geschnittenen schwarzen Schnurrbart, verkniffene 
Zttge und graumeliertes Haar. Ein Mensch, der nicht im mindesten 
skrupelhaft aussieht und dem ich schon eine grosszligige Betrligerei 
zutrauen konnte. 

Die auffalligste Erscheinung unter den Straflingen ist ein jungerer 

Mensch im Arbeiteranzug. Er ist wohl das hasslichste und ab- 

schreckendste Menschenexemplar, das ich je gesehen habe. Die 

ganze obere Gesichtshalfte ist von einem riesigen Muttermal tiber- 

deckt, das in alien Farben eines Pavianhintern schimmert. Das Kinn, 

das ganz ohne Form ist, liegt darum, wie eine weissgetunchte 

Schuppenkette, Die graugelben Augen haben einen bosen, stechenden 

Blick. Der Korper ist gedrungen, der Rucken zum Nacken hinauf- 

gezogen, die Glieder sind plump und doch hat der Gang etwas 

schleichendes, heimtuckisches. Der vollendete Typ eines psycho- 

pathischen Schwerverbrechers, unsaglich roh in Bewegungen und 

Gebahren. Der Mensch wendet seine viehische Fratze frech nach 

alien Seiten, als ob er damit kokettieren wolle, spuckt unter lautem 

Riilpsen vor sich weg, grinst fortwahrend, stampft seine klobigen 

Fauste nach unten, furzt, indem er stehen bleibt und sein Bein auf- 

hebt und fuhrt Selbstgesprache in den verdorbensten und gemein- 

sten Ausdrilcken. Ich sehe weg, sobald er an mir vorbeikommt, 

aber er scheint es bemerkt zu haben und feixt mich von unten her- 

auf schief, frech und schabig an. Jeder Gewalttat, glaubeich undjeder 

Schurkerei ist dieses Scheusal fahig. Aber ein Schulbeispiel scheint mir 

dieser Mann zu sein dafiir, dass alle Schlechtigkeit Ungluck, dass alle 

Schuld Schicksal ist (und von der Akademieformel gewisser Psycho- 

analytiker, dass alles Schicksal selbstgewollt sei, halte ich nicht all- 

zuviel). Richard III. ins Proletarische ubersetzt. Kann dieser 

Mensch gut sein, edel, menschenliebend, den die Natur so infam 

hasslich gemacht hat? Niemals werden zartliche Lippen seine ent- 

setzliche Larve geklisst haben. Muss da nicht der Neid aufsteigen 

und die Wut und die Bosheit und alle Niedrigkeit? — Und nun 

ist wohl die Lust tiber ihn gekommen, B6se» zu tun — ohne Ah- 

nung von seinen eigenen Grunden Rache zu nehmen an den Men- 

schen fur das schmahliche Verbrechen, das die Natur an ihm beging. 

Und er schlagt jemandem das Auge ein oder vergewaltigt ein Kind 

oder ziindet seinem Nachbarn das Haus an, oder raubt einem be- 

habigen Rentier den Geldbeutel; denn bitterarm ist er obendrein 

Doch. Aber was mordete doch der bleiche Verbrecher? Er mor- 

dete nicht um zu rauben, sondern er raubte um zu morden. Nietzsche 

hat die Menschen gekannt. Die Hascher aber greifen nach der un- 

seligen Missgeburt, und die Richter verbunden sich, ihn zu strafen fur 



— 37 — 

all sein Leid, fur all sein bitteres Ungllick. Und nun haben sie ihn 
ins Gefangnis gesetzt, dass ihm seine Enterbung um so deutlicher 
bewusst werde. Statt dass man alles tate, was in schwachen Menschen- 
kraften steht, um soviel Unheil ertraglicher zu machen! Guten Wein 
sollte man ihm geben und weiche Betten, auf Gummi sollte er fahren 
dilrfen und flinke Hande jedem seiner Wttnsche bereit finden! — 
So, nur so konnte man die Gesellschaft schtttzen vor seiner Rache, 
vor seinem, doch wohl gerechten Zorn. So, nur so konnten wir 
uns selbst schutzen vor den Vorwttrfen, die wir uns bei seinem 
Anblick zu machen haben. 

Gleich wird die Glocke zum Schlafengehen lauten. Ich muss 
fur morgen aufheben, was liber den Montag noch zu sagen ist, und 
muss mich vorbereiten, lange wachend im Dunkeln zu liegen und 
viele schmerzliche Gedanken passieren zu lassen, die heute wohl 
meist meinem lieben, vermissten schwarzen Notizbuch gelten werden. 

Sonntag, den 7. November 1909. 

Wo stand ich doch? Bei dem ersten Morgenspaziergang auf 
dem Gefangnishof. Taglich frtth um V28 Uhr mttssen wir hinaus 
(heute am Sonntag, blieb es uns erspart) und einer hinter dem an- 
deren hermarschieren, gegen 30 mal herum um den dumpfigen Hof. 
Zweimal habe ich die Rundgange gezahlt und einmal 29, einmal 32 
festgestellt, und der ganze Umkreis ist bezeichnet von dem dicken, 
gelben, schleimigen Auswurf der armen Menschen, die man fort- 
wahrend rochelnd ausspucken hort. Ich habe ein Grausen vor dem 
wurmartigen Schleim, der an meinem Wege liegt, und hebe den 
Kopf hoch, um ihn nicht sehen zu mttssen, denn immer fttrchte ich, 
es konnten sich Tuberkeln daraus befreien und den Weg in meinen 
Hals finden. Zwanzig Minuten dauert der Rundmarsch. Zwanzig 
Minuten Gefangnishof im dicken grauen Morgennebel, das ist die 
einzige Zeit, wo wir hier „frische Luft" atmen dttrfen. 

Den Montag-Vormittag benutzte ich dann zum Briefschreiben: 
an C, an S., an die Freunde im Cafe des Westens, an F., der der 
einzige ist, von dem ich Antwort bekam. Aber gestern erfuhr ich 
durch den Inspektor, dass diese Postkarte und ein Heft der „Schau- 
btthne" von ihm direkt zu mir hinaufgeschickt worden seien, weil 
er gleich sah, dass das ohne Belang war, dass aber alle anderen 
an mich eingetroffenen Postsachen, und es seien schon etliche an- 
gekommen — an den Richter weitergeftthrt seien. Gesehen habe 
ich davon noch garnichts. Auch eine Titelzeichnung fur ein neues 
Buch, ttber das ich am Tage vor meiner Verhaftung mit F. ge- 
sprochen hatte, entwarf ich, musste aber bei alien diesen Be- 
schaftigungen haufige Pausen eintreten lassen, weil das von hinten 
fallende Licht meinen Schatten vor mich auf das Papier warf, und das 
Schreiben undZeichnen daher meine Augen ausserordentlich anstrengte. 



— 38 — 

Mittags wurde ich ins Bilro hinuntergerufen, wo Caro mich er- 
wartete. Wir berieten tiber das, was zunachst geschehen miisse, und 
er erzahlte mir, dass meine Verhaftung von alien Bekannten mit 
grosser Teilnahme aufgenommen wurde, und dass sich auch die 
Presse, abgesehen wieder von einigen liberalen Organen, deren 
Schmocke mich in meiner „Harmlosigkeit" als nicht ernst zu nehmen 
beschimpften, sympathisch benahme. So las er mir eine Notiz aus 
der „Welt am Montag" vor, die entschieden fur mich Partei nahm.') 
.... Ich trug Caro noch einige Wlinsche auf, vor alien Dingen 
bat ich ihn, fur Lektiire zu sorgen und fur Decken, die die Harte 
meines Lagers weniger empfindlich machten. Er versprach alles 

und ging. Ich Hess mich wieder in meine Zelle sperren 2 ) 

(Fortsetzung folgt.) 



Miinchner Theater. 
„Circe." — „Jedermann." 

Calderons „Circe" aufzuflihren ist ein interessantes Experiment, 
und das Klinstlertheater hatte den Mut, bei der Eroffnung der Bay- 
rischen Gewerbeschau das Experiment zu machen. Herr Georg 
Fuchs hat das phantastische Festspiel nachgedichtet, Herr Eduard 
Klinneke hat eine Musik dazu geschrieben, Herr Alfred Halm insze- 
nierte die Auffuhrung und Herr Professor Hierl-Deronco entwarf 
Dekorationen und Kostlime. Bewahrte Schauspieler suchten zum Ge 
lingen beizutragen: Tilla Durieux, Max Pallenberg, Waldemar Stage- 
mann, Ludwig Hartau. 

Das Experiment — das sei vornweg bemerkt — misslang. Ich 
mochte niemandem Schuld aufburden. Es war ein Versuch mit 
untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt. Nicht dass ich die 
Kilnstler untauglich schelten sollte. Ihren Bemuhungen dankten 
wir wundervolle Einzelheiten. Es sei hier aber einmal ausgesprochen : 
Das Klinstlertheater selbst, das uns als Normal- und Reformbuhne 
gepriesen wurde, ist eine fur festliche Regie durchaus ungeeignete 
Anstalt. Um uppige Szenen wirksam zur Geltung zu bringen, dazu 
braucht man zunachst Platz. Um phantastische Szenen phantastisch 

') Als ich aus dem Gefangnis herauskam, konnte ich allerdings 
feststellen, dass auch nur entfernt menschenmogliche Glossen iiber 
die Verhaftung in sehr wenigen Blattern erschienen waren. Im 
ilbrigen hatten die Organe aller Parteien (die „Munchner Post" alien 
voran) mich personlich in der Zeit, wo ich wehrlos eingesperrt war, 
so gemein beschimpft, dass ich mich veranlasst sah, im „Vorwarts" 
gegen dies perfide Verhalten offentlich Verwahrung einzulegen. 

') Langere Betrachtungen rein privater Natur lasse ich hier fort. 



— 39 — 

wirken zu lassen, dazu braucht man bestimmte Requisiten, iiber die 
das Klinstlertheater dank seiner unzweckmassigen Anlage nicht ver. 
fiigt. Um Zauberstiickchen zu machen, Gegenstande oder Menschen 
erscheinen und verschwinden zu lassen, dazu braucht man eine Ver- 
senkung. Hat man, wie im Klinstlertheater, keine Versenkung, weil 
der Platz dazu um des Prinzips der Reformblihne willen fehlt, so 
muss man darauf verzichten, phantastisch-romantische Festspiele auf- 
zufilhren. Man hatte seinerzeit die Moglichkeit, das Klinstlertheater 
so zu bauen, dass technische Unzutraglichkeiten vermieden werden 
konnten. Jetzt racht es sich, dass man den Theoretikern nachgab, 
statt auf die Praktiker zu horen. Die grundsatzliche Vereinfachung 
der Szene ist Unsinn, solange man nicht auch die grundsatzliche 
Vereinfachung des Theaterspiels iiberhaupt hat. Kein verstandiger 
Mensch wird im Zeitalter der Benzinknipser zum Feuerstein zuriick- 
greifen, sofern nicht etwa ein sozialer Gedanke ihn und seine Nach- 
sten veranlasst, eine Uebergangszeit hindurch primitive Lebens- 
formen zu pflegen. 

Um mit den unzulanglichen Raumverhaltnissen des Kiinstler- 
theaters fertig zu werden, bedurfte es eines Regisseurs wie Max 
Reinhardt, der da draussen mit den „Raubern", dem „Sommernachts- 
traum", und der „schonen Helena" ja in der Tat ausgezeichnete 
Leistungen bot. Wieviel Schweiss und Fliiche es ihn gekostet hat, 
mochte ich aber nicht zahlen. Wie er sich mit „Circe" abgefunden 
hatte, lasst sich schwer ermessen. Ob er aber den Wunderschrank, 
der plotzlich zu erscheinen hat, durch zwei Diener auf die Biihne 
hatte rollen lassen, um ihn dann durch zwei Diener wieder abholen 
zu lassen, kann fliglich bezweifelt werden. 

Herr Halm ist gewiss ein tiichtiger Regisseur. Wollte er jedoch 
an der Statte, wo bisher Reinhardt gewirkt hat, eine von Reinhardts 
Art deutlich unterschiedene Kunst zeigen, so hatte er in den Tanzen 
und Gruppierungen weniger eng an Reinhardt anschliessen sollen, 
um nicht einen fur ihn sehr unglinstigen Vergleich zu provozieren- 
Das Herantanzen der Nymphen im ersten Akt wirkte nicht natiir- 
lich wie die Elfenaufztige in Reinhardts „Sommernachtstraum", son- 
dern einstudiert und balleteusenhaft. 

Die Szene selbst sah manchmal arg aus. Es geht doch nicht, 
dass man hinter einem dichten Wald, der ins Grenzenlose gehen 
muss, die Pappwand sieht, die die Biihne abschliesst. Im zweiten 
Akt geht der Vorhang auf und man erblickt den verfiihrerischen 
Garten durch drei blaue Kachelkamine hindurch, in denen gold- 
bronzierte Gotzenbilder stehen. Dariiber wolbt sich ein karmoisin- 
roter Himmel. Das sind Unmoglichkeiten. 

Sehr hiibsch wirkte dagegen das einfache Biihnenbild am Meeres- 
ufer, die Felsblockkette, hinter der der Riese Brutamonte vor dem 



— 40 — 

erschrockenen Clarin auftaucht. Am besten das Schlussbild, der 
rauchende Kraterschlund, in dem Circe zu den Gottern entschwindet. 
Es war eine ausgezeichnete Idee, im ersten Akt Circe und ihre 
Begleiterinnen in den grandiosen spanischen Kostumen der Velasquez. 
Zeit erscheinen zu lassen. Der Kontrast zu den gepanzerten Griechen 
war sehr wirksam und schon. Warum sich aber die Damen im 
weiteren Verlauf der Begebenheiten plotzlich in griechischen Gewan- 
dern zeigen mussten, bleibt unerfindlich. 

Die Schauspieler hatten eine undankbare Aufgabe zu losen. 
Denn so interessant der Versuch immer sein mag, das Festspiel Cal- 
derons zu beleben und so geschickt sich Georg Fuchs immer mit 
dem schwierigen Problem abgefunden hat, ein Ubelstand bleibt fur 
den verwohnten Geschmack der Zeitgenossen doch bestehen: Die 
ganze Art, wie sich die Vorgange entwickeln, selbst die erotischen 
Szenen und die Wunderhaftigkeiten sind ohne dichterischen Schmiss, 
wirken nlichtern und reizen zum Gahnen. Daran andern reizende 
kleinere Einzelheiten, wie die Dialoge zwischen Clarin und Leporell, 
oder die Szene mit dem Zwerg und der Duenna nichts, dass man 
mit dem Geftihl das Theater verlasst: es war langweilig. 

Frau Durieux, die (mit roten Haaren) pompos aussah, nahm die 
Rolle als Circe so, wie sie nach der Calderons-Fuchs'schen Vorlage 
genommen werden musste: Klihl und majestatisch. Sie sprach ihre 
Rolle mehr als sie sie spielte und vergrosserte dadurch die Gestalt 
der Circe in der richtigen Erkenntnis, dass sie keine Verinnerlichung 
zulasst. Tilla Durieux ist vielleicht die bedeutendste Sprecherin 
der deutschen Buhne, und so gab ihre Leistung dem Abend den 
besten Teil an Schonheit und Wirkung. Der Ulysses des Dr. Staege- 
mann vom Berliner koniglichen Schauspielhause war mir etwas zu 
weich, zu tenorhaft, hatte aber, besonders in der Liebesszene des 
letzten Aktes, sehr schone Momente. 

Max Pallenberg nannte ich hier schon vor einem Jahre einen 
Komiker, dessen gleichen es nicht zum zweiten Male gibt. Sein 
Clarin bestatigte die hohe Meinung, die er hier vom Menelaus und 
von Jupiter her hinterlassen hat. Das ist ein prachtvoller Kerl, voll 
bizarrer Einfalle und dabei voll Grosse und Innerlichkeit in seiner 
Komik. Im Ausseren und in der Sprache wirkt er wie eine Karri- 
katur auf Moissi Manchmal argert man sich iiber ihn, wenn er in 
seinem wienerischen Dialekt einen gar zu bloden Witz macht. Man 
denkt sich: Zum Teufel! Das gehort doch in die Budapester Orpheum 
Gesellschaft ! Dann aber schlagt er plotzlich um und sagt mit 
tottrauriger Stimme einen Satz, dass man nicht weiss, ob man vor 
Lachen platzen oder laut aufschluchzen soil. Es wird mir unvergess- 
lich sein, wie er, aus einem Affen in seine Menschengestalt zurlick- 
verwandelt, im weissen Harlekinskostiim vor den roten Vorhang 



— 41 — 

tritt, sich halb in dessen Falten versteckt, melancholisch ins Publikum 
hineinschaut und mit unendlicher Wahrheit sagt: „Ich schame mich 
zu Tode". — Er und die Durieux konnten mit dem ganzen Abend 
versohnen. 

Die ubrigen Darsteller entsprachen ihren Anforderungen. Lud- 
wig Hartaus Prinz von Trinacrien ware vielleicht besonderer Er- 
wahnung wert. 

Das Gute der „Circe"-Auffiihrung ist somit den Schauspielern 
zu danken. Es ware sehr zu wlinschen, dass das Kunstlertheater 
sich entschlosse, ihnen Aufgaben zu stellen, die weniger nach Experi- 
ment riechen wie Calderon-Ausgrabungen. Es gibt moderne Stiicke 
genug, aus denen eine kundige Regie mit so hervorragenden Dar- 
stellern, wie sie draussen zu Gebote stehen, Brillantes machen konnte, 
Stticke sogar, die ohne grosse Schwierigkeiten auch auf der Normal- 
und Reformbilhne gespielt werden konnten. Ich erlaube mir zu- 
nachst zwei Vorschlage: Wedekinds „So ist das Leben" und Ger 
hart Hauptmanns „Und Pippa tanzt". Beide Dramen sind in Mlinchen 
noch nicht zu der Auffuhrung gelangt, die ihnen geblihrt. In beiden 
Dramen ist fur Regie, Ausstattung und Darstellung die Moglichkeit 
zu grossen und schonen Leistungen enthalten.') 

Wer noch zweifelt, ob zur Inszenierung wirklich theatermassiger 
Spiele grosse, tiefreichende und auf jede technische Forderung vor- 
bereitete Buhnen mehr leisten konnen als ein reformiertes Relief- 
theater, der sehe sich im Hoftheater „Das alte Spiel von Jedermann" 
an, eine Auffuhrung, die in der Geschichte des deutschen Theater- 
spiels bemerkenswert bleiben wird. 

Das Mysterienspiel selbst, das Hugo von Hofmannsthal einer 
alten englischen Moralitat nachgedichtet hat, ist ganz naiv. Jeder- 
mann wird jedermann in persona vorgeflihrt, in all seiner Harte, 
seinem Unverstand, seinem Geiz, seiner Selbstsucht, seiner Ober- 
flachlichkeit, seiner Verbuhltheit, seiner Schwache und seinem gott- 
vergessenen Wandel. Gottvater schickt den Tod aus, Jedermann 
vor seinen Thron zu laden. Wahrend eines festlichen Gelages ilber- 
rascht ihn der Tod, vor dessen schauerlichem Anblick alle ausreissen, 
Jedermanns Buhlschaft zuerst, dann Jedermanns guter Gesell, sein 



') Die Sommerbuhne im Ausstellungspark hat inzwischen ein 
zweites Stuck herausgebracht. Es heisst „Kismet" und ist ein 
Bayerisches Gewerbeschauspiel. „Kismet" hat das Verdienst, einen 
neuen dramatischen Typus zu kreieren: Man engagiert aus einem 
besseren Variete eine Schlangentanzerin und baut ein ,.Traumspiel 
aus 1001 Nacht" um sie herum. Das Publikum bekam sehr wert- 
volle orientalische Tlicher zu sehen. 



— 42 — 

dicker Vetter und sein diinner Vetter und die ganze Tischgesellschaft. 
Jedermann fleht alle an, ihn doch zu dem schweren Gang zu be- 
gleiten und befiehlt endlich seinen Knechten, seinen Goldschatz zu 
bringen. Den will er mit sich nehmen. Aber der Deckel der Truhe 
hebt sich und Mammon wird sichtbar, hohnend klart er Jedermann 
auf, dass er nur auf Erden zu tun habe, und so weiss Jedermann 
gar keine Begleitung mehr. Da rufen ihn mit schwacher Stimme 
seine guten Werke an, in einer Frauengestalt verkorpert, die sich 
vor Entkraftung garnicht vom Boden erheben kann. Er solle sie 
mitnehmen, sie werde ihm in den Tod folgen. Der Glaube erscheint, 
starkt Jedermanns Seele, sodass auch seine guten Werke sich erheben 
konnen und ihn unter Engelsgesang, verklart, gereinigt und gelautert 
in die himmlischen Spharen hinlibergeleiten. Der Teufel aber, der 
Jedermann schon sicher zu haben glaubte, hat voll Arger das Nach- 
sehen. 

Diese fromme Symbolisierung eines kindlichen Katholizismus 
hat Hofmannsthal in sehr anmutige Knittelverse gekleidet (bei denen 
mich nur manchmal die altertumliche Form storte, das „nit", das 
nicht ganz frei schien von wienerischem Schmalz). Das muss dem 
Dichter auf jeden Fall zugestanden werden, dass es ihm gelungen 
ist, durch eine raffinierte Szenenftihrung, die die Handlung ohne 
Unterbrechung abwickelt, das Werk dem modernen Geschmack 
geniessbar zu machen, wobei er, in richtiger Erkenntnis, dass hier 
alles auf Sinnenwirkung ankommt, dem Regisseur die Hauptaufgabe 
iiberliess. 

Die Regie fiihrte Albert Steinriick. Dieser Mann ist aus Rein- 
hardts Schule hervorgegangen. Er schliesst mit Wissen und Willen 
an Reinhardts Regiekunst an, und ihm ist es in „Jedermann" als 
Erstem gelungen, eine Inszenierung zu bewerkstelligen, die liber 
Reinhardts starkste Leistungen hinaus die vollendetste Theaterkunst 
die bisher gezeigt wurde, zustande brachte. Steinrlicks „Jedermann"- 
Einrichtung ist ein kaum mehr uberbietbares Meisterstuck theatra- 
lischer Regie. Theaterkunst ist namlich, was manchen Leuten noch 
gesagt werden muss, keine Reproduktion von Wirklichkeiten, sondern 
sinnfallige Gestaltung dichterischer Phantasie-Produkte. „Theater" 
auf der Blihne ist also kein Vorwurf, sondern, sofern es von Ge- 
schmack bedient ist, Aufgabe der Szenenkunst. 

Der Vorteil, fiber den Steinriick im Voraus verftigte, bestand 
in den riesigen Dimensionen der Blihne des grossen Hoftheaters 
und in der technischen Vollkommenheit ihrer Requisiten. Sein 
Verdienst besteht in der fabelhaft kiihnen, erfindungsreichen Aus- 
nutzung dieser Vorteile, und an dem Verdienst partizipiert der 
Hofrat Klein, dessen szenische Dekorationen jedem Theatermaler 
als Muster empfohlen werden sollten. 



— 43 — 

Die Bilhne war in drei Teile geteilt, die in Etagen hinter- 
einander aufstiegen. Durch Ueberdeckung des Orchesters war die 
Vergrosserung der Szene bis unmittelbar vor die Reihen der Zu- 
schauer erzielt und die Moglichkeit, handelnde Personen nach Be- 
lieben von unten herauf die Bilhne betreten zu lassen. Fur den 
Wechsel der Stimmungen sorgte die Beleuchtung, die zum Teil 
durch Scheinwerfer bewirkt wurde und stets nur einen Teil der 
Blihne, oft nur die Personen sichtbar werden liess. 

Als der Vorhang hochging, sah man einen leuchtenden Sternen- 
himmel und im Hintergrund der Blihne einen kathedralen Bau in 
drei Spitzbogen, der wahrend des ganzen Spiels das Szenenbild 
beherrschte. Die ganz irdischen Szenen spielten sich im unteren 
Teil der Biihne ab und die mystischen Vorgange im Mittelbau. 
Ganz besonders eindrucksvoll war das Festmahl Jedermanns, das 
mit prachtvoll gelungenen Reigenaufzugen begann, bis plotzlich 
unter der Gruppe der auseinandertretenden Giiste die lange ge- 
deckte Tafel stand, die weiss durch das Dunkel des Raumes 
leuchtete, wahrend jede Person, einzeln belichtet, sich wirksam vom 
schwarzen Hintergrund abhob. 

Die Erscheinung des Todes wahrend des Mahles war iiber- 
waltigend schaurig. In griinem Licht, wie phosphoreszierend stand 
er da mit sichtbaren Rippen, und wenn er den Mund auftat, glaubte 
man seine Zahne klappern zu horen. Wie Herr von Jacobi diesen 
Effekt hervorbrachte, muss ihm als eine Glanzleistung kiinstlerischer 
Maskierung angemerkt werden. 

Auch die Schlussszene war marchenhaft schon. In den schwarzen 
Spitzbogen der Kathedrale die Gestalten des Glaubens und der 
guten Werke, und zwischen ihnen einfache und lichte Engel. Die 
Gefahr, bei diesem Auftritt ins Kitschig-oldruckhafte zu entgleisen, 
wiirde erfreulicherweise durchaus vermieden. Etwas storend empfand 
ich das auf den Stufen zum Oberbau knieend gesprochene Vater- 
unser Jedermanns, das sentimental anmutete. Sonst trlibte nicht 
eine einzige Banalitat die kunstlerische Reinheit des volkstumlichen 
naiven Spiels. 

Das dankbare uneingeschrankte Lob, das dem Regisseur ge- 
btthrt, konnte nicht so aus vollem Herzen kommen, ware sein 
Werk nicht durch eine glanzende Auffiihrung zur vollen Geltung 
gekommen. Abgesehen von dem Prolog, der zum Gltick nur wenige 
Verse zu sprechen hatte, trat kein einziger Schauspieler storend in 
die Erscheinung. Die Hauptrollen aber waren so ausgezeichnet 
besetzt, dass die Zuschauer ununterbrochen fast zwei Stunden vor 
dem offenem Vorhang sitzen konnten, ohne die Empfindung eines 
erlesenen klinstlerischen Genusses zu verlieren. 



— 44 — 

Allen voraus ist Herrn Llitzenkirchens Jedermann zu rlihmen. 
Er war so, wie das Volk, das Jedermanns Marchen ertraumt hat, 
ihm sich vorgestellt haben mag: der protzige, selbsgefallige, aufs 
Aeusserliche gerichtete Mann mit der gelinden Bonhomie und 
irgendwo im tiefsten Innern dem braven Herzen. Am besten gelang 
ihm die Verzweiflung des reichen verwohnten Menschen daruber, 
dass plotzlich in seinem Ungllick alle von ihm abrilcken. Auch 
zuletzt als Busser zeigte er starkes Geflihl und gute Haltung. 

Von Herrn von Jacobi als Tod war schon die Rede. Seine 
Maske war ausserordentlich und sein Spiel sehr gut. Es tat wohl, 
dass er auf gekilnstelte Schauerlichkeit der Sprache, auf den dumpfen 
Gespensterton verzichtete. Er sprach klar, hart und eindringlich 
und tat damit seiner Rolle den besten Dienst. 

Frau von Hagen gab Jedermanns Buhlschaft einen dezenten lie- 
benswlirdigen Charakter, Herr Ulmer als Jedermanns guter Gesell 
wirkte besonders in der Szene, wo er ihm die Gefolgschaft kilndigt, 
sympathisch. Den Teufel spielte Herr Schwanneke sehr lustig, den 
Mammon Herr Graumann kraftig und gut. Als Schuldknecht fesselte 
der junge Herr Alten ungemein. Hier scheint sich ein starkes Talent 
zu entfalten. Dasselbe gilt von dem offenbar sehr begabten Fraulein 
Hohorst, das die guten Werke Jedermanns mit grosser Innerlichkeit 
und Warme verkorperte. Ganz besonders mochte ich auch Frau 
Conrad-Ramlo hervorheben. Das war Jedermanns Mutter, so er- 
greifend, so wahr und voll stiller Gute, wie sie in Jedermanns 
Gemilt lebt. 

Es macht grosse Freude, mit solcher Begeisterung liber eine 
Theater-Auffuhrung referieren zu konnen. Die Mlinchner Blihnen- 
leiter mogen daflir sorgen, dass ofter als bisher Grund zur Freude 
gegeben sei. 



Bemerkungen. 



Bonnot Gamier und Co. „Alles verstehen heisst alles verzeihen", 
sagt der Banause, wenn er grosszilgige Weltanschauung markieren 
will. Der Satz: „Alles verzeihen heisst nichts verstehen" dilrfte zu- 
treffender sein. Das schicke ich meiner Meinungsausserung ttber 
die merkwiirdigen Pariser Vorgange voraus, um dem Verdacht zu 
entgehen, ich mochte die Taten der sogenannten Automobilapachen 
dem Verstandnis guter Burger naherucken, um sie ihrer Verzeihung 
zu empfehlen. Der moralische Abscheu, mit dem der Ordnungsmann 
jegliche Entschuldigung jener Verbrecher, Morder und Banditen von 
sich abwehrt, ist vollig in der Ordnung. Gehe ein jeder seinem 
Tagewerk nach, zahle seine Steuern, verdamme die Uebeltater und 
freue sich, dass Gott ihn anders und nach bestem Wunsche 
geschaffen hat. 

Mir als dem Anwalt der Verstossenen mit dem Kainsmal an der 
Stirn wird man freundlichst eine abweichende Meinung iiber die 



— 45 — 

Taten Bonnots, Garniers und Co. zubilligen mlissen. Gewiss wunsche 
auch ich nicht, dass die bewaffnete Bankrauberei, werde sie auch von 
gestohlenen Automobilen aus und mit viel romantischem Beiwerk 
ausgeilbt, zur geltenden Umgangsform im Leben der Nationen aus- 
wachse. Aber mir scheint die Befurchtung tibertrieben, dass eine 
Sympathieausserung flir die, die dergleichen einmal unternommen 
haben, zur Nacheiferung anstacheln konnte. Was in mir flir die 
Pariser Rauber Sympathieregungen weckt, ist gerade das Bewusstsein, 
dass ihr Auftreten, ihr Vorgehen, ihr Ende vereinzelt bleiben muss, 
weil nur in vereinzelten Ausnahmemenschen die Verzweiflung an 
allem menschlichen Gehaben zu so phantastischer Entschlossenheit, 
zu einem solchen Grade klihner Selbstentausserung reifen kann. 

Der Staatsanwalt, der da aufgesprungen ist, moge sich wieder 
setzen. Ich denke nicht daran, zur Nachahmung von Taten aufzu- 
reizen, die niemals aus einer Anstachelung von aussen her geboren 
sein konnen. Genau so unsinnig ware die Annahme, warnendes Ab- 
raten hatte die Bonnot, Gamier, Vallet und ihre Gefahrten je hindern 
konnen, zu unternehmen was sie taten. Das waren Erledigte, die 
das Bewusstsein hatten, wie fertig sie waren. Am Wahnwitz der 
gesellschaitlichen Organisation Zertrummerte, die ihr Aufgehen im 
Nichts explosiv gestalten wollten. Und auf ihre Art waren es 
Helden: geschlagene Soldaten, die noch einmal in den Kampf gingen, 
in den Feind hineinhieben und ihrer Uebermacht sterbend erlagen. 
Keiner von ihnen hat sich ergeben, keiner ist der Polizei, dem 
Militar, der Justiz lebend in die Hande gefallen, — sie alle haben 
sich gewehrt bis zum Ende. 

Vom Idealisten zum Desperado ist nur ein kleiner Schritt. 
Bonnot, Gamier und Co. waren Idealisten, bis sie Enttauschte waren, 
bis sie — die Einzelnen — der ganzen Gesellschaft und ihrer waffen- 
starrenden Organisation, dem Staat, den Krieg erklarten, der nur 
mit dem Tode endigen konnte. Sie, die Verbrecher, die Rauber, 
die Banditen haben den Krieg gegen den frommen, braven Bruder, 
gegen die gesittete Gesellschaft, tapfer gefuhrt. 

Schlagt euer altes Testament auf und lest die ewige Legende 
nach von Kain und Abel. Hier habt ihr sie in moderner Auflage. 



Der Kampf mit dem Drachen. Der Parlamentarismus ware eine 
sehr hlibsche Einrichtung, wenn es keine Oppositionsparteien gabe. 
Man kame zusammen, nickkoppte und der Staatskarren liefe, wohin 
die Regierung ihn schobe. Manche Leute lassen sich aber immer 
noch in die Parlamente wahlen, um nicht regelmassig zu nickkoppen. 
Da kann naturlich die Wohlfahrt nicht gedeihen. Die arbeitswilligen 
Majoritaten miissen im Interesse der erspriesslichen Gesetzgeberei 
die grosse Schnauze durch die gepanzerte Faust erganzen. Als 
letztes Mittel, wenn kein anderes mehr verfangen will, ist ihr der 
Schutzmann gegeben. Er hat erst in Berlin und dann in Budapest 
gezeigt, dass seine Korperkraft das Serum ist, das die ewige Krank- 
heit, als welche sich Gesetz und Recht forterben, zu kurieren weiss. 
Auch in Strassburg, wo sogar die Majoritat nicht will, was sie wollen 
soil, kann es eines Tages Scherben geben. Elsass-Lothringen wird 
preussische Provinz, und die Widerspanstigkeit der reichslandischen 
Parlamentarier wird dem Berliner Schutzmann unterstellt. Auf diese 
Weise muss ja endlich Ordnung und gute Sitte das Land regieren. 



— 46 — 

Die Wahler sind nicht einverstanden? Sie fiihlen sich in ihr 
Staatsburger-Rechten beeintrachtrigt? Nicht doch! Ihnen bleibt ja 
die Freiheit, soviel Massenversammlungen einzuberufen, wie sie immer 
wollen Ihr Tatendrang darf sich in Protestresolutionen ausleben. 
Der Zahl ihrer Entrlistungsschreie wird von keiner Macht der Welt 
eine Grenze gesetzt. 



Die entsprechende Siihne. Munchen veranstaltet zur Hebung des 
Fremdenverkehrs jedes Jahr riesige Ausstellungen, Festspiele, Preis- 
kegelscheiben und ahnliche Anstrengungen. Um die Fremden mog- 
lichst rasch wieder los zu werden, schikaniert er sie mit der Polizei- 
stunde, schmeisst sie um drei Uhr aus alien offentlichen Lokalen 
heraus uud bewirkt in der Tat damit, dass die verargerten Besucher 
die im irrtiimlichen Glauben hergekommen waren. Munchen sei eine 
Grosstadt, das ungastliche Dreiviertelmillionen-Dorf in Massen wie- 
der verlassen. Will jemand die Flilchtlinge sehen, so begebe er sich 
von V24 Uhr frlih an zum Bahnhofrestaurant I. und II. Klasse. Er 
sei aber selbst Reisender, also mit einem gultigen Fahrtausweis aus- 
gerustet und in ehrlichem Gemlite willens, von seiner Fahrkarte Ge- 
brauch zu machen. Ausserdem wird sein Uebermut die entsprechende 
Siihne finden. 

Am 29. Februar „vormittags" gegen 3 Uhr fasste eine Gesell- 
schaft von vier Herren und einer Dame den Entschluss, ein nettes 
Beisammensein, das durch die Polizeistunde gestort wurde, noch 
auszudehnen. Ich gehorte zu dieser Gesellschaft. (Du lieber Himmel, 
am 29. Februar wird man doch auch mir mal eine unsolide An- 
wandlung verzeihen.) Da wir alle keine heiligere Pflicht kannten, 
als die, uns loyal in die behordlichen Anordnungen zu schicken, da 
wir ferner wussten, dass die einzige Moglichkeit, noch irgendwo zu 
bleiben, das Restaurant des Hauptbahnhofes bot und da wir auch 
die Bestimmung kannten, dass nur die ernsthafte Absicht, zu 
reisen, den Zutritt zu diesem Etablissement zu einer rechtlich unbe- 
anstandbaren Handlung erhob, kamen wir uberein, eine Reise zu 
unternehmen. Der Bahnschalter fur fernere Ziele war noch ge- 
schlossen und wir kauften Billete nach dem Sudbahnhof zum Preise 
von zehn Pfennigen. Als wir, ohne Boses zu trachten, vor unserer 
Tasse Kaffee sassen, erschien ein Beamter, teilte uns mit, dass der 
Zug zum Siidbahnhof soeben abgefahren sei, nahm uns die bei der 
provisorischen Sperre vor den Restaurationsraumen durchlochten 
Fahrkarten ab und hiess uns das Lokal verlassen. Eiligen Schrittes 
verliessen wir es und ersinnen einen neuen Reiseplan. Fur je 20 
Pfennige erstanden wir Billete nach Obermenzing und waren nicht 
unzufrieden, als uns der Schalterbeamte daraufhinwies, dass wir den 
Zug, der 4" iuhr, nicht mehr erreichen konnten und dass der nachste 
Zug erst 5" abgehe, da der Dachauer von 4 s2 nicht in Obermenzing 
halte So hatten wir eine gute Stunde Zeit, uns der Vorfreude hin- 
zugeben, einen Spaziergang zu planen, der uns iiber die Pasinger 
Landstrasse an Neulustheim vorbei, wo mir personlich immer senti- 
mentale Betrachtungen rege werden, durch den Nymphenburger Park 
zur Linie 1 der Miinchener Elektrischen gefuhrt hatte und inzwischen 
noch eine Tasse Kaffee zu trinken — Die Sache ging ttbel aus. 
Einige Wochen spater hatten wir Strafbefehle und sollten je acht 
Mark zahlen wegen Vergehens gegen die Eisenbahnbetriebsordnung. 
Hier sind einige Satze aus dem Schoffengerichtsurteil, das wir im 



— 47 — 

Bewusstsein unserer Unschuld auf dem Berufungswege herbeifuhrten. 
Sie werden dem Leser den Verlauf der Tragodie sinnfalliger vergegen- 
wartigen, als ich es in meinem Schriftsteller-Dialekt zuwege brachte: 

„Die Angeklagten fuhren aber mit dem um 4 Uhr 25 Min. nach 
Obermenzing abgehenden Zug nicht fort" (weil wir, wie gesagt, die 
Billete erst losten, als der Zug schon unterwegs war) „und wurden 
nach Abgang des Zuges um 4 Uhr 52 Min " (der wie gesagt in Ober- 
menzing nicht anhalt) „noch im Wartezahl zechend" (Kaffee zechend) 
„angetroffen. Es wurde deshalb von Seite der Schutzmannschaft 
mit Anzeigeerstattung gegen die Angeklagten vorgegangen." 

„Reisender" im Sinne dieser Bekanntmachung ist nur derjenige, 
welcher im Besitze einer giltigen Fahrkarte sich befindet und zu- 
gleich auch den Willen und die Absicht hat" (beides ist notwendig !) 
wirklich wegzufahren." (Die Absicht nach Obermenzing zu reisen, 
glaubte uns das Gericht, die, auch den Siidbahnhof zu besuchen, 
nicht.) 

„Die unhaltbaren Zustande im hiesigen Hauptbahnhofe, mit 
denen sich die Gerichte wie die Presse schon seit Jahren beschaf- 
tigten" (der Satz ware vielleicht noch besser zu stilisieren gewesen) 
„fuhrten im Interesse der Erhaltung des Ansehens einer Fremden- 
stadt zu der obigen auf den ersten Anschein vielleicht zu hart er- 
scheinenden Massnahme, da es sonst nicht moglich war, lichtscheues 
Gesindel und betrunkene Kneiper vom Hauptbahnhofe fern zu 
halten" (Die Idee, andere Lokale zu offnen, liegt allerdings ganz fern.) 

„Die Rechtswidrigkeit des Zutritts zum Wartesaal konnte nur 
dann mit Erfolg in Zweifel gezogen werden, wenn die Angeklagten 
heute behauptet hatten, sie wurden erst nach Betreten des Warte- 
saals den anfanglich ernstgefassten Gedanken, nach dem Siidbahnhof 
zu fahren, wieder aufgegeben haben." (Eine dankenswerte Anregung.) 

„ . . . einer oberpolizeilichen Vorschrift ilber Aufrechterhaltung 
der Ordnung in den Bahnhofen zuwidergehandelt zu haben" „..er- 
scheint unter Berilcksichtigung der Vermogens- und Einkommens- 
verhaltnisse eine Geldstrafe von je drei Mark als entsprechende 
Suhne". („Im Falle der Uneinbringlichkeit" werden wir statt dessen 
einen Tag in Stadelheim zubringen dttrfen.) 

Schade um den Taler. Jedenfalls wissen wir aber jetzt, warum 
man in Miinchen zwischen 3 und 6 Uhr nachts keinen Raum findet, 
wo man gesellig sitzen und etwas gemessen kann: „Im Interesse der 
Erhaltung des Ansehens einer Fremdenstadt." 



GeburtstagSgrusse. Allmahlich kommen die, die einst „das jiingste 
Deutschland" hiessen, zu grauen Haaren. Manche von ihnen liegen 
langst unter der Erde: Hermann Conradi, Otto Erich Hartleben, 
Otto Julius Bierbaum, Heinrich Hart, Liliencron und Peter Hille 
(dessen gewaltige dichterische Potenz die Welt noch einmal ein- 
sehen wird). Andere sind weit ilber die fiinfzig hinaus und nicht 
alle von ihnen haben sich so jung erhalten, wie der tapfere M. G. 
Conrad. Die meisten wurden in den Jahren 1862 — 65 geboren und 
jetzt werden wir viele fiinfzigste Geburtstage zu feiern bekommen 
und den Gefeierten wiinschen, dass sie mit diesem Tage noch nicht 
in die Schar der Jubilaumsgreise eintreten mogen. 

Im Mai war Artur Schnitzler an der Reihe, unter den Oester- 
reichern die erfreulichste Erscheinung. Ein feiner, kluger Geist, sehr 
differenziert, sehr empfindsam, sehr geschmackvoll. Das ist das 



— 48 — 

Wertvollste an Schnitzler, dass er sichtbar immer noch im Aufsteigen 
ist. Sein letztes Drama „Das weite Land" gehort zu den starksten 
Buhnenwerken, die in den letzten Jahren uberhaupt geschrieben wurden. 
Man muss sich der Gelegenheit freuen, solchen Mann grussen zu diirfen. 
In diesen Tagen wird Johannes Schlaf funfzig, einer der Weg- 
macher der „Modernen". Auch der ist noch im Werden und das 
mag der Grund sein, weshalb man ihn seit geraumer Zeit lange nicht 
mehr genilgend schatzt. Der deutsche Literaturphilologe ist ge- 
wohnt, jeden, der ihm in die Fange gerat, auf eine Note festzulegen. 
Er nimmt es personlich libel, wenn sich einer nicht mehr in die 
Schablone schicken will Schlaf hat seine naturalistische Programm- 
richtung langst hinter sich gebracht. Er ist sehr eigne und sehr 
merkwurdige Wege gegangen. Ueber das Drama, die Novelle und 
den Roman hinweg — und was er Feines und Starkes als Dichter 
geleistet hat, das soil ihm unvergessen bleiben — hat er sich als 
philosophischer und naturwissenschaftlicher Kritiker versucht. Ich 
teile seine Ansicht liber Nietzsche garnicht, aber die Eigenheit der 
Gedanken und die Eindringlichkeit der Argumente sollten Schlaf 
vor dem ironischen Geklaffe der Kleineren schiltzen. Vor nicht 
langer Zeit unternahm er es, das Kopernikanische System anzu- 
greifen. Der Deutsche Burger brach in Hohnlachen aus. Der 
deutsche Burger, der zwar keine Ahnung von Astronomie hat, weiss 
namlich ganz genau, dass das, was Kopernikus gesagt hat, letzte 
und unumstossliche Wahrheit ist. Ich kann weder Kopernikus noch 
Schlaf kontrollieren, ich erinnere mich aber, in der Schule gelernt 
zu haben, dass auch Kopernikus mit seinen Behauptungen einigen 
Zweifeln begegnet sein soil. Ich wlinsche Johannes Schlaf noch 
lange Jahre das jugendliche Draufgangertum, das den Burgers- und 
Zeitungsmenschen so unsympathisch ist. 

Maria im Rosenhag. Das Kausen hat Malheur gehabt. Es hat 
ein gutes Buch empfohlen: allerdings nur im Inseratenteil. Alexander 
von Bernus hat im Karlsruher Dreililien-Verlag ein Buch erscheinen 
lassen: „Maria im Rosenhag". In sehr hubschen leichten Versen 
wird da die Gottesmutter angesungen, und zwar in einer graziosen, 
heiter-anmutigen Verschmelzung ihrer christlichen Gestalt mit der 
heidnischen einer Liebesgottin. Maria als Schirmmutter der geistigen 
und der sinnlichen Liebe — das ist die ethische Idee des Buches. 
Es ist nicht unerfreulich, wenigstens unter den Annoncen der 
„Allgemeinen Rundschau" auch Literatur empfohlen zu sehen, wie sie 
das Kausen gewohnlich im redaktionellen Teil zu sittlichen Ekstasen 
aufpeitscht. Ein Gedicht schliesst: 

Uns verfiihren tausend Sterne 

und der Duft verhangner Blaue 

in die buhlerische Ferae, 

wie ihr Grund auch totlich draue. 

Dass wir flirder nicht wie Diebe 

unserer Stunde warten mlissen, 

lass uns Du in jeder Liebe 

immer Deine Lippen klissen." 

Hoffentlich tibt das Inserat in der Allgemeinen pornographischen 

Rundschau einige Wirkung aus. Es kann auch Kausens Lesern 

nicht schaden, einmal bessere Verse in die Finger zu bekommen, als 

die gewohnten lyrischen Ausschleimungen hirnverstopfter Landpfarrer. 

Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Monchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Mdnchen, Baaderstr. la. Tei.2355 



JvAlJNj xlClt 1. I nh alt: Anarchistisches Bekenntnis Miinch- 

ner Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. — 
Die Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchner Post". 
— Die Tugend hat gesiegt. 

KAIN, Heft 2. In halt: Politisches Variete. — Tagebuch 
aus dem Gefangnis. — Der hiesige Zensor. — „Titanic." — 
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem „Krater". 



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bei Empfang der ersten Nummer. 

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JahrgangIL No. 4. Juli 1912 

KMN 

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Inhalt: Die Presse. — Tagebach aas dem Gefangnis. — Bemer- 
kungen. — Kritinismus. — Neues von der Theaterzensur. 
— Die Polizeiassistentin. — Zeppelins Pech. — Saccharin. 



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den, illustrierten Bandes heben wir hervor: 

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Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammern des Staates. — 
Aufruf der Internat. Antimilitarischen Assoziation: An die Rekruten Frank- 
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Staate. — Otto Karmin: Syivain Marechal und die Verse hworung der 
Gleichen, — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses 
zwischen J deal und Wirklichkeit — Andreas Kleinlein: Der Syndikalismus 
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis: Aus dem Leben eines revo- 
oo lutionaren Kampfers etc. etc. oo 



Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1 — , bei Bezug von 3 Exempl. fur 

insges. Mk. 2.25. 

Samtliche Geldsendungen richte man an : 

Rudolf Grossmann, Klostemeuburcj (bei Wien) 

Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich. 



Jahrgang II. Miinchen, 

No. 4. Mi 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

■ IH T'l 1 I It t t I ■, l-l >>■< I < I I < I it I I > I- < II II < II >.4. <■ > t ,|..|, | ,« .< I I | J 4 I It |.|..|.l.l..|.l,l..|,.l 

„ K A I N " erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt 
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs ) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 
Miinchen. Baaderstrasse la 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

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Die Presse. 

Es war sehr schon. Von Westen und Osten, von links 
und rechts waren sie herbeigestromt und hatten in Miinchen 
ihren Kongress. Viele viele Reden wurden gehalten. Die 
iiberm Strich sprachen und die unterm Strich, die Mittag- 
und Abendzeitungen sandten Redner aus und es redeten 
auch die heiligen Konige aus dem Morgenblatt. Alle aber 
priesen ihre hohe Mission, alle fanden des Riihmens kein 
Ende, wenn sie die Kulturbedeutung der Presse erorter- 
ten, aus jeder Rede floss triefendes Lob auf die verdienst- 
liche Tatigkeit der Zeitungen und olige Zufriedenheit iiber 
die eigne erspriessliche Leistung. Es war als ob sich ein 
Bonze wohlgefallig auf den Bauch klopfte. 

Die Generale der siebenten Grossmacht (oder ist's die 
achte? Ich habe kein Schmocklexikon zur Hand), die ein- 
ander auf dem Schlachtfeld der offentlichen Meinung mit 
jedem erreichbaren Stinkgeschoss zu bombardieren pflegen, 
nannten sich gegenseitig „Herr Kollega" und schrieben in 
den kongressfreien Stunden Berichte iiber die Einmiitig- 
keit der deutschen Journalisten und die laufenden Artikel, 
in denen der Verhandlungsbruder unter moglichster Ver- 



— 50 — 

meidung des Sauherdentons als Schurke, Verleumder, Gau- 
ner und Ehrabschneider hergerichtet wurde. Es waren 
erhebende Tage. 

Nun ist es ja gewiss hiibsch, wenn sich der Kampf der 
Meinungen, der Widerstreit von Ueberzeugungen und Kul- 
turidealen auf einem so hohen Niveau abspielt, dass die 
Streitenden niemals den Respekt vor der ehrlichen Gesin- 
nung des Gegners verlieren. Es ist ein Zeichen wirklichen 
Anstands, wenn Manner, die ein Abgrund von Ideen trennt, 
sich gleichwohl freundlich die Hand reichen, weil jeder 
im andern den Idealisten wiirdigt, als der er selbst einge- 
schatzt werden will. Es ware ein Ziel, aufs Innigste zu wiin- 
schen, wenn jede Ansicht so scharf wie nur moglich, aber 
sachlich und ohne Gehassigkeit verfochten wiirde, und 
wenn jede Person, die sich vor eine Sache stellt, gegen Ver- 
unglimpfung und Verdachtigung gefeit ware. 

Ich habe mien oft gefragt, warum wohl die Presseleute, 
wenn sie polemisch werden, niemals sachlich bleiben kon- 
nen, warum sie niemals eine gegnerische Meinung bekam- 
pfen, sondern immer nur den Gegner, und warum diese 
Sitte in alien Lagem ohne Unterschied der Partei und der 
Konfession geiibt wird. 

Der Grund durfte im politischen Charakter aller Zeitun- 
gen ruhen. Tun wir der Politik einmal die Ehre an, sie als 
geistige Disziplin zu werten und ihr eine Definition zu 
suchen, gegen die der stolzeste Politiker nichts einwenden 
wird, so konnen wir (mit gutmiitigem Schmunzeln) zu- 
geben: Politik ist die Wissenschaft von den realen Notwen- 
digkeiten. Darin liegt aber die Feststellung eingeschlossen, 
dass Politik etwas ist, was am Tage klebt, was jedes Zu- 
sammenhangs mit ewigen Dingen bar ist, was nicht die 
Menschheit, sondern die Leute angeht. 

So ist denn jeder politische Streit ein Streit von Person 
zu Person. Die Sache, um die er geht, ist identisch mit ge- 
wissen Menschen, die denn doch allemal zu wenig Person- 
lichkeit sind, um mit ihren Namen eine die Zeit iiberstrah- 



— 51 — 

lende Idee reprasentieren zu konnen. Die Kleinheit der 
Objekte rechtfertigt die Auffassung, die in der Beseitigung 
der Subjekte die Entscheidung des Kampfes erblickt. 

Hinter alien politischen Redereien, Schreibereien und 
Tuereien fehlt die ethische Riickenlehne. Sie verbog sich 
bei den Verrenkungen der Streiter, bis sie im Zank um die 
diirftigen Realitaten der Alltagsrempeleien vollig abbrach. 
Die Journalistik weiss von jeher den politischen Drehsche- 
mel am gelenkigsten zu handhaben, da die Anonymitat,' aus 
der heraus sie mit vergifteter Tinte um sich spritzt, d;e Per- 
son des Schreibers jeder ethischen Verpflichtung enthebt. 
Jahraus jahrein beschimpft einer den andern auf das Un- 
flatigste, — wo sie sich aber bei Kongressberatungen zu- 
sammenfinden, wissen sie, dass sie einander wert sind, dass 
keiner dem andern eine Riipelei schuldig geblieben ist, und 
sie sind einig, dass das Lesepublikum durch den hohen Kul- 
turfaktor der Presse nach gemeinsamen Grundsatzen er- 
zogen werden muss. 

Die Grundsatze der Abonnentenerziehung bestimmen 
sich aus der Abschatzung, welches Quantum Tatsachen- 
kenntnis aus dem Schatz des Journalistenwissens dem 
Zeitungsleser zutraglich ist. Derm Tatsachenkenntnis ist 
das einzige, was der Spaltenfuller abzugeben hat, seine 
Schriftstellerei ist Reportage, — was dariiber hinausgeht, 
sind Brockhaus-Exzerpten. Man will also aus padagogischen 
Bedenken mit den Mitteilungen ans Publikum haushalten. 
Die Nachrichten, fiir deren Registrierung der Abonnent 
zahlt, sollen erst eine Redaktions-Zensur passieren, damit 
der Auftraggeber der Zeitung nicht etwa an seiner Seele 
Schaden leide. 

Wir konnen somit in der Entwicklung des Gegenseitig- 
keitsverhaltnisses zwischen Presse und Publikum eine ganz 
ahnliche Erscheinung beobachten, wie in der Beziehung 
zwischen Polizei und Publikum. Urspriinglich war die 
Polizei das dienende Organ der Bevolkerung, das zur Be- 
quemlichkeit des offentlichen Verkehrs auf Anordnung der 



— 52 — 

Biirger gewisse praktische Handreichungen auszufiihren 
hatte. Allmahlich verschob sich das Verhaltnis. Die Po- 
lizei ordnete sich den offentlichen — und weiterhin auch 
den privaten Verkehr der Menschen in einem Grade unter, 
dass das auftraggebende Biirgertum zum gehorsamen 
Eleven der behordlichen Schneidigkeit wurde. Heute wagt 
der freie Mann nicht mehr, einen personlichen Entschluss zu 
fassen, ehe er nicht die Erlaubnis der hohen Polizei einge- 
holt hat. 

Die Presse hat von Natur aus den Beruf, iiber die Dinge, 
die in aller Welt Anspruch auf allgemeine Aufmerksamkeit 
haben, Berichte einzusammeln, sie zu vervielfaltigen und 
denen, die sich darauf abonnieren, zuganglich zu machen. 
Jeder weiss, dass diese Aufgabe heutzutage nirgends mehr 
als Beruf der Zeitungen angesehen wird, und dass die Ta- 
gesblatter langst zu Agenturen teils ihrer politischen In- 
spiratoren, teils ihrer unpolitischen Inserenten geworden 
sind. Der Abonnent, der Leser, der Auftraggeber wird 
zum Parteiganger der Politiker und zum Kunden der annon- 
cierenden Geschafte erzogen. Um ihn aber erziehen zu 
konnen, muss er beaufsichtigt und bevormundet werden. 
Die Presse macht sich zu seinem Mentor und Verfugt, was 
er wissen darf und was ihm verheimlicht werden soil. 

Bei der Miinchener Tagung kam man iiberein, die Zen- 
surtatigkeit der Redaktion in erhohtem Masse der Gerichts- 
berichterstattung angedeihen zu lassen. Der Leser soil vor 
dem verseuchenden Einfluss kriminalistischer Sensationen 
behiitet werden. Ein hohes Ziel. Doch scheint die Frage am 
Platze, mit welchem Koder man derm kunftighin das Pub- 
likum zur Lektiire der pohtischen Stimmwerbung und der 
geschaftlichen Inserate anlocken will. Die tatsachlichen Mel- 
dungen zeithistorischer Ereignisse, die einstmals all in 
ihrer Niichternheit das einzig bestimmende Moment zur 
Ausgabe der Zeitungen war, ist von der Journalistik nach 
und nach soweit zur Nebensache gemacht worden, dass 
auch beim Zeitungsleser selbst das Bediirfnis, sachliche 



— 53 — 

Neuigkeiten zu erfahren, mehr und mehr dem Hunger nach 
sensationellem Unterhaltungsfutter gewichen ist. Die Auf- 
takelung realer Vorgange mit gruseligen Detailschilderun- 
gen ist zu selbstverstandlich geworden, um in neuigkeits- 
liisternen Zeitgenossen noch nachhaltige Erregungen her- 
vorrufen zu konnen. Auch die Wettjagd der Presse um den 
Schnelligkeits-Rekord telegraphischer Nachrichten, die 
langst der Fixigkeit eine wichtigere Bedeutung als der Rich- 
tigkeit verliehen hat, bewegt viel weniger den Abonnenten 
als den Redakteur. 

Das sicherste Mittel, das Publikum in empfanglicher 
Laune zu halten und damit den Erziehungsabsichten der 
Presse zuganglich zu machen, bietet immer noch die Aus- 
breitung schmutziger Privatwasche an offentlichen Trocken- 
leinen. Den Nachbarn in Situationen zu beobachten, in 
denen er unbeobachtet sein mochte, bereitet dem Burger 
jedes Standes am zuverlassigsten den Kitzel, den herbeizu- 
fuhren im Interesse der padagogischen Tendenzen der 
Zeitungen liegt. Der Ort aber, wo die Unterkleidung der 
Nebenmenschen vor aller Blicken umgewendet und in eine 
Beleuchtung gehangt wird, die jeden Flecken transparent 
plakatiert, ist der Gerichtssaal. Und die Presse sollte plotz- 
lich darauf verzichten wollen, die forensischen Entklei- 
dungsszenen der Justizprozesse ihren Abonnenten im dra- 
matischen Film vorzufuhren? Sie wird nicht. 

Die Presse kann garnicht auf die ausfuhrliche Repor- 
tage sensationeller Gerichtsverhandlungen verzichten, 
selbst wenn sie mochte. Denn die Gewohnung der Zei- 
tungsleser an eine ununterbrochene chronique scandaleuse 
muss ihr wichtig sein, weil nur sie ihr die Moglichkeit gibt, 
die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Privatleben ge- 
sinnungsfeindlicher PersonUchkeiten in ihre pohtische Be- 
rechnung zu stellen: worauf ja wiederum der Erziehungs- 
eifer der Journalistik abzielt. 

Man wird meine Bemiihungen um die psychologische 
Ergriindung des Pressecharakters gehassig schelten. Man 



— 54 — 

wird einwenden (nicht in offenflicher Polemik, sondern in 
stiller Einkehr. Derm mit Herrn Miihsam polemisiert man 
nicht), dass bei der Orientierung der Leser erziehliche Er- 
wagungen geboten seien, da gerade die im Konkurrenz- 
kampf entwickelte Mannigfaltigkeit des Zeitungsinhalts den 
Redakteur mit einer kaum ertraglichen Verantwortlichkeit 
gegen das allgemeine Wohl belaste. Seine exponierte Ta- 
tigkeit drange den Joumalisten als Fiihrer vor die Massen, 
und er habe Sorge zu tragen, dass die allgemeine Moral, 
wie sie alle Volksklassen und alle Religionsgemeinschaften 
anerkennen und wie sie in der Bergpredigt ihren bestge- 
formten Ausdmck findet, nicht ins Wanken gerate. — Man 
wird mit seinen Einwendungen kein Gliick haben. 

Es ist keineswegs meine Absicht, der bestehenden 
Presse neue Bahnen fur ihre Wirksamkeit anweisen zu 
wollen. Je ne juge pas, je constate. Falls in meinen Fest- 
stellungen die eine oder andere Wendung wie ein Vor- 
wurf klingt, so wird man das der gelingen Scham zugute 
halten miissen, dass die Bespiegelung des Instituts, das zum 
Nutzen vermehrter Kultur helfen konnte und miisste, ein 
gar so trauriges und hassliches Bild zeigt. Gerade das ist ja 
der Kem meiner Konstatierungen, dass den Joumalisten das 
Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit so durchaus fehlt, und 
dass diejenigen, die fur die Oeffenflichkeit schreiben, keine 
entfemte Vorstellung von der furchtbaren Resonanz des ge- 
druckten Worts haben. Wollte ich Vorwiirfe erheben, so 
ware dies der starkste: dass die Presse nicht schon immer 
durch eine bescheidene Objektivitat auf den Geschmack und 
den Anstand der Menge erzieherisch gewirkt hat und 
dass sich ihre Vertreter in unbescheidener Anmass- 
ung zusammensetzen, um die von ihr im Publikum 
grossgezogene Geschmacklosigkeit, Indolenz und Sensa- 
tionsgeilheit mit dem Erziehungsbakel wieder auszutreiben. 

Mit ernster Emporung aber muss es zuriickgewiesen 
Werden, wenn jene Herren sich fur ihre skandalfrohe 
Orientierungstatigkeit auf eine sittliche Mission berufen, 



— 55 — 

Dazu hat kein Recht, wer Trager fremder Ideen mit per- 
sonlichem Unrat bewirft. Christliche Ueberzeugungen 
stehen dem schlecht an, dem seine eignen Ueberzeugungen 
so wenig heilig sind, dass er von fremden nur mit hami- 
scher Verdachtigung reden kann. Das Kreuz wird zur 
Farce, wenn es als Geschaftsemblem vor einen Laden ge- 
nagelt wird. Die Gestalt des Begriinders des Christentums 
scheint mir bespieen und beschmutzt, wenn ich die Soldner 
der offentlichen Meinung mit seinen Worten hausieren 
gehen sehe. Werden sie ethisch, so bringen sie ihre 
schmalzigen Verlogenheiten, als kamen sie eben von einer 
Interview mit Jesus Christus und spielen sich auf als seine 
Jiinger und als Hiiter seines Vermachtnisses. Ach, Herr- 
schaften, es gibt noch gewisse Unterschiede zwischen einem 
Essaer und einem Essaysten . . . 

Ob der Miinchener Pressetag den Erfolg haben wird, 
dass nun wirklich in den Berichten iiber Prozessverhand- 
lungen die Bettwasche der Beteiligten etwas vorsichtiger 
bestrahlt werden wird als die Unterhosen, das scheint 
wenig belangvoll. In den Leitartikeln und im Feuilleton, im 
lokalen Teil und in den faits divers wird alles beim alten 
bleiben. Die gute Beziehung zum Inseratenteil und zu den 
politischen Einblasern wird nach wie vor das Leitseil sein, 
an dem die Kritik der offentlichen Dinge ans Licht krabbeln 
darf. Die Erziehung des Publikums zu unbedingter Autori- 
tatsglaubigkeit wird — zum Heile der Staaten — vomehmste 
Aufgabe der Publizistik bleiben, und die Stimmungsmacher 
selbst werden je nach Parteirichtung einander auch ferner- 
hin als Schurken, Verleumder, Gauner und Ehrabschneider 
traktieren, bis ein neuer Kongress sie alle zu neuer Gemein- 
samkeit zusammenfuhrt. 

Wer es aber wagt, abseits zu stehen, Ansichten zu 
haben, die in die Tiefe greifen, sich den Stecknadel- 
Scharmutzeln der Tagesschreiber zu entziehen, um fur 
einen besseren Kampf starkere Waffen zu Schmieden, den 
werfen sie in wohlverstandener Solidaritat als Auswurf des 



56 



Auswurfs vor die Saue. Er wird sich aber nicht hindern 
las sen, seinen Weg vorwarts zu gehen und es fur eine kul- 
turvolle Aufgabe zu halten, der offentlichen Meinung von 
Zeit zu Zeit mit Vehemenz in die Presse zu schlagen. 



Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Am Nachmittage schrieb ich noch eine Reihe von Briefen Denn 
der Inspektor hatte mir fur mein Geld ausreichend Konzeptpapier 
nebst Kuverts und Briefmarken holen lassen. Besonders hob sich 
meine Laune durch den schwarzen Kaffee mit zwei Buttersemmeln, 
der nachmittags kam, wie denn uberhaupt meine Stimmung seit der 
Einflihrung der Selbstbekostigung wesentlich besser geworden ist. 
Aber Zigarren hatte ich an diesem Abend nicht, und ich war un- 
gliicklich, mir von den zweien, die ich am Abend vorher geraucht 
hatte, nicht eine reserviert zu haben. 

Am folgenden Morgen (Dienstag, den 2. November) berichtete 
mir Giesmann, der auf Anordnung des Oberaufsehers meine Zelle in 
Ordnung zu halten hatte, wahrend er den Topf aus dem ,,Leibstuhl" 
nahm, dass oben im dritten Stock eine sehr schone Zelle — Nr. 48 
— leer geworden sei, die ein grosses Fenster habe und „bald so 
scheen wie ne Ufseherzelle" sei. Ich hatte ihm gegentiber namlich 
schon liber das schlechte Licht geklagt und nahm mir vor, den 
Inspektor um die Zelle 48 zu bitten. Es gebe dort auch einen Stuhl 
mit Ruckenlehne. Auf den Umstand, dass meine Klappbank ohne 
Lehne war, ftihrte ich einige Ruckenschmerzen zurlick. Ich be- 
schloss, den Versuch, die bessere Zelle zu kriegen, jedenfalls bei der 
nachsten Gelegenheit zu unternehmen. An diesem Vormittage kamen 
auch zwei schone Decken und ein weiches Kopfkissen an, die mir meine 
Geschwister auf Caros Anregung schickten. Es lagen mehrere Aepfel 
und Birnen bei, die ich mit Giesmann teilte. Er half mir dafiir, 
die Decken auf das Lager zu legen. Von der nachsten Nacht an lag ich 
nun in der Tat erheblich weicher, aber besser schlafen kann ich bis 
jetzt immer noch nicht. An diesem Tage begab sich nicht viel 
Bemerkenswertes. Nur brachte mir Caro, als er mittags kam, gerade 
als die Frau mein Essen brachte, das ich nun im Biiro stehend zu 
mir nahm, zwei Bucher mit: Paul Scarron „Der Komodiantenrornan", 
ilbersetzt und herausgegeben von Franz Blei, und Aage Madelung 
„Jagd auf Tiere und Menschen", beide aus dem Besitzstande von 
Rudolf Kurtz. Caro berichtete, dass er sich mit Justizrat Bernstein 
in Verbindung gesetzt habe, der zur Zeit in Berlin sei und im 
Palasthotel wohne. Diesen Bescheid habe er telephonisch aus seiner 



— 57 — 

Munchener Kanzlei erhalten und nun habe er ihn dort angerufen. 
Bernstein habe sich gleich interessiert gezeigt und wolle, sobald 
er in Mlinchen sei, meine Angelegenheit dort personlich fordern, sie 
inzwischen aber seinem Kollegen dort ubergeben. Im ubrigen werde 
Bernstein mich wohl den nachsten Tag im Gefangnis aufsuchen. 
Bis jetzt ist er freilich noch nicht gekommen, steht aber nun fur 
morgen (Montag) vormittag mit Caro zugleich in Aussicht. — Ich 
benutzte die Gelegenheit meiner Anwesenheit im Bilro, vor dem 
Inspektor meine Bitte um eine andere Zeile zu unterbreiten. Dabei 
sagte ich nichts von meiner Kenntnis ilber die Zelle 48, sondern 
iiberliess es ihm, davon anzufangen. Das tat er denn auch, indem 
er zuerst meinte, die Zellen seien ja alle gleich, dann aber wohl- 
wollend fortfuhr: „Na, ich will mal sehen, ob wir nicht oben die 
Erkerzelle kriegen konnen. Da ist sehr schones Licht, und wenn es 
geht, bringe ich da immer die besseren Gefangenen unter". So 
war ich also von Amts wegen als „besserer Gefangener" anerkannt, 
was mir umsomehr Mut gab, noch einmal wegen den Zigarren anzu- 
bohren. Der Inspektor wolle nicht gern darauf eingehen, sagte mir 
aber schliesslich zu, er wolle mir, statt aus meinem Vorrat Zigarren 
herauszugeben, lieber extra welche holen lassen. Ich stimmte dem 
mit Vergnugen zu und bat ihn, da ich ja doch hochstens zwei am 
Tage rauchen dlirfe, mit meinem Gelde nicht sparsam zu sein, und 
recht gute, grosse und schwere Zigarren kaufen zu lassen. 

Ich las an diesem Nachmittage den „Komodiantenroman", ein 
dickleibiges Buch zur Halfte durch. Ein kostliches Werk aus der Zeit 
des ancien regime. Die Erlebnisse einer reisenden Komodiantentruppe, 
von einem lebenslustigen, liebenswlirdigen franzosischen Abbe erzahlt, 
dessen personliche Randbemerkungen und muntere Milieu- und Per- 
sonenschilderung, die glanzende Anordnung der Kapitel und die ein- 
gestreuten Novellen das Buch zu einem der graziosesten und 
unterhaltsamsten machen, die ich kenne. Der Anfang, wie die sonder- 
bare Truppe in Mans einrlickt, erinnerte mich lebhaft an den Beginn 
des neuen Romans von Heinrich Mann „Die kleine Stadt", woraus 
er Hardekopf und mir in Mlinchen ein Kapitel vorlas, und dessen 
Einleitungskapitel er in einer offentlichen Vorlesung im Saal des 
Neuen Vereins mitteilte. Es ware sehr mein Wunsch, dies Buch, das 
dieser Tage erscheinen soil, in meine Zelle zu bekommen. — 
Gegen Abend kam der Inspektor zu mir herein und reichte mir eine 
Tlite mit funf prachtigen, grossen, dicken, mit pomphafter Leibbinde 
gezierten Zwanzigpfennig-Zigarren. Er gab sie mir mit einer gewissen 
zurilckhaltenden Vorsicht, indem er mich ermahnte, sie moglichst nicht 
vor andern sehen zu lassen. Er .... stehe in unerhorter Weise 
unter Aufsicht seiner eigenen Unterbeamten, die ihm sehr gern am 
Zeuge flickten. Jedenfalls dtirfe ich immer erst abends rauchen, 



— 58 — 

wenn schon Licht gemacht ist. Wenn der Aufseher mal dazu kame, 
soil ich ihm ruhig sagen, er, der Inspektor, habe mir die Zigarre 
gegeben. Denn Durchstecherei sei das nicht, und er stehe 
dafiir ein, mochte sich aber unnotige Scherereien vom Leibe halten. 
— Ich konnte die Zeit kaum erwarten, dass man mir die Lampe 
anzlindete. Dann rauchte ich eines der neuen Kleinode mit unermess- 
lichem Behagen, — aber nur eins, und ich muss mich rlihmen, dass 
ich seit diesem Tage jeden Abend nur eine einzige Zigarre geraucht 
habe, deren Stummel ich dann auf das Brett des Leibstuhls lege, 
wo Giesmann ihn fortnimmt, um sich Zigaretten davon zu machen. 

Am folgenden Morgen klingelte mich die Hausglocke zu einem 
sehr regnerischen Tage wach. Vielleicht werden mir sparer, wenn 
ich diese Aufzeichnungen unter normalen Verhaltnissen wieder durch- 
lese, die Ereignisse an diesem Mittwoch garnicht besonders be- 
deutungsvoll vorkommen. Aber die Relativitat aller Dimensionen 
und Werte stellt auch die Sonderung des Wichtigen vom Irrelevanten 
unter die Entscheidung der variablen psychischen Impressionen. 
(Fortsetzung folgt.) 



Bemerkungen. 



Kritinismus. In meinen Theaterberichten im „Kain" war ich 
schon verschiedene Male genotigt, die Mlinchener Theaterkritiker 
eines bedauerlichen Mangels an Uebersicht und Urteil in ihrem 
Spezialfach zu zeihen. Mancher konnte meinen, dass die Herren (sowie 
die Dame) in ihrer Tatigkeit wenig Gelegenheit finden mochten, posi- 
tiven Schaden anzurichten. Leider finden sie Gelegenheit. Das Fach 
der jugendlichen Charakterspielerin im Hoftheater, in dem uns 
Frl. Terwin freundlich verwohnt hatte, ist seitdem nicht so vorteilhaft 
besetzt, wie es im Interesse hoheren Kunststrebens zu wlinschen 
ware. Die Intendanz scheint das eingesehen zu haben, denn sie lud 
verschiedene Male Gaste vor das Publikum, deren Wert zur Kritik 
gestellt wurde. Zuletzt spielte im Residenztheater Frl. Helene Ritscher 
die beiden starksten Rollen der Terwin, Hilde Wangel und Cleopatra. 
Helene Ritscher ist, wie sich manniglich hatte orientieren konnen, 
keine unbekannte Debtitantin mehr. Wusste man schon nicht, dass 
sie in Wien und Berlin schon seit Jahren als starke Hoffnung gait, so 
hatte man sich wenigstens daran erinnern diirfen, dass sie vor zwei 
Jahren im Mlinchener Klinstlertheater in Hebbels „Judith" die Mirza 
spielte und diese undankbarste Aufgabe, die einer Schauspielerin 
gestellt werden kann, zu einer kunsterischen Leistung von seltenem 
Range erhob. War aber das Gedachtnis der Kritiker schon nicht 
fest genug, um in liebenswlirdiger Voreingenommenheit im voraus 
die dauernde Bindung der Dame am Hoftheater wlinschen zu lassen, 



— 59 — 

so ware denn doch vielleicht einige Gerechtigkeit bei der Beurteilung 
des Gastspiels selbst am Platze gewesen. Wer von solcher Intensitat, 
Warme, Kraft und Ergriffenheit, wie sie die Ritscher zeigte, nichts 
empfangt als achselzuckendes Bedenken gegen einige technische Un- 
gleichheiten, dem soil man die kritische Feder aus der Hand reissen. 
In der „Munchener Post" wurde das lebendigste Temperament, das 
je auf der Residenzbilhne stand, geschildert, als ob ein Hund an 
einer Bretterplanke das Hinterbein aufgehoben hatte. Dem V, das die 
Mlinchener Sozialdemokraten ttber Bilhnenereignisse informiert, muss 
bedeutet werden, dass Strlimpfestricken eine weitaus forderliche Be- 
schaftigung ist, als ohne Ahnung vom Wesen der Schauspielerei 
wertvolle Klinstler herunterzureissen. Hoffentlich hat die Hoftheater- 
Intendanz Ruckgrat genug, die Schauspielerin auch gegen die Meinung 
der Presse hierher zu verpflichten. Sonst konnte sie eines Tages 
einen Schilttelreim auch auf sich beziehen, den ich vor Jahren schon 
der Berliner Btihne widmete, die liber das Talent Helene Ritschers 
verfiigte, ohne ihm genligende Gelegenheit zur Betatigung zu geben: 
Man holt sich alle Kitscher ran, 
und sieht nicht, was die Ritscher kann. 
Es ware in der Tat hohe Zeit, wenn da, wo die Lossen und die 
Terwin gewirkt haben, endlich wieder einmal eine kraftige Personlich- 
keit an die Rampe durfte. Sollte die Ritscher das Urteil der 
Zeitungskritiker bestatigen, dann will ich ein kritischer Hanswurst 
heissen. 



Neues von der Theaterzensur. Der folgende Brief wurde mir zur 
Veroffentlichung eingesandt: 

Budapest, den 30. Juni 1912. 

Sehr geehrter Herr Milhsam! 

Sie haben gewiss erfahren, dass die Polizei Munchens die Auffuh- 
rung der Komodie „Die heilige Sache" verboten hat, als deren; 
Autoren Felix Doermann und ich zeichnen. Das Verbot ist aus 
Griinden der „Wohlanstandigkeit" erfolgt, wie das so heisst, und die 
Polizei nimmt an, es handele sich um ein Schlilsselstiick, in dem 
der Familie Wagner und ihren Trabanten und Anhangern und 
Gefolgsleuten ohne einen Schein von Recht der Vorwurf gemacht 
wird, die Huter des Erbes von Bayreuth (der Ausdruck stammt 
von Thode) hatten bei den Festspielen nur geschaftliche Interessen 

Die Polizei hat recht — : wir haben, ohne gerade den albernen 
und snobistischen Festspielzauber von Bayreuth zu kopieren, beim 
Schreiben unserer Komodie an Bayreuth gedacht. Wir haben dieses 
Theater und sein Drum und Dran unter die kritische Lupe genom- 
men und haben uns nach lebenden Modellen Figuren fur das 



— 60 — 

Drama ausgedacht, die nur in unserem Stuck ihre Existenz haben. 
Ich finde, ein solches Anschliessen an die Wirklichkeit ist das 
Recht jeder Satire. Aber es scheint, als ob das Theater von Bay- 
reuth und alles, was damit zusammenhangt, nun plotzlich zu 
den heiligen Gutern der Nation gehort, an denen Deutschland so 
reich ist. Das ist gewiss fur den Revolutionar von 1848 und ftir 
Meyerbeers Vollender eine hiibsche Carriere. 

Protest gegen das Verbot ist erhoben, wird aber garnichts helfen. 
Macht nichts — wenn sich Wagners nur den „Parsifal" fur Bay- 
reuth sichern. 

Ergebenste Grtisse! 

Hanns Fuchs. 

Die Arbeit der Herren Felix Dormann und Hanns Fuchs ist mir 
unbekannt. Ich bin daher ausserstande, ilber ihren kunsflerischen 
Wert eine Meinung zu aussern. Das Verbot scheint erfolgt zu sein, 
weil der Zensor in dem Werk eine taktlose Verunglimpfung der 
Familie Wagner erblickte. Die Schlusswendung in dem Briefe des 
Herrn Fuchs lasst ja in der Tat darauf schliessen, dass Herrn 
Siegfried Wagner und seiner Mutter in der Komodie eigenniltzige 
Motive bei ihrem Kampfe um das Parsifal-Privileg filr Bayreuth 
untergeschoben werden. Hoffen wir, dem sei nicht so. Gesetzt 
aber den Fall, so erhebt sich doch die Frage, ob die Polizeizensur 
das geeignete Organ ist, mit ihrem Machtspruch die endgiiltige Ent- 
scheidung ilber das Schicksal des Stuckes zu fallen. 

Ich meine, dass die Auffassung, die der Polizei keinerlei Befug- 
nisse in klinstlerischen Dingen einraumen will, auch dann keiner 
Revision bedarf, wenn durch das Eingreifen der Zensur einmal die 
Auffilhrung eines Werkes verhindert wird, das von der Blihne 
aus wirklich berechtigtes Aergernis erregen mtisste. Dem Zensor 
fehlt, wie unzahlige Beispiele beweisen und wie es in der Natur 
seines Amtes liegt, jede Kompetenz, den Kunstwert und mithin die 
Kulturbedeutung eines literarischen Werkes zu beurteilen. Er kann 
nicht unterscheiden, ob erkennbare Personen Modell gestanden haben 
filr eine kunstlerisch komponierte Arbeit und nun in ihrer privaten 
Wesenheit hinter das synthetische Werk zurlicktreten, oder ob die 
Schaublihne mit einem komodienhaften Fabrikat zum Angriff gegen 
bestimmte Personen missbraucht werden soil. Wie es sich im akuten 
Fall verhalt, kann ich, wie gesagt, nicht wissen. Ich nehme rein 
akademisch den Tatbestand so an, wie ihn die Polizei auffasst, 
unterstelle also, dass die Unterlassung einer Auffilhrung von alien 
hoheren Gesichtspunkten aus zu wiinschen ware, so bleibt immer noch 
das Bedenken, dass das „Oaha"-Verbot aus genau den gleichen 
Grlinden erfolgt ist, die der „heiligen Sache" den Weg zur Buhne 



— 61 — 

versperren. Der Begriff Kunst existiert fur die Polizei nicht, und 
die Gefahr, dass Kunst unterdrilckt wird, besteht solange, wie die 
Polizei sich mit ihr zu beschaftigen hat. 

Werden nun aber in einem (klinstlerisch minderwertigen) Stticke 
wirkliche menschliche Interessen einzelner Personen geschadigt, und 
ein Theaterdirektor mutet seinen Schauspielern zu — vielleicht in 
der Hoffnung, mit einer Sensation Geschafte zu machen — , dem 
Werke lebendige Gestaltung zu geben, so ware es natiirlich zunachst 
Sache des Publikums, einem derartigen Machwerk eine gesalzene 
Abweisung zu erteilen. Der Schaden wird in solchen Fallen immer den 
Autor treffen, schwerlich das benutzte Modell. Schlimmstenfalls aber 
sollte der angegriffene Teil lieber von der Moglichkeit Gebrauch 
machen, das ihn schadigende Werk einer richterlichen Kommission 
zu unterbreiten, als durch Anrufung der Polizei deren Willklir zu 
starken. Das Gericht prilft ganz nilchtern alle im einzelnen Falle in 
Frage kommenden Faktoren und verfugt, wenn es in der offentlichen 
Wiedergabe des Stlickes tatsachliche Gefahrdung des Klagers 
erkennt, die Unterlassung der Auffuhrung bei Vermeidung einer 
hohen Konventionalstrafe, wahrend die Polizei im blinden Eifer, 
ein Unkraut aus einem Beet zu reissen, mit plumpen Wasserstiefeln 
die schonsten Kulturen zertritt. 

In Preussen steht gegen die Tatigkeit der Zensur wenigstens 
der Einspruch beim Oberverwaltungsgericht offen. Bayern kennt 
diese Einrichtung nicht. Wer sich hier durch das Walten der Poli- 
zei beschwert ftihlt, darf sich beim Ministerium beklagen, bei dem- 
selben, das die Polizeibeamten einsetzt und das diese Beamte natiirlich 
so auswahlt, wie es seinen Verwaltungswlinschen entspricht. Wer 
beim Minister Klage fuhrt, wird auf die Antwort gefasst sein mttssen: 
ware ich mit den Massnahmen des Zensors nicht einverstanden, 
so wilrde ich einem andern das Amt geben. Das Bestehen eines 
Oberverwaltungsgerichts, das neuerdings von liberalen Politikern fiir 
Bayern angestrebt wird, ware also gewiss gegen die verantwortungs- 
lose Tatigkeit der Polizei ein Fortschritt. Mir scheint aber, dass freiheit- 
liche Menschen, vor allem Kunstler und Kunstfreunde, doch lieber 
fur eine vollige Beseitigung der Zensur ins Zeug gehen sollten. In 
Frankreich, in England und selbst in etlichen deutschen Stadten 
gibt es keine Zensoren und man hat bisher nicht erfahren, dass diese 
Anarchie schon irgendwo zu einer Verwilderung und Zelrrtittung 
der Volkssitten gefiihrt hatte. 



Die Polizeiassistentin. Der Fall Schapiro ware ohne erheb- 
liche Bedeutsamkeit, wenn die Dame in perverser Llisternheit aus ihrem 
Sittlichkeitsamt ein psychisches Lotterbett gemacht hatte, wenn also 



— 62 — 

ihr Eifer, illegitime Vorgange zu ermitteln, sich einfach mit versetzter 
Geilheit erklaren liesse. Man konnte dann sagen: es ist ein Skandal, 
dass Madchen, die den berechtigten Wunsch haben, in ihrem privaten 
Tun unbehelligt zu bleiben, unter Berufung auf eine Polizeilegitimation 
gezwungen werden konnen, gegen ihren Willen den iiberreizten 
Sexualnerven einer Fremden den verlangten Kitzel zu verschaffen. 
Zur allgemeinen Charakteristik der polizeilichen Sittlichkeitsbestre- 
bungen ware abeT die Angelegenheit nicht zu gebrauchen. Es ware 
ein Einzelfall. 

Die Sache erhalt ihre unheimliche Bedeutung gerade dadurch, 
dass Frau Schapiro zweifellos ganz und garnicht krankhafter Natur ist. 
Die Frau ist in ihrer Art Idealistin. Sie glaubte, mit ihrem 
Wirken einer heiligen Sache zu dienen. Sie wollte denen, die sich 
in ihren Amtsbezirk verirrten, aus ehrlichem Herzen helfen, und 
der einzige Vorwurf, der ihr personlich zu machen ware, konnte der 
sein, dass sie in iibertriebener Hilfsbereitschaft Netze auswarf, um 
moglichst viele nach ihrer Auffassung entgleiste Madchen in ihren 
Amtsbezirk hineinzuziehen. Man sollte Frau Schapiro dankbar sein, 
dass dieser Vorwurf erhoben werden konnte. Sonst hatten wir 
wahrscheinlich noch sehr lange nicht erfahren, iiber welche haarstrau- 
benden Befugnisse die Polizei verfugt, um das personliche Treiben 
der Menschen zu beaufsichtigen und unter ihre Vormundschaft zu 
bringen. 

Ein Madchen, das kein „festes Verhaltnis", wohl aber genilgend 
gesunde Sinnlichkeit hat, um an den Jugendfreuden des Lebens in 
ausgiebigem Masse teilzunehmen, ist eo ipso der „gewerbsmassigen 
Unzucht" verdachtig, und das heisst: eine polizeiliche Amtsperson 
erhalt das Recht, die Verdachtige aufzugreifen, ihr Vorhaltungen 
zu machen und sogar Zwangsmassregeln zu ergreifen, um sie in die 
Bahnen der burgerlichen Wohlanstandigkeit zu lenken. Der den 
Deutschen von Kindesbeinen anerzogene Respekt vor der Polizeimacht 
geht so weit, dass keines der belastigten Madchen es wagt, sich die 
Moralpredigten der Assistentin energisch zu verbitten. Freilich ist 
dieser Respekt wohl auch haufig identisch mit der Angst vor 
Zwangserziehung, korperlicher Untersuchung und andern Widerlich- 
keiten, die als Drohung ja auch oft genug hinter den Moralpredigten 
auftauchen. Regulare Razzien werden veranstaltet, um Gelegenheits- 
parchen in flagranti zu erwischen, und der Schutzmann, der heute von 
den Reizen eines anmutigen Frauleins ausseramtlichen Gebrauch 
macht, lauft morgen zur Assistentin und liefert den Namen des Frau- 
leins als geeignete Adresse fiir polizeiliche Besserungsbemiihungen aus. 

Die Folge ist natiirlich, dass die jungen Madchen einer Stadt 
(wer kann wissen, ob es nicht anderswo genau so zugeht wie in 
Mainz ?) das. was ihre Natur verlangt, in standiger Angst vor der 
Faust der Obrigkeit tun. Sie verlieren ihre schone freie Unbefangenheit, 
kommen sich in ihren eigenen Handlungen schlecht und „gefallen" 
vor. Daraus entsteht dann Hysterie, Fahrigkeit, Verlogenheit, Heim- 
lichkeit und Unfreiheit in alien ubrigen Daseinsausserungen und in 
den Kindern, die von ihnen geboren werden, ein schwachliches, un- 
schones und ungesundes Geschlecht. — Der schneidigen Moral 
gegeniiber, fiir die alles, was sich der polizeilichen Zucht zu entziehen 
sucht, Unzucht heisst, wollen wir andern, die wir den Knebel nicht 
mogen, mit vernehmlicher Stimme die Freiheit der Sinne prokla- 
mieren. Die Beziehungen der Geschlechter zueinander haben mit 
Moral nicht das geringste zu tun und konnen daher nicht unmoralisch 



— 63 — 

sein. Unmoralisch aber und jedes feinere Gefilhl tief verletzend ist 
die Beschnupperung privater Sexualaffairen durch amtliche Moral- 
stlitzen und durch sittliche Amateure. 



Zeppelins Pech- Das Lebenswerk des alten Grafen Zeppelin in 
alien Ehren. Einer, der an seine Mission glaubte und alien Ver- 
hohnungen und Besudelungen derer, die ihm heute demlitig in 
jeden erreichbaren Korperteil rutschen, zum Trotz seinen Weg ging. 
Einer, der — ilber die siebzig — noch den Plan besinnt, seine 
Maschine im wissenschaftlichen Dienst in Polargegenden zu steuern. 
Dem darf keiner den Respekt versagen, der steht ilber der Kritik 
seiner eigenen Leistung. 

Der Kritik nicht entriickt ist hingegen das Produkt des Zeppe- 
linschen Lebenswerkes und noch weniger das Fanfarengejohl der 
— ehedem so boshaft-skeptischen — Zeppelin-Enthusiasten. Ich 
mochte mir beileibe kein Urteil ilber Zweckmassigkeit oder Un- 
zweckmassigkeit des starren Systems anmassen. Ich habe keine 
Ahnung, ob ein lenkbarer Luftballon mit Aluminium oder mit Kaut- 
schuk umkleidet zu sein hat; von mir aus soil man ihn in Papier- 
mache hlillen. Soviel aber hat mein ahnungsloses Laiengemlit doch 
schon gemerkt, dass sich Zeppelins Apparat besonders bewahrt, um die 
weise Lehre des alten Th. Vischer von der Tucke des Objekts zu be- 
kraftigen. 

Alle Jahre, wenn der Sommer in die Lande zieht, steigt Z I, II, 
V, VIII oder Y zu feierlicher Paradefahrt in die Lttfte, sieghaft 
begleitet von Wolfs Telegraphenbiiro. Das deutsche Herz klopft 
im Sechsachteltakt zum neuesten Propellerrekord, und in jeder be- 
geisterten Mannerbrusttasche steckt das Extrablatt, das die glilck- 
liche Landung am Fahrtziel bestatigt. Bei der Rilckreise aber schweigen 
die Gesange. Irgendwo reckt ein Bergwald seine Wipfel in Zeppelins 
Ankertau, ein Sturm erhebt sich zur unrechten Zeit, der Motor 
streikt — kurzum: Jahr fur Jahr platzt Deutschlands Stolz und 
Hoffnung und hinterlasst dem betrilbten Blick ein verbogenes Alu- 
miniumgerust. Dieses Mai rechneten uns die leider hinterbliebenen, 
Zeitungen vor, dass bis jetzt acht Zeppelin-Luftschiffe in die Binsen 
gegangen sind. Man muss an sich halten, um nicht auszurufen: 
Vivat sequens! 

Man mag mich einen Rohling nennen: flir den allgemeinen 
Jammer um die prachtigen Luftfahrzeuge habe ich kein Organ. 
Der gilt ja garnicht dem zerstorten Gasfuhrwerk. Der gilt der Er- 
wagung, dass fur den nachsten Krieg auf die schone neue (Waffe 
nun doch kein rechter Verlass sein dttrfte. Solange die grossen 
technischen Erfindungen nicht nach ihrem Nutzen fur den Verkehr 
der Menschen untereinander bewertet werden, sondern nach dem 
Dienst, den sie bei der Ermordung feindlicher Soldaten leisten 
konnen, so lange braucht ihrem Fiasko keine Trane nachzufliessen. Es 
gibt (zwar nicht raumlich, aber geistig) hohere Dinge als Aeroplane und 
Zeppelinschiffe. Wenn einmal unter den Volkern Friede sein wird 
und die technische Zivilisation einer geistigen Kultur zugute kommt, 
dann wird auch der, der dem politischen Komodienspiel abseits und 
feindselig zusieht, bei den Statistiken liber die alljahrlichen Zeppelin- 
schen Pechfalle von anderen Gefilhlen bewegt werden als von ironi- 
scher Erheiterung. 



— 64 — 

Saccharin. Es ist wohl mein Verhangnis, dass ich stets da 
Anklager bin, wo sonst niemand etwas zu tadein findet, und Verteidiger, 
wo der schleimige Entrlistungsfladen aller Wohlgesinnten ilber 
individuelle Handlungen trieft. Seit langerer Zeit werden die deut- 
schen Zeitungsleser immer wieder durch Nachrichten entsetzt, die 
abenteuerliche Schmugglerunternehmungen an den schweizerischen und 
osterreichischen Grenzen schildern. Man erfahrt, wie ungeheure Men- 
gen von Saccharin aus der Schweiz, wo der Sussstoff sehr billig ist, 
iiber die deutsche Grenze befordert werden: in vornehmen Automobilen, 
in kunstvoll fllr den Zweck praparierten Westen, in hundert arglisti- 
gen Umhullungen und Verkleidungen. Da der freie Handel mit 
Saccharin in Deutschland verboten ist und infolgedessen hier und 
in Oesterreich kolossale Preise fur das Praparat gezahlt werden, 
machen die Kontrebandisten und die Zwischenhandler gelanzende Ge- 
schafte. Der Burger aber wendet sich voll Abscheu von solchen 
Untaten ab. 

Weiss der Burger, warum der Sacchartnhandel in Deutschland 
verboten ist ? Es sei ihm mitgeteilt: Die Zuckeragrarier fuhlten sich 
durch den kiinstlichen Sussstoff geschadigt. Das Volk sollte gezwun- 
gen werden, die Versussung der Speisen so teuer zu bezahlen, 
dass die Magnaten, die die Elite der Nation darstellen, ihren aus- 
giebigen Nutzen davon hatten. Einen wichtigen landwirtschaftlichen 
Konsumartikel durch ein billiges Surrogat ersetzen, heisst in 
Deutschland so ungefahr Landesverrat treiben. Daher musste die 
Hygiene heran. Es hiess, der Ersatz des Rlibenzuckers durch 
Saccharin schadige die Volksgesundheit, da Zucker ein unentbehrliches 
Nahrungsmittel sei, wobei nicht gesagt wurde, dass der Zucker, der 
als Volksnahrung wirklich in Betracht kommt, im Gemlise, Obst und 
in vielen anderen Speisen chemisch gebunden enthalten ist, und dass 
die Zuckerstucke, die zur Beeinflussung des Geschmacks in den 
Kaffee und in die Mehlspeisen geworfen werden, als Ernahrungs- 
substanz kaum in Frage kommen. — Aber die Agrarier bekamen 
naturlich das Gesetz, das sie wlinschten. 

In Deutschland gibt es nur noch eine einzige Saccharinfabrik. 
Die deckt den ganzen Bedarf der Apotheken, die allein noch damit 
handeln durfen. Diese Fabrik wiirde von dem Entdecker des Saccha- 
rins, Dr. Fahlberg, begrtindet und befindet sich bei Magdeburg. Weiss 
der Burger, was mit dem bei den Schmugglern beschlagnahmten 
Saccharinvorraten geschieht? Fruher wurden sie vernichtet. Neuer- 
dings werden sie filr billiges Geld vom Staate an die Fahlbergsche 
Saccharinfabrik verkauft, die auf diese Weise soviel Saccharin ins 
Haus bekommt, dass sie ihre Arbeiter entlassen konnte und mit 
der geschmuggelten Ware den ganzen deutschen Bedarf deckt. 
Der Staat macht also mit dem Verbot des Saccharinverkaufs in 
Deutschland ein gutes Geschaft, die deutschen Saccharinarbeiter sind 
infolge dieses Verbots brotlos, das deutsche Volk wird ungeheuer- 
lich belastet, und der Burger, der sich in Mussestunden der Ent- 
rilstung iiber die betrugerischen Manipulationen der Saccharinschmugg- 
ler hingibt, tritt zur Vermehrung solcher Mussestunden eine Erholungs- 
reise nach Tirol an. Beim Kofferpacken achte er nur gut darauf, 
dass die Zigarrenkiste unter den Nachthemden gut versteckt bleibt. 
Es ware doch peinlich, wenn man sie in Kufstein erwischte ! 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Munchen, Akademiestrasse 9, 
Druck von Max Steinebach, Munchen, Baaderstr. lu la. Geschaftsstelle: Munchen. Baaderstr. la. Tel. 2355 



KAIN, Heft 2. Inhalt: Politisches Vari6te\ — Tagebuch 
aus dem Gefangnis. — Der riihrige Zensor. — „Titanic." — 
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem ,.Krater". 

KAIN, Heft 3. Inhalt: Strindberg- Tagebuch aus dem 

Gefangnis. - Miinchner Theater — Bemerkungen. — Bonnot 
Gamier und Co. — Der Kampf mit dem Drachen. — Die ent- 
sprechende Siihne — Geburtstagsgriisse. Maria im Rosenhag. 



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erscheint am 5. und 20. jeden Monats im Format von 24X32 mit ein 
bis zwei Handzeichnungen zum Preise von 25 Pf., jahrlich Mk. 5.50. 

INHALT 

des ersten Heftes: MATISSE: Akt / CLAUDEL 
Rezitation aus der Einsetzung des Ruhetages / PASCOLI 
Der Taumel / DAUBLER : Der Nachtwandler / PHILIPPE 
Briefe I LEHMBRUCK: Akt / 

des zweiten Heftes: GENGWA HIROMI: Chinesi- 
scher Holzschnitt / CLAUDEL: Magnificat / CLAUDEL: 
Aufbau der Kirche / CLAUDEL: Ausschau vom Meer 
auf das Land / CLAUDEL: Besuch / CLAUDEL: Der 
Schauende ,' CLAUDEL: Beschluss / 

des dritten Heftes: DERAIN: Holzschnitt / GEIGER: 
Ode / GIDE: Mopsus / RAY: Jules Romain 
des vierten Heftes: RODIN: Akt / PEGUY: Myste- 
rium / GIDE: Anmerkungen / TREUGE: Gedichte / 
L'ARBAUD: Barnabas / 

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Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten: 

»l«l>iliiii!|,lli.liil.ifiT.'ii,i.i.,ii.i„rii juiii.j.i.ii.i.,ii,iiii^Tr«--rrrT,Tr^..<.iii.ti-jiii..i.iAiiii|Mi..iiii.i.i|i,ii.i,ii.,i.,i,Lii.i l ,t^ri: l i.ii.|i'iiiM;^ 

Generalstreik! 

Wer, ohne Parteiganger zu sein, den Vorgangen des 
offentlichen Lebens mit den Augen eines leidenschaft- 
lich Beteiligten folgt, wird seine Aufinerksamkeit haufig 
bei Dingen gefesselt fiihlen, die dem hastenden Blick 
des Zeitunglesers unwesentlich scheinen oder ganz ent- 
gehen. Er gewohnt sich daran, die tatsachlichen Er- 
eignisse statt nach ihren katastrophischen Aeusserungen 
nach ihren symptomatischen Ursachen zu beurteilen. Er re- 
gistriert anstelle statistischer Additionen Wertgleichungen 
und untersucht den Bodensatz verdampfter Tageserschei- 
nungen auf seinen Gehalt an sozialen und kulturellen 
Zukunftskeimen. 

Selten genug ist die Freude, in seinem Mikroskop 
unter alien toten Resten eine Spur lebendigen Samens 
zu finden, und man tut das Seine, dies Leben zu erhalten, 
indem man es in den aumahmswilligen Geist zukunfts- 
froher Mitmenschen verpflanzt. Dort mag er sich aus- 
wachsen zu kritischer Einsicht in die Zusammenhange 
der gesellschaftlichen Strukturen und zum Willen, forder- 
Uche Entwicklungen zur Frucht reifen zu lassen. Das 



— 66 — 

namlich ist der Sinn alles Werbens und aller Agitation: 
in stimmungsverwandten Intelligenzen Gedanken zu wek- 
ken, Gefiihle zu Ueberzeugungen zu erweitern und Sehn- 
siichte mit dem Drange zur Tat zu erfullen .... 

Unter hundert Depeschen, Korrespondenzen, Mittei- 
lungen, eine auf den ersten Schein irrelevante: Die Ar- 
beiter-Union in Zurich hat einen vierundzwanzigstiindi- 
gen Demonstrations-Generalstreik proklamiert. Die Ak- 
tion wurde in nie gesehener solidarischer Geschlossen- 
heit durchgeflihrt. Die Forderung der Arbeiter, das 
Recht zum Streikposten-Ausstellen, wurde ertrotzt. Das 
alles scheint an sich nicht sehr bedeutsam. Ein Streik 
ist bei der Klassenformation des Staates etwas Selbst- 
verstandliches und AUtagliches, und die Ursache zum 
allgemeinen Ausstand war zwingend genug. Der Streik- 
posten ist ein unersetzbares Mittel zur Ausiibung des 
nachgerade in alien westeuropaischen Staaten geltenden 
Koalitionsrechts. Die Schweizer Arbeiter durften und 
konnten sich dieses Recht nicht schmalern lassen. Selbst 
im Deutschen Reich kann die Einrichtung der Streikposten 
ohne Verkiindigung eines Ausnahmezustands nicht mehr 
geknebelt werden. Der Versuch der Grossindustrie, mit 
der beriichtigten Zuchthausvorlage den Arbeitnehmem die 
Moglichkeit der Selbsthilfe zu verkiirzen, misslang, und 
als vor mehr als zehn Jahren der Senat der Freien und 
Hansestadt Liibeck das Streikpostenverbot auf dem Ver- 
ordnungswege trotzdem durchsetzen wollte, musste die 
Reichsregierung eingreifen und die vierzehn Machthaber 
in die Schranken ihrer freistaathchen Souveranitat zuriick- 
weisen. (Zurich und Liibeck Es ist sehr charakteristisch, 
dass sich die Regierungen sogenannter freier Republiken 
am schnellsten dazu entschliessen, reaktionare Uebergriffe 
zu wagen. Sie kennen ihre Demokraten und fiihien sich 
sicher). 

Der eintagige Ziiricher Generalstreik bote also bei 
oberflachlicher Betrachtung keinerlei Veranlassung zur 



— 67 — 

leuchtenden Anerkennung in den Annalen der Arbeiter- 
geschichte. Seine Bedeutung erhalt er erst durch seine 
sehr eigenartige Vorgeschichte und durch die besondere 
politische Komposition des Zuricherischen offentlichen 
Verwaltungsapparats. 

Die Schweiz zeichnet sich bekanntlich unter alien Lan- 
dern durch die konsequenteste Befolgung einer demokrati- 
schen Zivilisation aus. Der grosste Teil derpolitischen For- 
derungen unserer Liberalen und Sozialdemokraten ist dort 
langst verwirklicht, und es kann durchaus nicht geleugnet 
werden, dass dadurch manche Harten der kapitalistischen 
Staatsorganisation erhebhch gemildert worden sind. 
Staat und Kirche sind getrennte Institute; jedem Schwei- 
zer wird vom Staate aus freier Schulbesuch, werden freie 
Lehrmittel garantiert; die Beamten werden nicht eingesetzt, 
sondern gewahlt, und das Volk hat das Recht, anter Umge- 
hung der parlamentarischen und exekutiven Ausschiisse 
aus eigener Initiative Gesetze zu entwerfen und einzufuh- 
ren. Dabei bewirkt das federative Kantonalsystem vermehr- 
ten Schutz gegen zentralistische Vergewaltigungen gegen- 
strebender Bezirke, wobei es zugleich dem Gesamtgebiet 
der Eidgenossenschaft das volkerpsychologisch sehr lehr- 
reiche Bild erfreuUcher Mannigfaltigkeit schaffi. 

Unter alien Feldern dieses Mosaikgebildes gilt der 
Kanton und die Stadt Zurich als Domizil der freiheitlichsten 
Errungenschaften. Diesen Ruf dankt Zurich besonders 
den zahlreichen Sozialdemokraten, die das Vertrauen des 
Volkes dort in die hochsten Verwaltungsamter berufen 
hat. Der Zuricher Polizeiprasident ist Sozialdemokrat, 
unter den neun Stadtraten der Gemeinde sind vier Rote, 
in der gesamten Gerichtsbarkeit und in alien ubrigen 
Beamtenschichten ist die Arbeiterpartei iiberwiegend oder 
doch sehr gewichtig vertreten. Ware nun die Behauptung 
richtig, mit der die Sozialdemokratie uberall zu ihren Fahnen 
ruft, dass das Eindringen des proletarischen Willens in 
die Verwaltungen der kapitalistischen Staaten und das 



— 68 — 

Handhaben der staatsexekutorischen Instrumente durch 
Mandatare der ausgebeuteten Klasse die Kluft zwischen 
Arm und Reich allmahlich verringern und schliesslich 
den gesellschaftlichen Ausgleich im Sozialismus herbei- 
fuhren miisse, so ergabe sich, dass in der Schweiz allgemein 
und in Zurich speziell schon heute ein mindestens er- 
tragliches Verhaltnis zwischen Arbeitgebern und Arbeit- 
nehmern bemerkbar sein miisste. — Das Gegenteil ist 
der Fall. 

Nirgends in der Welt wird der Kampf zwischen 
Kapital und Arbeit erbitterter und riicksichtsloser ge- 
flihrt als in der Schweiz. Nirgends in der Schweiz steht 
das Unternehmertum rigoroser und brutaler gegen die 
Arbeiterschaft als in Zurich. Nirgends aber stellt sich 
die Regierung eines Staates mit so unverhiillter Partei- 
nahme und mit so konsequenter Regelmassigkeit unter 
Anwendung aller ihrer Machtmittel auf die Seite der 
Kapitalisten wie irr jenen freien Demokratieen des Alpen- 
landes. Und endlich: Nirgends innerhalb und ausser- 
halb Europas werden waffengeiibte Soldaten so haufig 
auf ihre werktatigen Landsleute losgelassen wie die 
Schweizer Miliz-Bataillone, durch deren Nachahmung in 
Deutschland August Bebel und die Seinen ihre antimili- 
taristischen Postulate befriedigt sahen. 

Seit Beginn dieses Sommers streiken in Zurich 
die Schlosser und die Maler. Die Ausstandsbe- 
wegung gewann in beiden Lagern das in der 
Schweiz iibliche Aussehen: beteiligte Auslander wurden 
des Landes verwiesen, Truppen wurden zusammenge- 
zogen, Schiisse fielen und der Ziiricher Stadtrat verbot 
auf einen Wink der Regierung durch Maueranschlag das 
Ausstellen von Streikposten. Da griff die Arbeiter-Union 
ein, erklarte sich mit den Malem und den Schlossem soli- 
darisch und forderte samtliche Gewerke und Angestellte 
mit Ausnahme der im Sanitatsdienst tatigen Arbeiter auf, 



am 12. Juli fur die Dauer von vierundzwanzig Stunden 
demonstrativ die Hande ruhen zu lassen. 

In prachtvoller Solidaritat kamen die Organisationen 
der Aufforderung der Union nach. Alle Betriebe feierten, 
sogar die in stadtischer Regie gefuhrten Anstalten. Die 
Trambahnbeamten, die besonderen Gesetzen unterworfen 
sind und sich schwerer Existenzgefahrdung aussetzten, 
erklarten, leider ausfahren zu miissen, sofern sie nicht 
durch den Massenandrang Streikender auf den Schienen 
daran gehindert wiirden. Man verstand den Wink, und 
in fruher Morgenstunde standen vor samtlichen Strassen- 
bahndepots Ansammlungen von einigen hundert Arbei- 
tern auf den Geleisen, die es den Strassenbahnern erleich- 
terten, ihre Berufspflicht hinter ihre Kameradschaftspflicht 
zuriickzustellen. (Eine neue und sehr interessante Me- 
thode der Sabotage durch gegenseitige Hilfe). Nur die 
Typographen hatten von ihrem Berner Zentralkomitee 
die Weisung erhalten, gemassregelte Kollegen hatten aus 
der Streikkasse keine Unterstiitzungen zu erwarten, und 
wurden — sie allein — zu Streikbrechern. Diese raudigen 
Schafe (noch mehr Schafe als raudig) hatten dann das 
Vergniigen, ihre Schande eigenhandig der Druckpresse 
zu iibergeben. 

Die Arbeiterschaft, die die radikale Aktion eines all- 
gemeinen Solidaritatsstreiks unternimmt, beweist damit, 
dass sie entschlossen ist, ihre Rechte mit den allerausser- 
sten Mitteln zu verteidigen. Derm es kann nicht verkannt 
und soil nicht verheimlicht werden, dass eine Massregel, 
die die Einwohner einer Stadt durch die Verhinderung 
sich Lebensmittel zu besorgen, ziichtigt, die sie jeder Mog- 
lichkeit der mechanischen Beforderung beraubt und in 
den Abendstunden der Dunkelheit preisgibt, Zustande 
heraufbeschwort, die, iiber mehrere Tage ausgedehnt, un- 
ertragbar waren. Der eintagige Generalstreik war eine 
Drohung. Er bedeutete: Reizt uns nicht, sonst dehnen 
wir die Aktion einmal iiber eine Woche aus. Ein vertan- 



— 70 — 

gerter Generalstreik aber ware das Signal zu ungeheuerer 
Erbitterung, die das geschadigte Kapital vielleicht be- 
stimmen konnte, die ihr in Treue willfahrigen offent- 
lichen Organe zur Anwendung ihrer Gewaltswerkzeuge 
zu veranlassen. Dann ware der Biirgerkrieg fertig. 

Die hauptsachlich bei Anarchisten verbreitete Meinung, 
der Generalstreik sei das revolutionare Kampfmittel 
schlechthin, um die neue gerechte Gesellschaft zu schaf- 
fen, bediirfe es nur eines gleichzeitig alle Lander um- 
spannenden Generalstreiks, ist nicht ernst zu nehmen. Eine 
Revolution und mit ihr der Umschwung aller Dinge lasst 
sich nicht von heute auf morgen unternehmen, auch nicht, 
wenn alle Arbeitergewerkschaften der Welt den Gene- 
ralstreik beschlossen und durchfuhrten. Eine Revolution 
bricht aus, wenn ihre Zeit gekommen ist, das heisst, 
wenn sich das gestaltet hat, was an die Stelle der iiber- 
lebten Einrichtungen tritt. Jede Revolution findet ihre 
Mittel allein, und dass eines davon die allgemeine Arbeits- 
verweigerung ist, diirfte selbstverstandlich sein. Die Ak- 
tion eines auf allgemeinen Umsturz abzielenden General- 
streiks wird immer nur Putsche bewirken, Putsche aber 
haben sich noch meist als unfruchtbare Energie- und 
Blutvergeudung erwiesen. 

Der Generalstreik ist die starke Waffe der Arbeiter 
gegen das Kapital, wenn es fur den Moment auf eine 
unzweideutige kraftige Kundgebung ankommt. Das Bei- 
spiel, das die Plebejer des altesten Roms mit ihrem Auszug 
auf den heiligen Berg gaben, bleibt fur alle Zeit vor- 
bildhch. Als radikales Willensmanifest ist auch der Zu- 
richer Generalstreik zu bewerten. Er war gut, weil er 
zu rechter Zeit kam und stark durchgefiihrt wurde, und 
er war wertvoll vor allem; weil er die klare Abkehr des 
Proletariats von der Politik bedeutet, die Besinnung der 
Masse auf die eigene Kraft in dem Augenblick, wo die von 
ihr gewahlten politischen Personen der Staatsraison den 
Vorzug vor den Volksrechten gaben. 



— 71 — 

Der Ziiricher Generalstreik — und hier liegt die Pra- 
zedenz und der Symptomwert des 12. Juli — war der Bruch 
der Arbeiterschaft mit seinen eignen politischen Ver- 
tretern. Es kampften verbiindet sozialdemokratische und 
anarchistische Arbeiter gegen die verbiindeten sozialdemo- 
kratischen und biirgerlichen Staatskuratoren. 

Ob der Stadtratsbeschluss, der die Belagerung ver- 
hangte, Militar kommen liess und die Streikposten ver- 
bot, um den Unternehmern gefallig zu sein, einstimmig 
erfolgte, steht nicht sicher fest, ist auch unwesentlich. We- 
sentlich ist, dass von den vier Sozialdemokraten, die im 
Stadtrat sitzen, keiner erklart hat: Wir sind von den fiinf 
Biirgerlichen iiberstimmt worden. Der Verdacht, dass 
die Proletariatsvertreter dem Beschluss zugestimmt haben, 
hat sich, da ihn keiner der Herren abwehrte, zur Gewiss- 
heit verdichtet. Der Maueranschlag, der von dem Ver- 
bot der Streikposten Kenntnis gab, trug die Unterschrift 
des sozialdemokratischen Polizeiprasidenten Vogelsanger. 
Die ausfuhrenden Organe der Polizei und der iibrigen Be- 
horden sind in ihrer grossen Mehrheit Sozialdemokraten. 
Das ist wesentlich. 

Diese Beamten und Volksvertreter haben ganz sicher 
alle nach ihrer besten Ueberzeugung gehandelt. (Die 
hassliche Uebung, Leute, die anders als wir denken und 
handeln, als Verrater und Spitzel zu bezeichnen, wollen 
wir doch den sozialdemokratischen Politikern iiberlassen). 
Sie konnten gar nicht anders handeln, als sie taten, da sie 
einmal die Verpflichtung iibernommen hatten, hre Krafte 
in den Dienst des kapitalistischen Staates zu stellen. Die 
Beispiele Millerands und Briands haben schon friiher er- 
wiesen, dass es unmoglich ist, gleichzeitig Staatsinteressen 
und Volksinteressen wahrzunehmen. Die Schweiz verfiigt 
iiber Beispiele solcher Art ubergenug. Jetzt aber ist 
plotzlich die Einsicht iiber das Volk gekommen, dass es 
zwischen zwei Stiihlen sitzt, und es hat ohne Riicksicht 
auf Parteidisziplin getan, was sein Lebenswille verlangte. 



— 72 — 

Die Aktion vom 12. Juli hat deshalb weit iiber die 
Schweizer Grenzen hinaus Anspruch auf aufmerksamste 
Beachtung. Waren die deutschen Behorden nicht so ver- 
nagelt, den sozialdemokratischen Staatspositivisten den 
Eingang zu den Verwaltungsamtern zu versperren, so 
hatten sie langst die Erfahrung gemacht, dass sie in ihnen 
die pflichttreuesten Hiiter der kapitalistischen Einrich- 
tungen besassen. Schon das Wirken der Roten in den 
Parlamenten hatte ihnen dariiber Klarheit schaffen miissen. 
Dass sie aus weitblickender Klugheit diesen „revolutiona- 
ren" Herren die Gelegenheit nehmen, ihre Staatstuchtig- 
keit zu bewahren, kann den Ministern der deutschen Vater- 
lander schwerlich zugetraut werden. Derm die Erwagung 
ware gar nicht dumm, dass die Arbeiter, wenn ihren Fiih- 
rern einmal das Odium umsturzlerischer Gesinnung ge- 
nommen wiirde, an ihrer Wirksamkeit erkennen konnten, 
wie fern von den Wiinschen des Volkes das Walten ein- 
flussreicher Genossen lebt, und dass der Moment, wo 
das Volk beganne, den politischen Mumpitz seiner Ver- 
treter zu durchschauen, revolutionares Leben in die Gei- 
ster bringen miisste. In Zurich ist dieser Moment einge- 
troffen. Dort hat sich wieder einmal gezeigt, wie recht 
die Marxisten haben, wenn sie behaupten, dass sich die 
natiirliche Entwicklung der Dinge nicht aufhalten lasse. 
Bios lauft die Entwicklung mitunter andereWege, als den 
Drathziehem lieb ist. 

Die Rigorosen. 

Ein Manifest des lyrischen Nachwuchses. 

Das also sind „die wertvollsten Verse, die seit Rilke in deut- 
scher Sprache geschrieben wurden". Herr Kurt Hiller, der Heraus- 
geber des „Kondors",) einer „rigorosen Sammlung radikaler Strophen" 

') Der Kondor. Verse von Ernst Blass, Max Brod, Arthur 
Drey, S. Friedlaender, Herbert Grossberger, Ferdinand Hardekopf, 
Georg Heym, Kurt Hiller, Arthur Kronfeld, Else Lasker-Schliler, 
Ludwig Rubiner, Rene Schickele, Tranr Werfel, Paul Zech. Heraus- 
gegeben von Kurt Hiller. Heidelberg igi2. Verlag von Richard 
Weissbach. 



— 73 — 

behauptet es. In schoner Bescheidenheit gesteht er (einleitend), dass 
er seine eigenen Gedichte, mit deren zehn er das schmucke grime 
Buch bereichert, nicht unter diese wertvollsten Verse rechnet. Er 
tut recht daran, denn seine Lyrik taugt nicht allzuviel. Da er aber 
bekennt, dass er sich selbst im Kondor „nur aus Eitelkeit" das 
Wort gibt, wohingegen er vorher erklart: „Zum erstenmal sollen 
hier lebende Kiinstler der Gedichtschreibung (vor Hiller nannte 
man solche Leute klirzer und eindeutiger Dichter), und nur Kiinstler 
vereinigt werden. Mit Proben, die ausreichen, ein Bild zu geben: 
Kiinstler einer Generation" — da er dies vorher aussert, sei 
ihm gesagt, dass die „Strophen" der andern Herren, die er neu in 
die Weltliteratur einfiihrt, meistensteils nicht besser sind als seine. 

Im Februar dieses Jahres schrieb ich in den „Kain" folgende 
Satze: „Seit in Wien das Versemachen zum Sport geworden ist, 
seit man dort bewiesen hat, dass mit einem Band Hoffmansthal in der 
Hand jeder Gymnasiast gute Gedichte machen kann, gibt es keinen 
Nachwuchs mehr. Die Berliner Produktivitat aber hat sich von 
der Produktion emanzipiert. Sie begniigt sich mit der Verherrlichung 
der Reproduktion. Lasst uns Musik komponieren, Bilder malen, 
Lyrik dichten, wie Kerr und Hardekopf Kritiken schreibenl — Mit 
diesem Programm griinden die Jiingsten Literaturzirkel". — Der 
„Kondor" ist der niederdruckende Beweis meines Urteils. Was 
Gutes in dem Buch steht, kommt von Dichtern, die uns von Herrn 
Hiller nicht mehr prasentiert zu werden brauchen: von Else Lasker- 
Schiiler, von Max Brod (der mit Einschrankungen zu loben ist), von 
Rene Schickele. Was diese Autoren, was auch der empfindsame 
S. Friedlaender mit dem von Herrn Hiller in der Einleitung zwar 
bestrittenen, doch aber klar formalierten Programm zu schaffen haben, 
ist unerfindlich. Von den iibrigen interessieren nur Georg Heym und 
Franz Werfel, und da Heym ja leider im Stadium der Talentproben 
verzichten musste, so kommt als Hoffnung nur noch Werfel in Frage. 
Uebrigens hatte aus beider Produktion leicht eine bessere Aus- 
wahl getroffen werden konnen. Besonders Franz Werfeis Gedicht- 
sammlung 1 ) enthalt Verse von starker, schoner und oft riihrender 
Empfindung (so das entzuckende Gedicht „Ich bin ein erwachsener 
Mensch" oder die Ode „Junge Bettlerin an der Kriicke"). Statt 
dessen enthalt der „Kondor" aus Werfers Repertoire nur Stiicke, die 
noch peinlich mit gesuchten Ungewohnlichkeiten kokettieren, und darin 
zwar personlicher und ursprtinglicher sind als die gewollten Radikalis- 
men vieler seiner Anthologie-Kollegen, aber viel mehr charakteristisch, 
fur den Hillerschen Geschmack als fur den Franz Werfel, den wir 
aus seinem „Weltfreund" fur spatere Manifeste erhoffen diirfen. 



') „Der Weltfreund". Gedichte von Franz Werfel. Axel Juncker, 
Verlag, Berlin-Charlottenburg (ohne Jahreszahl). 



— 74 — 

Ueber Georg Heyms abgeschlossene dichterische Konfession 
verlohnt sich ein besonderes Wort. Zwei Gedichtbticher zeigen die 
Entwicklung des Toten.') Die kurze Frist zwischen der Ausgabe des 
ersten und dem Entstehen des zweiten liess eine sichtbare Steige- 
rung im Wert noch nicht zu. Dennoch zeigt sich dem aufmerksamen 
Leser im zweiten Band schon ein tieferes Schauen, eine Abklarung 
und Vergeistigung, ein Hinausstreben liber den robusten Realismus 
hinweg, der den ersten Band noch ganz beherrscht und auch spater 
nirgends ganz verschwindet. Aber bei Heym verleugnet sich niemals 
eine grosse ernste Ehrlichkeit des Empfindens. Die Umsetzung 
seiner Gefuhle ins Symbol bleibt auch da ungezwungen, wo das 
Bild garzu prosaisch ist, um im lyrischen Gedicht gelten zu konnen. 
Die Form seiner Gedichte wachst organisch aus dem dichtenden An- 
trieb hervor. Jung und hoffnungsvoll — mit diesem Urteil kann 
man sich iiber jede seiner Schopfungen freuen. Eine Personlichkeit 
ohne alien Zweifel. Ihn genialisch zu nennen, mochte ich nach 
den unausgereiften Proben nicht wagen (Hiller tut es). Genialisch 
ist unter alien Vertretern der „rigorosen" Kondor-Kunst nur Else 
Lasker-Schliler, und die brauchte es nicht mehr zu erweisen. Von der 
wussten wir es schon vor zehn Jahren, Herr Hiller. 

Es bediirfte eines viel weiteren Raumes, als mir hier verfilgbar 
ist, um mich mit jedem einzelnen der Kondor-Dichter auseinanderzu- 
setzen. Glucklicheirweise machen es mir aber die meisten von ihnen 
leicht, sie im Ramsch zu erledigen. Denn es ist bezeichnend fur 
diese lyrischen Neutoner, die wir nun also als die Reprasentanten 
aller zeitgenossischen Verskunst anerkennen sollen, dass sie in ver- 
bliiffendem Masse von einander abhangig, dass sie wechselseitig ihre 
eignen Epigonen sind. 

Horte ich von Heym immer nur ein paar losgerissene Verse 
und sahe die Einheitlichkeit seiner Gedichte nicht, so wlirfe ich ihn 
unter die andern und sagte: Jacke wie Hose. Da ich ihn aber kenne 
und als eigne Kraft schatze, glaube ich ihn als Anreger herausheben zu 
sollen und lasse im ilbrigen die Entscheidung offen, ob die weniger 
Selbstandigen von Heym oder von ihresgleichen beeinflusst sind. 
Lyrik, scheint mir, ist der personlichste Ausdruck klinstlerischer 
Empfindung, die denkbar ist. Ein Dichter, den nicht jeder seiner 
Verse unverkennbar verrat, wird sich seiner Kunst schwerlich ruhmen 
dilrfen. Nun vergleiche man: 

„Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch, 
wo Bettler starren auf die Graten bose. 



') „Der ewige Tag". Zweite Auflage. „Umbra Vitae". Nachge- 
lassene Gedichte Beide 1912 bei Ernst Rowohlt Leipzig 



— 75 — 

Sie futtern einen Blinden mit Gekrose. 
Er speit es auf das schwarze Hemdentuch." 

(Georg Heim.) 

„Die Dirnen zlingeln im geschlossnen Munde, 
die Dirnen, die ihn welkend weich umwerben. 
Ihn angsten Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben, 
Zuhaltermesser und die grossen Hunde." 

(Ernst Blass.) 
„Viel farbengeile Fingerspitzen kosen, 
der Japandrucke Pracht mit Dreistigkeit, 
den braunen Raum durchrinnen Nebelhosen 
von Zigarettenduft und Geistigkeit." 

(Kurt Hiller.) 

Diese flinfjambige Prosaprotzerei in lyrischen Gedichten liesse 
sich noch an vielen Beispielen dartun, ohne dass ein Leser mit an- 
nahernder Gewissheit sagen konnte, wer der Verfasser ist. Hochstens 
Herrn Hiller erkennt man an seinen schauerlichen Reimen: 

„Ein seliger Ekel zeigt mir Ewiges . . . 
O schaut aus dem verdreckten Licht der Birnen: 
Es wehen Hauche nass von kilhlen Firnen, 
am Stahl des Himmels zuckte Mowiges" 

Unter den Anregem in diesem Kreise scheint mir neben Georg 
Heym Ferdinand Hardekopf der fruchtbarste. Entlehnen die Kondo- 
risten von Heym den Naturalismus des Schauens und die Form 
der Gestaltung (das von Heym bevorzugte, etwas salopp behandelte 
Sonett wird — inklusive der saloppen Behandlung — besonders ge- 
schatzf), so liefert Hardekopf die Blumigkeit des Ausdrucks: „In 
Bastseide, durchsickert von malvenfarbenen Eisenbahnschienen, rakelte 
sich Pierot . . " . „Leider bin ich verdammt, aus diesem schmutzi- 
gen Licht Angst zu pulsen, den Schein in Grauen zu transfor- 
mieren, in Sentiments, in Elend-Quatsch." — 

Hardekopf kommt vom Journalismus her. Er hat als Theater- 
und Literaturkritiker feine, scharfe, geschliffene Urteile in eine 
stilisierte Sprache zu fangen gesucht und dabei ebenso oft die 
Reportage zur Dichtung erhoben, wie er in schopferischen Bestre- 
bungen dem ubelsten Snobismus verfallen ist. Aber eine geistige 
Potenz ohne alle Frage, ein Journalist von Geschmack und Kultur, 
ein Stilist, der aus der Verschmelzung Hardenscher und Kerrscher 
Spracheigenheiten sehr personliche Wirkungen zu krystallisieren wusste. 



— 76 — 

— Was er im „Kondor" und im „Ballhaus" *) ajs Lyrik absondert, 
ist durchaus Journalismus, und leider rumeist gepflegter Snobismus, 
zumal die drei Kondor-Beitrage. Wie heftig hingegen seine Art auf 
die „Rigolrosen" gewirkt hat, dafilr ein paar Beispiele: 

„Ein Prunksalon, wie eine Schiffskajiite. 
Man sitzt in Club-Fauteuils bei Sekt und drinks. 
Die schmalsten Madchen tragen Riesenhiite 
und lacheln sanft wie Madchen Maeterlincks. 

(Ferdinand Hardefcopf im „Ballhaus".) 

„0 komm! O komm, Geliebte! In der Bar 
verrat der Mixer den geheimsten Tip. 
Und iiberirdisch, himmlisch steht dein Haar 
zur Rotlichkeit des Cherry-Brandy-Flip". 

(Ernst Blass.) 

,, . . . Deine Fliedarweste, 
du fahler Maler, kiisst mich sehr; Boheme-Girl, 
dein Shaw glanzt ganz zitronen; du, System-Earl, 
tragst statt des Schlips zerwalkte Himberreste." 

(Kurt Hiller.) 
„Gllihgrun lampjongt es in den Baumbestanden 
zierratsbehuf und olgemut herum" usw. 

(Arthur Kronfeld. ) 

Hardekopf liebt in seinen Kritiken Adjektivbildungen auf esk, 
Natlirlich redet der einleitende Hiller von „padagogesken Assozia- 
tionen", und Herr Arthur Kronfeld betitelt ein Sonett in leichen- 
schanderischer Anmassung „Liliencronesk". 

So sind sie, die Rigorosen. Man bedauert die, die sich in die 
Gefilde ihrer „radikalen Strophen" hineinverirrten, so Herrn Paul 
Zech, dessen nicht sehr betrachtliche aber sympathische Landschafts- 
lyrik wohl mehr durch Cafehausbeziehung als durch seelische Attraktion 
in den Kondor geriet. 

Sehr komisch ist nun Herr Hiller in seiner (einleitenden) 
Polemik. Er erwiirgt namlich mit viel Vokabelschwall die Kunst 
Stefan Georges, die nun, ebenso wie die der Nachgebliebenen 
der „literarischen Revolution", von den Kondoristen endgiiltig ttber- 



4 ) „Ballhaus". Ein lyrisches Flugblatt von: Ernst Blass, Max 
Brod, Fritz Max Cahen, Hanns Wilhelm Eppelsheimer, S. Friedlaen- 
der, Victor Hadwiger t, Ferdinand Hardekopf, Max Herrmann, Arno 
Holz, Else Lasker-Schiiler, Rudolf Leonhard, Rolf Wolfgang Mar- 
tens, Alfred Richard Meyer, Anselm Ruest, Rene Schickele, Ernst 
Stadler, mit einem Prolog von Rudolf Kurtz und einem Titelblatt 
von Walter Roessner, Verlag A. R. Meyer, Berlin-Wilmersdorf. 



— 77 — 

holt und an die Wand gequetscht ist. Der Aesthetizismus ist tot 
und der Naturalismus insgleichen. Herr Hiller merkt nicht, dass das, 
womit er die Lucken ausfullen mochte, aus beiden Kategorien das 
Peinliche bewahrt hat, und dass seine Anthologie (wenn von den paar 
Dichtern, die dort mitfigurieren, abgesehen wird) nichts anderes 
darstellt als Blatter fur verschmockte und aesthetisierende, form- 
schlechte Prosa-Verskunst. Hiller bestreitet mit Recht, dass die 
Anwendung ungewohnlicher Vokabeln „an sich ein Beweis fiir 
Tiefe sei". Er- sagt das im Vorwort zu einem Buche, in dem er 
Wendungen druckt wie diese: „Der Fluss liegt still wie eine 
Zuckerstange, dran Kinder horbar lutschen — " (Arthur Drey). „In 
Pfutzen-Augen blinkt, gemassigt-uppig, der Wunsch, reelle Kragen- 
hohen aufzufischen." (Ferdinand Hardekopf.) „Die azurnen Kerne 
zerrieselten zu Malvenflaum." (Kurt Hiller.) „Huftig, schwank, die 
Windgemahnte." (Arthur Kronfeld.) „Und uberall Geruch nach 
altem Plilsch und Hurenseife." (Ludwig Rubiner.) Die Worte 
„schwirr", „strack" und „stief", die sich in dem Buche finden, 
gehoren wohl auch hierher. 

„Was alle diese treiben ist nicht Kitsch, sondern immerhin 
schlechte Kunst", erklart Kurt Hiller (einleitend) und meint damit 
Stefan George, die Naturalisten und die Heimatkunstler. Was die 
Kondoristen treiben ist hingegen nicht nur „immerhin schlechte 
Kunst", sondern auch Kitsch, weil ihre Augen keine guten Bilder, 
sondern schlechte Oeldrucke schauen, und weil sie sich einbilden, 
Kunst sei die plumpe, unverarbeitete Beschreibung roher 'Sinnes- 
eindrucke mit angehangter Pointe und einem dicken Knalleffekt. 

Solche gereimte Prosa, wie sie uns hier als „fortgeschrittene 
Lyrik" aufgetischt wird, hat es immer gegeben. Solche Gedichte — und 
bessere, weil sie sich nicht mit behabiger Beschreibung begnilgen 
— finden sich bei Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Erich Miihsam, 
Dr. Owlglas massenhaft. Nur ist von denen noch keiner darauf ge- 
kommen, die Verse als Lyrik auszugeben. Ich personlich habe die 
Gedichte, die zum Teil in die Verwandtschaft der Blass-Hardekopf- 
schen Art gehoren, in meinem Gedichtbuch „Der Krater" ausdrilck- 
lich von dem ersten rein yrischen Teil getrennt. Die anspruchs- 
volle Aufmachung der „Kondors" beweist nichts fiir den Zukunfts- 
wert seines Inhalts. Wenn es wahr ware, was Hiller (einleitend) 
behauptet, dass im Kondor eine „Dichter-Sezession" sich mani- 
festiere, und das soil doch wohl heissen, eine Auswahl der auffind- 
bar Besten, dann standen wir dem blanken Bankrott deutscher 
Lyrik gegenilber. Wir wollen nicht aufhoren, auf besseren Nachwuchs 
zu hoffen, der ohne die Protektion einer westlichen Berliner Cafe- 
haus-Clique s einen Weg und seine Hohe findet. 



78 



Bemerkungen. 



Ettor und Giovannitti. Der vornehmlich sozialkritische Charakter 
dieser Zeitschrift enthebt mich gewohnlich der Verpflichtung, meinen 
Lesern tatsachliche Berichte vorzulegen. Das ist Aufgabe der Tages- 
presse. Manchmal aber, wenn die Zeitungen eine wichtige Begeben- 
heit merkwurdigerweise nicht erfahren haben, flihlt sich der „Kain" 
genotigt, helfend einzugreifen. Folgender Vorfall ist der burgerlichen 
und sozialdemokratischen Presse vollig entgangen: 

In der nordamerikanischen Stadt Lawrence im Staate Massachutes 
gewannen die Textilarbeiter, die dort das Hauptkontingent der Be- 
volkerung stellen, einen Streik. Die Besitzer der Webereien haben 
infolge dieses Lohnkampfes von jetzt ab insgesamt jahrlich 16 Mil- 
lionen Dollar mehr an Lohnen auszuzahlen. — Eine derartige Bewe- 
gung geht nie ohne starke agitatorische Anfeuerung vor sich, und 
gewaltsame Zusammenstosse zwischen Streikenden und Polizei sind 
dabei eine sehr haufige Erscheinung. Zur Belebung des Streikes 
waren zwei Propagandisten der revolutionaren Gewerkschaftsbewegung 
Nordamerikas nach Lawrence gereist: Joseph Ettor und Arturo Giovan- 
nitti. Sie reisten wieder ab, als sie sahen, dass der Streik gilnstig 
verlief. Nachdem sie fort waren, wurde in einer Versammlung eine 
streikende Arbeiterin erschossen. Versammlungsteilnehmer behaupten, 
gesehen zu haben, dass der Morder ein Polizist war. Die Regierung 
des Textiltrusts aber liess die Agitatoren Ettor und Giovanniti ver- 
haften, die sich bereits tausend Kilometer von Lawrence entfernt, 
aufhielten. Es wird ihnen der Prozess gemacht wegen Aufforderung 
zum Mord. Die Strafe, die ihnen droht, ist der elektrische Stuhl. 

Seit Ende Juni erregt diese Angelegenheit die Gemliter der 
internationalen revolutionaren Arbeiterschaft leidenschaftlich. Den Ka- 
pitalisten wird vorgeworfen, sie wollen ihre 16 Millionen Dollar an 
Ettor und Giovannitti rachen. Man befiirchtet eine Wiederholung 
des entsetzlichen Justizmordes in Chicago vom II. November 1887, 
wo — in einem ganz ahnlichen Falle — fiinf Revolutionare gehangt 
wurden. Im wieder aufgenommenen Verfahren wurde spater ihre 
Unschuld erkannt, ihre zu Zuchthaus verurteilten Genossen wurden 
freigelassen, die Hingerichteten aber blieben tot. — Fur die Rettung 
Ettors und Giovannittis werden seit Wochen in aller Welt Protestver- 
sammlungen abgehalten, Resolutionen gefasst und Gelder zu ihrer 
Verteidigung gesammelt. Die „Schwedische Jungsozialistische Par- 
tei" und die „Zentralorganisation der Schwedischen Arbeiter" haben an 
die Arbeiter der ganzen Welt einen Aufruf erlassen, worin sie zum 
allgemeinen Boykott amerikanischer Produkte auffordern. Ferner 
ermuntern sie die Organisationen der Transportarbeiter, von einem fest- 
zusetzenden Tag an die Ausladung der amerikanischen Schiffe zu 
verweigern. Der Boykott soil dauern, bis Ettor und Giovannitti 
freigelassen sind. 

Die burgerlichen Zeitungen Deutschlands, die ihre Kenntnisse tiber 
die Arbeiterbewegung wohl grossenteils aus der sozialdemokratischen 
Presse beziehen, haben vielleicht wirklich nichts von diesen die revolu- 
tionaren Kreise aller Lander bewegenden Vorgangen erfahren. Die 
sozialdemokratischen Blatter aber miissen daruber informiert worden 
sein. Sie haben hochstens in einem kurzen Telegramm die Nachricht 
von der Verhaftung der beiden Revolutionare gebracht, von der leiden- 
schaftlichen Beteiligung der revolutionaren interessierten Kreise der 



— 79 — 

ganzen Welt aber mit keinem Wort Notiz genommen. Ettor und 
Giovannitti sind namlich keine Sozialdemokraten, sondern sozialistische 
Radikale. Die mogen getrost kalt gemacht werden. Ware die 
Lawrencer Polizei-, Justiz-, Kapitals- und Staatstat so amlisant wie 
die New-Yorker Spielbanksmorderei des Polizeileutnants Becker, dann 
wars was anderes. Wozu aber den deutschen Wahler mit dem 
Ernst des Lebens langweilen? 



Der Veteran Drux. Wer eine Gesellschaftsordnung, die jahr- 
lich hunderte von Menschen, darunter massenhaft Kinder und Greise, 
an Hunger und Entkraftung zugrunde gehen lasst, filr wert halt zer- 
triimmert zu werden, ist bekanntlich ein ehrloser Verbrecher. Der 
Patriot halt solche Gesellschaftsordnung filr so wertvoll, dass er zu 
ihrer Verteidigung freudig die Waffe nimmt und seinen Leib kam. 
pfend dem inneren und ausseren Feind darbietet. Franz Wilhelm 
Drux war ein Patriot. Er hatte 1870 tapfer mitgefochten, trug seine 
Ehrenzeichen stolz vor der Brust, schwelgte in seligen Kriegserinne- 
rungen, hungerte und darbte und sank, 68 Jahre alt, in einem Hofe 
der Dilsseldorferstrasse in Wilmersdorf, durch Hunger und Ent- 
behrungen vollig erschopft, tot zusammen. Franz Wilhelm Drux war 
ein Patriot. Ein Patriot halt unsere Gesellschaftsordnung filr so wert- 
voll, dass er zu ihrer Verteidigung freudig die Waffe nimmt und seinen 
Leib kampfend dem inneren und ausseren Feinde darbietet. Wer eine 
Gesellschaftsordnung, die jahrlich hunderte von Menschen, darunter 
massenhaft Kinder und Greise, an Hunger und Entkraftung zugrunde 
gehen lasst, filr wert halt zertrummert zu werden, ist bekanntlich ein 
ehrloser Verbrecher. 



Die Miinchner Post. Die Herren am Altheimereck brauchen 
sich nicht zu angstigen. Sie sind nicht gemeint, sondern die vortreffliche 
Anstalt, der die Uebermittlung der Rechnungen, Mahnungen, Liebes- 
grlisse und Freundschaftkiindigungen obliegt. Die Miinchner Post 
unterscheidet sich von der Zeitung gleichen Namens hauptsachlich 
dadurch, da ss ihre Findigkeit nicht nur bei den Bettgeheimnissen 
unbequemer Mitmenschen haltmacht, sondern nicht einmal zur Ermitt- 
lung der Hausnummer bei sehr bequemen Leuten ausreicht. Ich 
erhielt kiirzlich auf dem Umwege fiber mein Stammcafe eine Post- 
sendung, der ein Kuvert mit abgestempelter Marke und folgender 
Adresse beilag: „Herrn Erich Miihsam, Schriftsteller, hier. Akademie- 
strasse." Das Kuvert trug auf der Vorderseite den aufgestempelten 
Vermerk „zuriick", auf der Riickseite war handschriftlich zu lesen: 
„Adr. Akademiestr. ohne Nummer unbekannt". 

Ich konstatiere: Ich wohne im Hause Akademiestrasse 9 seit 
einem Jahr und 10 Monaten. Die Akademiestrasse ist nur auf einer 
Seite mit bewohnten Hausern bebaut. Die andere Strassenseite 
wird vollstandig von der Akademie der bildenden Kiinste in Anspruch 
genommen. Die bewohnte Seite zahlt etwa zehn Hauser. Ich bin 
in Miinchen der einzige Erich Miihsam und der einzige Schriftsteller 
Miihsam. Als ordentlicher Staatsbiirger bin ich pflichtgemass polizei- 
lich angemeldet. Der Postbote bringt mir tagtaglich einen ganzen 



— 80 — 

Stapel Briefe ins Haus, und ausserdem — das bemerke ich nicht aus 
Eitelkeit sondern, ohne viel Freude daran zu haben, aus Wahrheits- 
liebe — bin ich in Bayerns Hauptstadt bekannt wie eine bunte Kuh. 

Als ich in Wilmersdorf wohnte, bekam ich einmal einen Brief 
mit der Aufschrift „Herrn Schriftsteller Erich Milhsam, Berlin" richtig 
zugestellt. Da stimmte noch nicht einmal die Stadt. Der Munchner 
Post aber bin ich „ohne Nummer unbekannt." — Im akuten Fall 
handelte es sich um eine in Miinchen aufgegebene Drucksache 
(das Kuvert steht der Postdirektion zur Verfugung). Da war das 
Malheur nicht gross, zumal sich der Absender zu helfen wusste. 
Wenn ich mir aber vorstelle, es konnte einmal in einem eine Tagereise 
entfernten Grenzort ein Brief mit schicksalsentscheidenden Nachrich- 
ten, auf die ich krampfhaft warte, an mich abgehen, der wegen man- 
gelnder Hausnummer-Bezeichnung nicht in meine Hande gelangte, 
dann danke ich doch fur das Vergntigen. Dann pfeife ich auf die 
bayerischen Reservatrechte mit der eigenen koniglichen Armeen 
der Strafbarkeit des Konkubinats und der koniglich bayerischen 
Postschlamperei. Sollte es aber einmal passieren, dass mir durch die 
postalische Betriebstlichtigkeit ein geschaftlicher Nutzen durch die 
Finger geht, dann kann sich die Behorde auf eine Schadenersatzklage! 
gefasst machen, die sich gewaschen hat. 



Verworfen. Auch bei diesem Stichwort brauchen sich die Herren 
am Altheimereck nicht zu angstigen. Nicht sie sind diesmal gemeint, 
sondern die Berufung, die ich gegen meine Bestrafung wegen 
„Eisenbahnbetriebsordnungsubertretung" eingelegt hatte (vgl. „Kam", 
Heft 3.): Das schriftliche Urteil steht noch aus. Damit sollen meine 
Leser spater erfreut werden. Inzwischen wird Revision zum Obersten 
Landesgericht eingelegt. Wie der selige Michael Kohlhaas fur sein 
Recht will ich fur meine nachtliche Schale Schwarz kampfen. Quod 
Deus bene vertat ! 



Das Tagebuch aus dem Gefangnis musste wegen Raummangels 
in diesem Heft ausfallen. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. 1 la. Tel. 2355 



KAIN, Hett 1. Inhalt: Anarchistisches Bekenntnis. — Munchner 
Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. — Die 
Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchener Post". — 
Die Tugend hat gesiegt. 

KAIN, Heft 2. inhalt: Politisches Variete. — Tagebuch 
aus dem Gefangnis. — Der riihrige Zensor. — „Titanic." — 
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem „Krater". 

KAIN, Heft 3. Inhalt: Strindberg. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Munchner Theater. — Bemerkungen. — Bonnot 
Gamier und Co. — Der Kampf mit dem Drachen. — Die ent- 
sprechende Siihne. — Geburtstagsgriisse. — Maria im Rosenhag. 

KAIN, Heft, 4. Inhalt: Die Presse. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Bemerkungen. — Kritinismus. — Neues von der 
Theaterzensur. — Die Polizeiassistentin. — Zeppelins Pech. — 
Saccharin. — 



Saturnverlag 



Harmann Malstar, H ei del barg . 



Seit August 1911 erscheint: 



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Eine Monatsschrift fiir Belletristik, Kritik, Satire, Lyrik und Schwarz- 
Weiss-Kunst, herausgegeben von Hermann Meister und Her- 
bert Grossberger. 
Von den Mitarbeitern seien u. a. genannt: 
Oskar Baum, Ernst Blass, Max Dauthendey, Albert Ehrensteinj 
Johannes von Guenther, Otto Hinnerk, Rudolf Kurtz, Heinrich 
Lautensack, Otto Stoessl, Felix Stossinger, Emile Verhaeren, Paul Zech. 
Von Urteilen fiihren wir an: 
„Auf die unabhangige Zeitschrift sei mit Nachdruck hinge- 
wiesen." Prager Tagblatt. 

„Eine Zeitschrift von Individualisten fiir Individualisten". 

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Jahrgang n. Miinchen, 

No. 6. September 1912. 

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Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 



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Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag", 

Miinchen. Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

l«m4..A..I.H..M„M"4..4.4..M. 4..4. J..t,,t,J.,».i..».i..t..t.. < ul..t„t..i„^.l,.t l ,t..4..I..I.J,^..t.t..4..i..l..t k.M^-A^-^K f^^littf f, 

Verbrecher und Gesellschaft. 
Die tiefe Verwahrlosung der Kultur unserer Zeit pragt 
sich am eindringlichsten in den Mitteln aus, mit denen 
die staatliche Gesellschaft ihre Einrichtungen nach innen 
und nach aussen schiitzt. Der Staat kennt in der Durch- 
fuhrung seiner Absichten keine andere Hilfe als die Gewalt. 
Zum Schutze beziehungsweise zur Erweiterung seiner 
geographischen Grenzen organisiert er stiindlich schlag- 
bereite, mit alien erdenklichen Mordwaffen ausgeriistete 
Riesenheere. Diese Heere rekrutieren sich aus Mannern 
des Volkes, die gegen ihren eigenen Vorteil mit Gewalt zum 
Militardienst gezwungen werden. Heer und Flotte wird 
durch gewaltsam eingetriebene Steuem alimentiert, und 
Gewalt zwingt die Menschen, sich den Gesetzen des 
Staates zu fiigen, die keine andere Bedeutung haben, als 
der offentlichen Gewalt das Ansehen ernes geweihten 
Rechtsgutes zu geben und sie gegeniiber der privaten Ge- 
walt zu privilegieren und zu monopolisieren. 

Um die Befolgung der Gesetze zu erzwingen, durch 
die die Beziehungen der einzelnen Menschen unter ein- 
ander schematisch geregelt werden, reicht alle Gewalt der 



— 82 — 

Erde natiirlich nicht aus. Ein Verstoss gegen die para- 
graphierte Ordnung der Dinge treibt die staatliche Ge- 
walt immer erst nachtraglich auf die Beine. Aber sie bleibt 
deshalb nicht untatig. Wo sie nicht mehr zwingen oder 
verhindern kann, straft sie. 

Dariiber, dass die Strafjustiz nicht den mindesten 
Schutz gegen unsoziale Handlungen bietet ist sich die 
moderne Rechtsgelehrsamkeit vollig einig. Das Prinzip der 
Rache der Gesamtheit gegen den Einzelnen wird von 
alien Ethikern iibereinstimmend verworfen. Die Bestrafung 
sogenannter Verbrecher hat demnach schon lange nur 
den Sinn, die Hilflosigkeit des Staates gegen Missach- 
tung seiner Gesetze durch die verspatete Demonstrierung 
seiner Gewaltmittel zu bemanteln. Dabei ist der Staat so 
erpicht darauf, zu strafen, dass ihm fur die Ermittlung 
von straffalligen Personen, auch wenn von ihrer Ergrei- 
fung niemand mehr Nutzen haben kann, keine Zeit, kei- 
ne Kosten und keine Anstrengung zu gross ist. 

Eine ganze Wissenschaft beschaftigt sich mit der Auf- 
findung unzuverlassiger Zeitgenossen, die gesamte Tech- 
nik wird, soweit sie nicht schon fur militarische Zwecke 
usurpiert ist, in Polizeidienste gestellt, Hunde werden 
auf Menschen gehetzt, und lieber setzt man erst ein Dut- 
zend Unbeteiligter ins Untersuchungsgefangnis, als dass 
man darauf verzichtete, einen Schuldigen auf Kosten der 
Steuerzahler in Staatsgewahrsam zu nehmen. 

Leider erweist sich jedoch jede kriminalistische Statistik 
als traurige Blamage fur den Prozesseifer der Staatsan- 
walte. Die Verbrechen nehmen nicht ab sondern zu, und 
da es in diesen Zeitlauften aufs heftigste verpont ist, hinter 
den Symptomen einer Erscheinung die Erscheinung selbst 
zu suchen, als welche sich eine im Kapitalismus begriin- 
dete sinnlose Gesellschaftsgebarung und dadurch ge- 
forderte soziale Note und sittliche Lockerungen ergeben 
miissten, hecken staatsfromme Burger immer neue und 
immer radikalere Mittel aus, mit denen man — nicht den 



— 83 — 

Verbrechen und ihren Ursachen, sondern den Verbrechern 
zu Leibe gehen solle. 

Die frankfurter Zeitung" brachte in ihrem ersten 
Morgenblatt vom 3. August dieses Jahres (Nr. 213) einen 
Artikel von A. J. Storfer (Zurich), der iiberschrieben war: 
„Kastration und Sterilisation von krirninellen Geisteskran- 
ken in der Schweiz." In dieser Abhandlung wird unver- 
bliimt der Vorschlag gemacht und begriindet, man solle 
verbrecherisch veranlagte Personen durch Vernichtung 
ihrer sexuellen Potenz fur sich und ihre Nachkommen von 
den Freuden des irdischen Daseins ausschliessen. Gleichzei- 
tig erfahren wir, dass dieses Verfahren in einer ganzen 
Reihe von amerikanischen Staaten langst eingefuhrt ist, 
und dass man es seit einiger Zeit auch schon in mehreren 
Anstalten der Schweiz angewandt hat. Herr Storfer eifert 
nun dafur, dass man der Frage auch in Deutschland naher 
treten moge und ermuntert besonders die Juristen, dem 
Gegenstand, der bisher nur zur Kompetenz der Aerzte 
gehorte, erhohte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Re- 
daktion der „Frankfurter Zeitung" schhesst sich in einer 
Schlussbemerkung dieser Anregung freundlich an. 

Die grauenvolle Tatsache, dass es bereits Lander gibt, 
in denen die Gesetzgeber die Scheusslichkeit einer kor- 
perlichen Verstiimmelung in die Folterkammer ihrer staat- 
lichen Gewaltmittel eingestellt haben, konnte als charak- 
teristischer Riickfall unseres Jahrhunderts in die Zeit der 
Hexenprozesse hingenommen werden, und die betreffen- 
den Staaten konnte man getrost der Verachtung der gan- 
zen kultivierten Welt uberlassen, trate uns die Mitteilung 
bloss als widerwartiges Kuriosum entgegen. Wir erfah- 
ren aber die ekelhafte Infamie in der Form einer Propa- 
ganda zur Nacheiferung. Wir erfahren, dass die Domanen 
dieser neuen Justizschweinerei demokratische Republiken 
sind, die sich auf ihre freiheithche Zivilisation besonders 
viel zu gute tun, und wir erleben, dass der erste Posaunen- 
stoss fur die Einfuhrung der Entsetzlichkeit bei uns nicht 



— 84 — 

von der abgewirtschafteten Kaste feudalistischer Kraftmeier 
ausgeht, sondern von einem Blatt, das — manchmal mit 
Recht — als das kulturell flihrende unter den Tageszeitun- 
gen gut. Es ist deshalb notig, dem verruchten Plan pole- 
misch entgegenzutreten, ehe das natiirliche Begreifen 
seiner Verruchtheit durch eine liberal-demokratische Sug- 
gestion, er sei ein Triumph der Entwicklung, betaubt 
wird. 

Natiirlich wird die Humanitat auch von den kastrier- 
wiitigen Staatsrettern bemiiht. Sie wollen namlich nicht 
etwa kastrieren und ihre Delinquenten zu ausserlich kennt- 
lichen Eunuchen machen, sondern bloss „sterilisieren", 
was als „dauernde Durchtrennung der die Fortpflanzungs- 
zellen von den Geschlechtsdriisen nach aussen leitenden 
Kanale" definiert wird. Diese Operation, heisst es empfeh- 
lend, kann innerhalb drei Minuten ausgefuhrt werden und 
„der Operierte kann sofort zu seiner Arbeit zuriickkehren". 
Herr Storfer berichtet: „Im Jahre 1907 nahm Indiana, der 
Heimatstaat von Dr. Sharp (dem Erfinder der Sterilisa- 
tion) ein Gesetz an, demnach jede staatliche Anstalt fur 
Verbrecher und Schwachsinnige zwei Chirurgen zugeteilt 
bekommt. Wenn nach dem Urteil der kompetenten Or- 
gane die Fortpflanzung irgend eines Insassen nicht wiin- 
schenswert und eine Besserung seines Zustandes durch- 
aus unwahrscheinlich ist, wird die Sterilisation vorge- 
nommen." Welchen Eifer die „kompetenten Organe" von 
Anfang an entwickelten, ergibt sich aus der in befriedig- 
tem Sperrdruck verkiindeten Feststellung, dass in den 
ersten vier Jahren nach Annahme des Gesetzes nahezu 
900 Manner, hauptsachlich Verbrecher, sterilisiert wurden. 

Die grosse Zahl derer, deren Fortpflanzung „nicht 
wiinschenswert" erscheint, erklart sich leicht, wenn man 
die Aufzahlung der Einzelfalle beachtet, die in unserem 
trauten Nachbarlande, der freien Schweiz, praktiziert wur- 
den. Ich will von den Kindesmorderinnen absehen, von 
denen da die Rede ist. Derm ich gebe den Herren Kastra- 



— 85 — 

toren zu, dass eine Frau, die keine Kinder kriegen kann, 
ihre Kinder auch nicht morden wird, wenngleich mein 
Widerwille gegen den gewaltsamen Eingriff in den Korper 
dieser Frauen durch fremde Personen nicht geringer ist 
als gegen die Gewalttat, die sich die Mutter selbst zu- 
schulden kommen liessen. Ich sehe die beiden Verbre- 
chen nur in der Nuance unterschieden. — Da wird aber 
auch von der „Kastration eines moralisch defekten Dienst- 
madchens", gesprochen, bei der „nicht nur die Fortpflan- 
zung verhiitet, sondern auch der sexuelle Faktor, der fur 
ihre Lugenhaftigkeit und ihre Diebstahle offenbar mitbe- 
stimmend war, bis zu einem gewissen Masse ausgeschaltet 
werden" sollte. Erzahlt also ein Madel seiner Dienstherr- 
schaft, es miisse seine Tante beerdigen helfen, wahrend 
es in Wahrheit zum Schatz will, so kastriert man es. — 
Einer geschiedenen Bankbeamtensgattin wurde die „sug- 
gestionskraftige Lugenhaftigkeit" wegsterilisiert, und ein 
funfzehnjahriges Schulmadchen wurde entweibt, weil es 
sich schon seit Jahren sexuell betatigte und dabei der 
verfuhrende Teil war. Die Tatsache friiher starker Sinn- 
Uchkeit geniigt also diesen Weltverbesserern schon zu 
einem Eingriff in die personlichsten Rechte von Menschen 
und zur dauernden Unterbindung sinnlicher Regungen. 
Ich habe fur das Verfahren kein anderes Wort als: 
viehisch! 

Als wissenschaftliche Basis, auf der sich die neue 
Kriminal-Theorie aufbaut, muss Lombrosos Vererbungs- 
lehre herhalten. Die „erschreckende Haufigkeit, mit der 
sich Defekte vererben", wird als ein naturgesetzliches 
Axiom behandelt und auf solche vage Theorieen stiitzt sich 
dann — wie man sieht, mit Erfolg — die Forderung, 
die unzahlige Menschen von dem einzig Versohnlichen 
ausschliessen will, das das Leben ihnen bieten kann. Es 
wird das Beispiel eines amerikanischen Verbrechers ange- 
fiihrt, von dem man 1200 Nachkommen in 75 Jahren nach 
weisen konnte. Darunter waren 310 Gewohnheitsbettler, 



— 86 — 

die zusammen 2300 Jahre in Armenhausern verpflegt wur- 
den, 50 Prostituierte, 7 Morder, 60 Gewohnheitsdiebe und 
130 andere Verbrecher. „Die Kosten", heisst es weiter, 
„die die Nachkommenschaft dieses einen Menschen der 
Oeffentlichkeit verursacht hat, belaufen sich auf Millionen". 
Aha, die Kosten. Wenn gar kein Argument Ziehen sollte, 
der Hinweis auf den Geldbeutel wird gewiss die Einsicht 
dafur kraftigen, dass unbequeme Nebenmenschen ver- 
schnitten werden miissen. 

Nun klingen ja die angefuhrten Zahlen sehr schreck- 
hch. Ich mochte jedoch dieselbe Statistik zur Unterlage 
folgender Betrachtung machen: Ein Verbrecher, ein Aus- 
gestossener also und Gemiedener, wird Stammvater von 
1200 Personen binnen 75 Jahren. AUe diese 1200 Men- 
schen sind unterernahrt aufgewachsen, sind infolge ihrer 
Herkunft sozial degradiert, sind nie erzogen und nie ge- 
bildet worden. Dass von diesen von Hause aus zum Hun- 
gern Verurteilten 25,8 Prozent betteln, wird niemand iiber- 
raschen. Dass von den Frauen (die ich auf 600 anneh- 
men will) 10 Prozent durch die Vermietung ihres Leibes 
ihren Unterhalt erwerben, scheint mir iiberraschend we- 
nig. Wenn unter den Personen, die Eigentum nie beses- 
sen haben und die sich zeitlebens wie Hunde behandeln 
lassen mussten, denen alles Menschliche im staatlichen 
Ordnungsbetriebe gewaltsam aus der Seele gerissen wur- 
de, 5 Prozent die Unterscheidung zwischen Mein und Dein 
und 0,58 Prozent den Respekt vor dem Leben anderer 
Leute eingebiisst haben, so kann ich auch dabei nichts Auf- 
regendes finden, als die Tatsache selbst, dass die verfluch- 
ten Gesellschaftsverhaltnisse der Gegenwart imstande sind, 
unzahlige Menschen im embryonalen und Sauglingszu- 
stand schon und dann das ganze Leben hindurch an aller 
Entwicklung zu verhindern. Was die 130 „andern Ver- 
brecher" fur Spezialscheusaler sind, wird in der Statistik 
nicht verraten. Rechnen wir sie zu den ubrigen, so er- 
gibt sich, dass von den Nachkommen des Verbrechers mehr 



— 87 — 

als die Halfte trotz der ungiinstigsten Bedingungen ihrer 
Existenz einen Wandel fuhrten, an dem nicht einmal die 
statistischen Schnuffler, die sich mit dieser Familie ausgie- 
big beschaftigten, etwas fur ihr kriminalistisches Material 
Verwendbares zu finden wussten. Das Beispiel ist also 
zur Begriindung der Kastration als sozialhygienisches Pro- 
hibitivmittel unbrauchbar und liefert nur Material fur die 
ungeheuerlichen Zustande des kapitalistischen Gesell- 
schaftsgefiiges. 

Man hat schon aus den angefiihrten-Beispielen ge- 
sehen, wie weit der Begriff „Verbrechen" gedehnt werden 
kann und wie schon die arztlichen Vorkampfer der Idee 
Prostitution, hervorragende Sinnlichkeit, Liigenhaftigkeit 
und ahnliche Dinge als Eigenschaften beanspruchen, die 
die Verstiimmelung der betreffenden Personen rechtfer- 
tigen. Wohin es fiihren wird, wenn die erstrebte „gesetz- 
Uche Grundlage" fur die Verschneidung Tatsache wird, ist 
unberechenbar. Zweifelt irgend ein Mensch, dass man 
sehr bald dahin gelangen wird, unbequeme Ansichten als 
vererbbare Eigenschaften imbeziller Naturen zu betrach- 
ten und zu behandeln? Sozialisten, Anarchisten, Athe- 
isten, erotische Schriftsteller und Maler, Ehebrecherinnen 
und Kurtisanen, Majestatsbeleidiger, Trinker und Spie- 
ler sind bedroht, ohne Riicksicht darauf, ob sie fur die 
Kultur der Menschheit dauernde Werte schaffen oder 
nicht. Von Homosexuellen gar nicht zu reden. Kennt 
doch schon der Bericht iiber die in der Schweiz bereits aus- 
gefuhrten Operationen „die Kastration zweier Manner, 
deren Leben von einem pathologisch ubermachtigen Se- 
xualtrieb in einer sowohl fur die Gesellschaft als fur sie 
selbst ausserst ungiinstigen Weise beherrscht war." 

Heutzutage wird man fur Zeit eingesperrt, spaterhin 
wird man fur die Dauer des Lebens ungliicklich gemacht 
werden. Wir, die wir das eine wie das andere als men- 
schenunwiirdig und dumm obendrein ablehnen, werden 
fortwahrend gefragt: wie soil sich denn nun die Gesell- 



schaft gegen unsoziale Elemente schiitzen? Die Antwort 
ist seht einfach: indem sie menschliche soziale Einrich- 
tungen schafft. Dass es ungeheures Elend gibt, und dass 
solches Elend ewig Verbrechen zeugt, sieht jeder, der 
Augen hat. Deshalb ist die Propaganda fur den Sozia- 
lismus auch etwas sehr andres, als der erkliigelte Sport 
weltfremder Schiwarmer. Aufklarung ist notig iiber die 
Ursachen der sozialen Verrottung. Fast samtliche Ver- 
brechen, die begangen wurden, geschehen aus dem An- 
triebe der Not. Die Strafgesetze, nach denen wir uns 
richten miissen, schiitzen zum iiberwiegenden Teil den 
Besitzenden gegen die Geliiste des Armen. FreiUch gibt 
es auch Vergehen gegen die Rechte des Nebenmenschen, 
die von andern Trieben als denen der Selbsterhaltung 
bestimmt werden. Ich glaube aber, dass in solchen Fal- 
len eine Luft- oder Diat-Veranderung allemal mehr Nutzen 
stiften wird als eine verbitternde Internierung hinter ver- 
gitterten Fenstern. Vor allem sollten sich die Massnah- 
men, die die Gesellschaft zu ihrem Schutze ergreift, nie- 
mals entfernen von den Eingebungen der Menschlich- 
keit. Verstandigung fiihrt weiter als Gewalt. Als ich 
es seinerzeit unternommen hatte, die sogenannten Ver- 
brecher, den „Auswurf" und die „Hefe", die Lumpen 
und Vagabunden in ihren Kaschemmen aufzusuchen und 
von Mensch zu Mensch mit ihnen iiber ihre Not und deren 
Ursachen zu sprechen, da fiel alles hohnend und schim- 
pfend iiber mich und meine Kameraden her. Ich glaube 
aber immer noch, dass unser Verfahren zu besserem Ziele 
fiihren muss als Zuchthaus, Arbeitshaus und Gefangnis, 
zu besserem Ziele auch als „die dauernde Durchtrennung 
der die Fortpflanzungszellen von den Geschlechtsdriisen 
nach aussen leitenden Kanale". 



Munchener Theater. 
Speidel. 

Der Tod des Generalintendanten Freiherrn v. Speidel ist die 
schlimmste Katastrophe, die das Munchener Theater in diesem Augen- 
blick treffen konnte. Einen ehrenvolleren Nekrolog weiss ich dem 
Verstorbenen nicht zu widmen, als die Feststellung, dass grosser 
noch als die Trauer um den liebenswlirdigen feinen Mann und 
lauteren Charakter die Sorge ist um die Erhaltung seines Werks. 
In der Nachricht, die am I. September einer dem andern weitergab: 
Speidel ist tot — lag die bange Frage: Was wird aus dem Hof- 
theater ? und damit die Gewissheit: ware Speidel am Laben ge- 
blieben, dann hatten wir auf eine weitere Entwicklung der Blihnen 
zu wertvollen Kunstinstituten sicher hoffen dilrfen. 

Ueber die Dienste, die Albert v. Speidel den Opernhausern 
geleistet hat, steht mir kein Urteil zu. Mir fehlt dazu die musika- 
lische Bildung und Vergleichsmoglichkeit. Aber ich weiss, dass 
Speidel seinerzeit Mottl zum Direktor der Hofoper machte, und in 
dieser Handlung liegt schon das Zeugnis, dass ihm auch im grossen 
Hause und im Prinzregententheater jedes autoritare Streben fernlag, 
und dass ein reiner anstandiger kunstlerischer Wille sein Wirken 
bestimmte. 

Dem Schauspiel des Hoftheaters hat Speidel unschatzbaren Nutzen 
gestiftet. Er hat — als unmittelbarer Nachfolger Ernst v. Possarts 
— seiner Anstalt modern gebildete Klinstler zugefuhrt und hat ihnen, 
was ihm, dem hofisch erzogenen Offizier, besonders hoch angerechnet 
werden muss, moderne klinstlerische Aufgaben gestellt. Er hat 
die traditionelle Hoftheaterei, die er vorfand, durch eine zeitgemasse 
Regie zu reformieren getrachtet und dazu erst Albert Heine, dann 
Albert Steinriick nach Milnchen gezogen. Seine Absicht, Hermann 
Bahr die Leitung des Schauspiels zu ilbertragen, scheiterte an dem 
Geschrei der Moralhiiter, die ihr Spiel dadurch gewannen, dass 
Bahr die Selbstverstandlichkeit, das er als freier Mensch Anarchist ist, 
einmal ausgesprochen haben soil. Freiherr v. Speidel wusste, in 
welcher Zeit er lebt und fiihrte daher zum Entsetzen gewisser 
Frommlinge zeitgenossische Autoren auf: Bahr, Schnitzler, Halbe, 
Ruederer, Wedekind, Thoma. 

Gewiss ist das Hoftheater heute noch keine zweifelfreie Muster- 
anstalt. Zumal bei den Auffilhrungen klassischer Stucke mochte 
man angesichts der konservativeren Darsteller, bei denen die Possar- 
tistik immer noch sehr im Schwunge ist, oft stohnend davonlaufen. 
Es ist aber zu beriicksichtigen, dass Speidel mitten in der besten 
Arbeit abtreten musste. Die Tendenz seiner Tatigkeit arbeitete 
unzweideutig auf die Modernisierung des Theaters hin. Allmahlich 



— 90 — 

nur und langsam konnte er die uberlebten Krafte durch neuen und 
lebendigen Ersatz zurlickdrangen, und da hat er in den sieben 
Jahren seiner Wirksamkeit Eminentes geleistet. 

Den ruckwarts strebenden Geistern im Lande war Speidel natur- 
lich ein Stein des Anstosses, und wie gern man den 'Stein (aus dem 
Wege geraumt hatte, das zeigte vor einem halben Jahre die wider- 
wartige, feige und gemeine Hetze, die pfaffenhorige Banausen ge- 
gen ihn inszenierten. Nun ist diesem Gelichter der Tod zu Hilfe ge- 
kommen. Nun heisst es acht geben, dass der Kunst kein Schaden 
geschehe. 

Die kulturellen Kreise Milnchens wollen, dass im Sinne Speidels 
weiter gewirkt werde, und dass ein Mann an seine Stelle trete, 
der sich von keinen politischen, sondern ausschliesslich von kilnst- 
lerischen Intentionen leiten lasst. — Wir wollen keine Wiederholung 
der Possartschen Zeit. Wir wollen auf der Blihne Stlicke sehen, die 
Zusammenhang mit dem Leben haben, und wir wollen auf der Biihne 
Schauspieler sehen, die Menschen sind. Wir haben die Polterer 
Bart, die im Theater Possarts System mullern und possartikulierte 
Laute von sich geben Uns geliistet es nach Kunst. 

Was alle ubrigen Mlinchener Buhnen treiben, ist trostlos. Dem 
Schauspielhause mangelts an Regie, dem Lustspielhause an Reper- 
toire (denn es ist alle Versprechen schuldig geblieben und spielt in 
endlosen Serien minderwertige Reissex). Was das Kunstlertheater 
mit eherner Standhaftigkeit immer noch seinen anspruchvollen Namen 
zu filhren den Mut gibt, ist schon lange unerfindlich. Aller Trost 
und alle Hoffnung kam bisher vom Hoftheater. Der Mann, dem 
wir Trost und Hoffnung dankten, ist tot. Videant consules.. . ') 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Schon mit dem Friihkaffee wurde mir ein eroffnetes Telegramm 
gebracht, die erste Teilnahmsausserung, die — abgesehen von den 
durch Caros Besuche ubermittelten — zu mir drang. Es war am 
I. November in Aeschispiez aufgegeben (jetzt war schon der dritte) 
und lautete: „Sei ruhig, lieber Freund, ich schreibe noch heute. 
Johannes." Ich hatte gleich nach meiner Einlieferung hier Ian 

') Zu spat, um hier noch eine ausfiihrliche Betrachtung zu 
gestatten, fand im Hoftheater die erste Festvorstellung des Vereins 
„Volksfestspiele" statt. Es gab „Der standhafte Prinz", eine Schan- 
dung Calderons durch Georg Fuchs. Ich behalte mir vor, auf die 
schleimige Geschmacklosigkeit zuruckzukommen, wenn die frische 
Emporung einigermassen verraucht sein wird. 



— 91 — 

Johannes Nohl ebenso wie an Henry Telegramme abgehen lassen, 
die von meiner Verhaftung Nachricht gaben. Jetzt merke ich, dass 
bei aller Ausfiihrlichkeit, mit der ich mich jede Einzelheit zu 
registrieren bemilhe, doch noch manches vergessen ist. Das Telegramm, 
war also die Antwort auf meines und ich war — ich weiss eigent- 
lich garnicht, warum? — so geriihrt iiber die Worte, dass es 
mir heiss hinter den Augen aufstieg. Dabei fallt mir auf, dass 
mir in der ganzen Zeit, seit ich festgenommen wurde, weder vor 
noch nach dem Moment, wo ich das Telegramm las, je ein Drang 
zum Weinen gekommen ist, nicht einmal in den langen, schlaflosen 
Nachten, in denen ich wahrlich genug von traurigen Vorstellungen 
geschlittelt wurde. Und zur rechten Stunde Weinen hat noch jedem 
gutgetan. 

Den Vormittag brachte ich mit der Lektiire Paul Scarrons hin. 
Als ich meine Mittagsmahlzeit bekam, richtete mir der Aufseher einen 
Gruss von Caro aus, der nur auf einen Sprung dagewesen war 
und gleich weiter musste. Ich war ziemlich betrilbt, ihn an diesem 
Tage nicht zu sehen, da er mir bisher taglich als einziger Schimmer 
aus dem fernen Cafehause in meine Einsamkeit geschienen hatte. 
Ich ass das etwas fett geratene Kotelett, das mir Herr Fahrland 
geschickt hatte, etwas missmutig herunter und sog bei Beendigung 
des Mahles noch den Rest Bier aus der Flasche, als mir der Auf- 
seher mitteilte, dass ich sofort zum Untersuchungsrichter kommen 
solle. 

Ich lief mit der grossten Geschwindigkeit die Treppen hinunter. 
Denn ich dachte mir, das kann nur heissen: Frei! — oder: Nach 
Miinchen! — An der untersten Treppe nahm mich der lange Glatz- 
kopf in Empfang, der mir schon am Tage meiner Einlieferung so 
wenig angenehm begegnet war. „Kommen Sie mal mit!" komman- 
dierte er und blieb, wahrend ich durch den Garten zum Gericht 
hintibermusste, immer so dicht vor, hinter oder neben mir wie ein 
Schlachter, der ein widerwilliges Schwein zu transportieren hat. 
„Da rauf!" hies es an einer Treppe, und ich folgte dem Grobian 
zu derselben kahlen kleinen Kalkzelle, aus der ich ihm schon ein- 
mal hinuntergefolgt war. 

Drei Leute in Straflingskitteln waren schon dort, die mich 
neugierig musterten. Als ich hinzukam, war die Bude so voll, 
dass wir uns an die Wande quetschen mussten, um uns nicht gegen- 
seitig zu drucken. Mir zunachst stand ein kleiner untersetzter Kerl 
mit dickem, blondem Schnurrbart, borstig hochstehendem Haar und 
suffunterlaufenen Augen. Er war der einzig lebhafte von den dreien, 
der mir nach wenigen einleitenden Hoflichkeiten mitteilte, dass 
er wegen Vagabondage achtzehn Monate abgerissen hatte und jetzt 
wegen einer Bettelei seiner Aburteilung harre. — Auf dem einzigen 



— 92 — 

Stuhl des Gemaches sass traurig ein schwarzbartiger Mann von 
vielleicht 33 Jahren, den vornlibergeneigten Kopf in die Hande gestiitzt. 
Auf die Lebhaftigkeit des Kleinen reagierte er nur mit gleich, 
gliltigen Zustimmungen. Das Fenster verdeckte vollstandig der Korper 
eines riesigen Menschen, der mit dem Riicken zu uns stand. Er 
sah in den Garten hinaus und schien sich fur nichts in der Welt 
zu interessieren. In seinem Aussehen und seinem Phlegma erin- 
nerte er mich stark an den Asconeser Grotto-Wirt. Nach einiger 
Zeit wurde der traurige Schwarze hinausgerufen, und statt seiner 
trat ein grosser blonder jlingerer Arbeiter ein, der lachend ver- 
klindete : „Sechs Wochen mit Ueberweisung." — „Hast du 't anje- 
nommen?" — „Die sechs Wochen, ja. Aber die Ueberweisung 
nich." — „Mensch, warum nich? In Moabit is' doch besser als 
hier." — „Ja, ich wollt' ja och annehmen. Aber ik weess selbst nich. 
Er fragt: Nehmen Sie's an ? — Die sechs Wochen, ja, sag ik. Aber 
von wejen die Ueberweisung — . Ik wollte ihm man bios fragen, aber 
da sagt er schont: Der Beschuldigte nimmt die Strafe an, protestiert 
aber jejen die Ueberweisung. Mensch, wenn de mit dem redst, det is 
jrade, als wenn de jejen de Wand sprichst. Ik sag zu dem 
Mann: Wejen det eenmal betteln, sag ik — nehmen Se doch Riick- 
sicht! — Wat? sagt er. Sie sind wejen Diebstahl vorbestraft und 
wejen Widerstand, un denn verlangen Se noch Riicksicht? sagt er. 
Wat wollen Sie denn machen, wenn Se wieder raus sind? sagt er. — 
Denn jeh 'k stehlen, sag ik. Da ha 'k wenigstens wat von, sag ik. 
Denn ik war nu schon jiftig. — Weesste, wat det Luder macht? 
Er lasst det befiirworten. Er sagt zu dem jungen Mann, der da 
sitzen dut: Schreiben Sie det uf, sagt er. Der Anjeschuldigte er- 
klart, dat er nach Verbiissung der Strafe stehlen jehen will. Na, 
wat sagste nanu? frag ik dir." — Der kleine Blonde kircherte aber 
bloss und meinte: „Wat er Justav'n woll ufbrummt?" — Der kam 
schon wieder und der Kleine musste selbst hinaus. Jetzt fragte der 
Lange: „Na?" — Der Schwarze knurrte, wahrend er sich wieder 
auf den Stuhl niederliess: „Sechs Wochen mit Ueberweisung." — 
„Haste 't anjenommen?" — „Ja." — „Na ja, helfen du 't ja doch 
nich, wenn ma 't nich annimmt." Und dann erzahlt er umstandlich 
noch einmal, wie er aus Versehen zu einem Protest gegen die 
Ueberweisung gekommen war, wie er gereizt wurde, wie er er- 
klarte, er wolle nachher stehlen gehen, und wie der Richter das 
„befurworten" liess. „Ne, schloss er, an Charlottenburg will ik 
jedenken." — Dann kam auch der Kleine wieder: „Sechs Wochen 
mit — I" schrie er schon an der Tur. Der Grosse pellte sich nun auf 
Anruf vom Fenster los und verliess das Gemach mit den Worten: 
„Denn kann ik mir ja och unjefahr ausrechnen, wat ik krieg." 
— „Sechs Wochen mit kriegste", schrie ihm das muntere Mannchen 



— 93 — 

nach. „Ik hab 't jleich angenommen", erzahlte er dann. „Aber 
ik lass mir nach Prenzlau uberweisen. Mensch, Justav, da musste 
mitkommen. Meld dir jleich heite, dat de willst nach Prenzlau." 
Der Schwarze rtihrte sich nicht. Der Kleine wurde immer narri- 
scher. „H6rste, Justav. Det is det beste, sag ik dir. Komm mit 
nach Prenzlau." — „Lass mir doch zufrieden." — „Aber Justav, 
sei doch keen Dussel ! In Prenzlau is' am allerscheensten." — 
„Ja, for dir, weil de da zustandig bist." — „Macht nischt, Justav,- 
ik sag dir, komm och nach Prenzlau." — „Lass ihm doch," fiel 
endlich der Lange ein. „Er muss et doch selbst am besten wissen." 
(Fortsetzung folgt. ) 



Bemerkungen. 



Herr Hiller berichtigt. In der klugen Erkenntnis, dass nur die strenge 
Berufung auf einen Gesetzesparagraphen einen Dialog zwischen aufs 
Geistige gerichteten Menschen ermoglicht, sendet mir der Heraus 
geber des „Kondors" folgenden Brief: 

An den verant wortlichen Redakteur der Zeit- 
schrift filr Men schlichkeit „Kain". 
Sehr geehrter Herr! 
Aufgrund des § 11 des „Gesetzes ilber die Presse" vom 
7. Mai 1874 ersuchte ich Sie, in der nachsten Nummer des „Kain" 
folgende Berichtigung zu veroffentlichen: 

Auf den Seiten 76 — 77 des „Kain" behauptet der Heraus- 
geber, innerhalb einer Abhandlung ilber das Gedichtbuch „Der 
Kondor": „Herr Hiller. . erwlirgt. . die Kunst. Stefan Georges, die 
nun., von den Kondoristen endgultig uberholt und an die Wand 

gequetscht i s t „Was alle diese treiben, ist nicht Kitsch, 

sondern immerhin schlechte Kunst", erklart Kurt Hiller (einleitend) 
und meint damit Stefan George... ". Diese Behauptungen sind 
unwahr. Wahr ist vielmehr, dass ich, in Uebereinstimmung mit 
alien Mitarbeitern meines Gedichtbuchs die Kunst Stefan Georges 
aufs ausserste verehre und dieser Verehrung, in der Vorrede zum 
„Kondor", unzweideutigen Ausdruck verliehen habe, mit dem Satz: 
„Keineswegs die Meister — die wir ehrfiirchtig lieben (auch wo 
sie uns befremden) — , sondern ihre traurigen Nachaffer sind 
es, deren sakrales Gouvernantentum und steife, stiefe Pose wir nicht 
mehr ertragen konnen." 

Berlin, 15. August 1912. 

Kurt Hiller. 
„Diese Behauptungen sind unwahr. Wahr ist vielmehr..." Ha! 
Das heisse ich mir doch eine kernige deutsche Sprache. Ich erkenne 
den Hiller nicht wieder, der im „Kondor" (einleitend) eine Prosa 



— 94 — 

exekutiert, deren „unzweideutiger Ausdruck" mich zu einem so pein- 
lichen Missverstehen veranlassen konnte. Zur Klarung der Sachlage) 
(ich schliesse mich hier der Juristenterminologie an, die Herr Hiller 
fur Erklarungen im „Kain" bevorzugt) mochte ich dem Herrn einige 
Fragen vorlegen: Wessen Lyrik entnahmen Sie die Worte „Wasen", 
„getarnt" und „Gewafer", die Sie — wenn mich der Eindruck 
Ihrer Polemik nicht zum zweiten Male tauschen sollte — zur Be- 
grtindung Ihrer Abneigung gegen die „Hochnasigkeit als konstitu- 
tives Prinzip von Dichtungen" anfuhren? Ferner: Wen meinen Sie 
ausser George, wenn Sie in diesem Zusammenhange „die Meister" 
von Ihrer Befehdung ausnehmen ? Und: Haben Sie, da Sie „das 
murrische Pathos dieser feierlichen Magister aus des grossen George 
Seminar" ablehnen, den „grossen George" wirklich nicht in ironi- 
schen Anfiihrungszeichen gedacht ? 

Vielleicht empfiehlt es sich, Herr Hiller, wenn Sie sich kunftig- 
hin bestrebten, auch dann, wenn Sie nicht schmerzhaft gekitzelt 
sind, sondern sich „nur aus Eitelkeit" literarisch produzieren, eine 
Deutlichkeit des Ausdrucks zu erzielen, wie er Ihnein in dem Briefe 
an mich so vortrefflich gelingt. Ihre Kritiker werden dann davor 
behtitet sein, sich offentlich von Ihnen sagen lassen zu mtissen: 
„Diese Behauptungen sind unwahr. Wahr ist vielmehr..." 



Parsifal. Hermann Bahr ist ein Fanatiker, das macht ihn so 
ungemein sympathisch. Seine Rede ist ja, jal oder nein, nein! Was 
dariiber ist, dtinkt ihn von Uebel. Was er bekennt, bekennt er begei- 
stert, kampferisch, aggressiv. Seine Ueberzeugung ist immer ehrlich 
und stark, und deshalb kommt er uns verrant vor, wenn er einmal 
ja, jal sagt, wo wir nein, neinl rufen. 

Hermann Bahrs Fanfaren fur das vom Hause Wahnfried be- 
triebene Parsifal-Schutzgesetz finden wenig Echo, und es hiesse Pfaffen 
nach Bayern tragen, wollte man alle Grtinde gegen ein Ausnahme- 
gesetz noch einmal aufzahlen. Warum soil denn eigentlich das Mani- 
fest des fromm gewordenen Wagner dem finanzkraftigen Sommer- 
publikum reserviert bleiben? Weil es dermassen weihevoll ist, dass 
ihm die Ausdunstung der misera plebs am Kunstwert Abbruch tun 
konnte ? Merkwilrdig: ich habe mir immer eingebildet, Ehrgeiz jedes 
Kunstlers mlisse es sein, in die Massen zu wirken. Eine erlesene 
Aufflihrung ist gewiss sehr schon, aber ein erlesenes Publikum 
bringt man Jucht durch exorbitante Eintrittspreise zusammen Will 
man das haben, so versende man personliche Einladungen an kulti- 
vierte Menschen und lege fur Minderbemittelte Fahrkarten nach 
Bayreuth bei. 

Glaubt man, dass die Bayreuther Parsifal-Aufflihrung ewig un- 
erreichbar sein wird, gut, so veranstalte man sie auch fernerhin jedes 
Jahr. Wer sichs leisten kann, wird dann auch klinftig lieber die 
Reise unternehmen, als sich die Bemilhungen eines heimischen Stadt- 
theaters genugen zu lassen. 

Aber schliesslich sollten die Bayreuther nicht gar so gering- 
schatzig iiber die Provinztheater die Nasen rumpfen. Ohne die 



— 95 — 

riesigen Tantiemen, die von den Provinzbuhnen aus jahraus jahrein 
fiir bessere oder schlechtere Wagnerauffiihrungen nach Bayreuth 
geflossen sind, waren dort die katholischen Sonntagsfeiern fur das 
atheistische Synagogenpublikum vermutlich garnicht moglich gewor- 
den. Und was liegt denn daran, wenn der „Parsifal" wirklich mal in 
irgendeinem Wandertheater schmierenmassig in den Grund gespielt 
wird? Man sagt, dass auch die Werke eines gewissen Shakespeare 
wert waren, nur von erlesenen Kiinstlern gespielt zu werden. Ihnen 
so wenig wie Goethes „Faust" hat es bisher an ihrem wahren Wert 
geschadet, dass sich in billigen Sommertheatern unfahige Regisseure 
und talentlose Debutanten mit ihnen abqualen. 

Nun ersteht der Familie Wagner plotzlich ein neuer Halfer 
in der Person des Dr. Richard Strauss. Der Brief, den der bertihrnte 
Musiker an Herrn Karpath geschrieben hat, ist in mancher Bezie- 
hung sehr bemerkenswert. Ich sehe von der bodenlosen Geschmack- 
losigkeit des Tones ab, in dem das Dokument verfasst ist. Ueber- 
raschend aber ist die geradezu kindliche Unbehilflichkeit, in der 
hier ein Mann, der geistige Werte schafft, dem gesamten sozialen 
Geschehen gegenlibersteht. Strauss will den „Willen des Genies" als 
oberstes Gesetz ilber alle offentliche Massnahmen aufstellen. Et 
beschimpft die Juristen und Politiker, weil ihnen das Verstandnis 
fiir die „unbeschrankten Rechte des geistigen Eigentumers" fehlt. Es 
muss aber gesagt werden, dass ein Kunstler, der sein Werk iiber- 
haupt veroffentlicht, damit die Allgemeinheit schon zum Miteigen- 
tiimer macht. Wenn es nach Strauss ginge, dann mlisste jeder 
Architekt, der an eine Strasse eine kilnstlerische Hausfassade baut, 
das des Weges kommende Publikum auf seine Wiirdigkeit kontrol- 
lieren dtirfen, an seinem Gebaude verliberzugehen, oder aber 
einen teuern Strassenzoll von den Passanten erheben konnen. — 
Strauss entsetzt sich bei dem Gedanken, dass eines Tages der Fall 
eintreten kann, dass jeder Spiessblirger „statt fortwahrend in dan 
Kientopp und in Operetten zu gehen, auch fiir die funfzig Pfennig den 
Parsifal horen" werde. Und wenn schon! Funfzig Pfennig be- 
deuten fur sehr viele Menschen betrachtlich mehr Geld als die 
hunderte Mark, die die Reise nach Bayreuth kostet, denen, die 6ie 
jahrlich unternehmen. Es ist traurig genug, dass die Erhebung durch 
die Kunst iiberhaupt vom Geldbesitz abhangig ist. 

Die Exkursionen des Dr. Strauss ins Politische sind reichlich 
komisch. Er beschimpft „das Mode allgemeine Wahlrecht" und 
wiinscht statt dessen eines, bei dem etwa „die Stimme eins einzi- 
gen Richard Wagner hunterttausend und ungefahr zehntausend Haus- 
knechte zusammen eine Stimme bedeuten." Aber Herr Doktor ! 
— Der schaumende Revolutions entblosst sich hier in all seiner Welt- 
fremdheit. Er, der glaubt, mit seiner ungeheuerlichen Forderung die 
Staatsordnung aus den Fugen zu reissen, klammert sich wie jeder 
ausgediente Demokrat an „das Mode allgemeine Wahlrecht". Nur 
das gleiche Wahlrecht will er abschaffen. Ach, lieber Herr, ein 
Wahlrecht ist so Mod wie das andere. Ob die Hausknechte das Genie 
vergewaltigen oder ob das Genie das ganze Volk zu seinem Haus- 
knecht machen mochte, macht wenig Unterschied. Traurig und 
jammervoll ist nur, dass zwischen Volk und Genie gar kein Zusam- 
menhang besteht. Ist Wagners Genie so volksfremd, dass Bein 
Werk nur unter Ausschluss der Oeffentlichkeit gedeihen kann, so 
soil man das Volk nicht schmahen, das ihm keine Extrawurst brat. 
Aufgabe der Kunstler ist es, am Erleben des Volkes teilzunehmen, 



wie es der Revolutions von 1848 Richard Wagner tat. Dann 

werden ihre Werke den Sinn aller Kunst erfilllet, verbindenden 

Geist zwischen den Menschen zu schaffen, und wir werden eine Kultur 

haben, von deren Fehlen das Schreiben des Doktor Strauss ein 
betrubender Beweis ist. 



Vollmarasmus. Der Ritter Georg von Vollmar, eine stolze 
Stiitze der sozialdemokratischen Partei, ein Mann, liber dessen tiefre 
Wesensart sich jedermann im Kapitel „Georg" der Streitschrift seines 
Genossen Mehring „Meine Rechtfertigung" ausgiebig informieren 
kann, sprach am 21. August im Bayerischen Landtag nicht ohne 
Emphase diese Satze: „Im Wahlkampf ist von Zentrumsagitatoren 
die Behauptung aufgestellt worden, wenn ein Krieg ausbrache, wiir- 
den die Sozialdemokraten durch einen Massenstreik die Mobilmachung 
storen, die Reservisten hindern, der Fahne Folge zu leisten und 
wilrden Verrat am Vaterlande begehen. Es ist zwar bereits im 
Reichstage vom sozialdemokratischen Redner diese Luge zurilckge- 
wiesen worden, ich will es aber ebenfalls tun. Gewiss werden wir 
Sozialdemokraten alles daran setzen, damit der Friede erhalten bleibt... 
Wenn es aber ohne Schuld des Reiches nicht gelingt, den Frieden 
zu erhalten, dann wird alles vor der Not des Vaterlandes zuruck- 
treten, und es ist selbstverstandlich, dass dann auch die Sozialdemo- 
kraten dem Lande ihre Dienste leisten werden, und sie werden nicht 
die schlechtesten Verteidigter des Vaterlandes sein." — In der 
gleichen Sitzung des Landtags hat nach dem Bericht der „M. N. N." 
Ritter Georg die Behauptung eines Zentrumsredners, die Sozialdemo- 
kraten seien Republikaner, mit dem Zwischenruf beantwortet: „Das 
ist eine Unverschamtheit!" — Es bleibe dahingestellt, ob dieser 
Bericht zutreffend ist oder der der „Munchener Post", nach dem auf 
den Vorwurf des Republikanismus nur zwischengerufen wurde: 
„Wo sind die Beweise?" — Die Beweise filr ihre antimonarchische 
Gesinnung ist die Sozialdemokratie allerdings bisher durchaus schul- 
dig geblieben, und so scheint auch das Empfinden begreiflich, aus 
dem die Unterstellung, die Herren seien, wie es das Erfurter Pro- 
gramm von ihnen verlangt, Republikaner, den Ruf „Unverschamt- 
heit" geweckt haben konnte. 

Was seine Partei tun wird, wenn es mit Schuld des Reiches 
nicht gelingt, den Frieden zu erhalten, hat Herr von Vollmar 
nicht verraten. Da er den Verdacht, sie konnte den Massenstreik 
organisieren, prinzipiell als Luge stigmatisiert hat, muss angenom- 
men werden, dass sie auch dann „alles daran setzen" wird. — Wir 
Antipolitiker haben der Sozialdemokratie oft den Vorwurf gemacht, sie 
sitze zwischen zwei Stuhlen. Dieser Vorwurf ist nicht aufrecht zu 
erhalten. Die rechte Hinterbacke hat langst eine Ecke des liberalen 
Nachtstuhles erklommen, wahrend die linke, die mit vereinzelten 
Flecken der Schamrote in der Luft hangt, langsam abfault. 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsara, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u.la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



jVAIJN, -H-Clt 1. Inh al t : Anarchistisches Bekenntnis. — Miinchner 
Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. — Die 
Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchener Post". — 
Die Tugend hat gesiegt. 

KAIN, Heft 2. Inhalt: Politisches Vari6t6. — Tagebuch 
aus dem Gefangnis. — Der riihrige Zensor. — „Titanic." — 
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem „Krater". 

KAIN, Heft 3. Inhalt: Strindberg. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Bonnot 
Gamier und Co. — Der Kampf mit dem Drachen. — Die ent- 
sprechende Siihne. — Geburtstagsgriisse. — Maria im Rosenhag. 

KAIN, Heft, 4. Inhalt: Die Presse. — Tagebuch aus dem 
Gefangnis. — Bemerkungen. — Kritinismus. — Neues von der 
Theaterzensur. — Die Polizeiassistentin. — Zeppelins Pech. — 
Saccharin. — 

KAIN, Heft 5. Inhalt: Generalstreik! — Die Rigorosen. — 
Bemerkungen. — Ettor und Giovannitti. — Der Veteran Drux. — 
Die Miinchner Post. — Verworfen. 



Saturnvertag 



Harmann Malstar, Heidelberg. 



Seit August 1911 erscheint: 



Q 



Eine Monatsschrift fiir Belletristik, Kritik, Satire, Lyrik und Schwarz- 
Weiss-Kunst, herausgegeben von Hermann Meister und Her- 
bert Grossberger. 
Von den Mitarbeitern seien u. a. genannt: 
Oskar Baum, Ernst Blass, Max Dauthendey, Albert Ehrensteinj 
Johannes von Guenther, Otto Hinnerk, Rudolf Kurtz, Heinrich 
Lautensack, Otto Stoessl, Felix Stossinger, Emile Verhaeren, Paul Zech. 
Von Urteilen fiihren wir an: 
„Auf die unabhangige Zeitschrift sei mit Nachdruck hinge- 
wiesen." Prager Tagblatt. 

„Eine Zeitschrift von Individualisten filr Individualisten". 

Der Tagesbote, Brunn. 
„Eine Zeitschrift, die in dem Gewimmel der Revuen einen be- 
sonderen Platz verdient". 

Hildesheimer Allg. Zeitung. 
Jedes Heft umfasst ungefahr 2 Bogen und enthalt 2 Bildbei- 
g a b e n , darunter meistens Originate wie Lithographien, Kupfer- 
stiche, Schnitte. Der Mindestabonnementspreis (fiir 6 Hefte) betragt 
Mk. 3. — , Einzelhefte kosten 60 Pfg. Das Abonnement vermittelt 
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Heidelberg, sowie jede gutgefiihrte Buchhandlung. 

Gratisprobehefte werden nicht abgegeben, dagegen sind gegen 
Einsendung von Mk. 1. — zur Orientierung 3 Hefte nur direkt 
vom Verlag erhaltlich. 



Don 

eridt) ntujrfam 

erftbietien folgende Blidier. 



DiC rDUJlC* ecttittote. J9M. 
(Die Huflage ift ocrgrtffen.) 

Dtt Kr&tCt* dedicate, w*. m. 2.— 

Die ftodt)Jlflplcr* iu!ift»ieL 1906. m.2.- 

Zu bezieften durrt) icde Budjljandlung und den 
Kain*Oerlag, mundjen, BaatlerftraBe la. 



Jm KaliuDerlag muntDen, BaaderftraBe la 

lit crfdnenni: 



» 



Ocr Kratet" 



eedid&te Don eridt) muftfam. 



Prels: m. 2.— 



JahrgangH. No. 7. Oktober 1912 

KMN 

Zeif/chrifffur 

rien/ch(ich(\eir 
HemuJgeber; 

(rich Huh/am 




Inhalt: Chemnitz. — Miinchener Theater. — Tagebuch ans dem 
Gefangnis. — Gedichte. — Bemerkungen. — Die Teuerung. — 
Die tapferen Eisenbahner. — Herve, der Renegat. — Vom Hofe. 



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Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

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„KAIN" erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt 

iiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
raent 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag" 
Miinchen. Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 



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Chemnitz. 

Die Genossen unterscheiden bei ihren Parteitagungen 
zwischen den Stunden, in denen sie sich der Beschaftigung 
mit ihrer schmutzigen Wasche hingeben, und denen, wo 
„positive Arbeit" verrichtet wird. Chemnitz zeichnete 
sich durch das imponierende Ueberwiegen der „positiven 
Arbeit" aus. Diese Arbeit besteht in der Vorlegung eines 
hochst respektabeln Kassenrapports, in eliichen popularen 
Vortragen iiber allgemein interessierende Angelegenheiten, 
in der Annahme von Parteivorstands-Antragen und der 
Ablehnung von Vorschlagen einzelner Delegierter, in der 
Zustimmung zu phrasentonenden Resolutionen und endhch 
im dreifachen Hoch auf die intemationale volkerbefreiende 
Sozialdemokratie und dem Absingen der Wahlrechts-Mar- 
seillaise („das freie Wahlrecht ist das Zei-heichen"), in die 
die Delegierten begeistert einstimmen. Jn seiner posi- 
tiven Arbeit sieht also ein sozialdemokratischer Parteitag 
einer freisinnigen Bezirksvereins-Versammlung verzweifelt 
ahnlich. 

Mitunter kommt ein lebhafterer Zug in die Langweilig- 
keit solcher Oesinnungsparade, wenn namlich bei der 
Springprozession der Partei in den Revisionismus hinein 



(zwei Schritte vorwarts, einer zuriick) der zweite Schritt vor- 
warts aufs Master klappt. Im vorigen Jahr geschah das 
in Bebels Jenenser Bekenntnis zur imperialistischen Reichs- 
politik (vgl. „Kain" I, 7). Den Schritt riickwarts dirigierte 
in Chemnitz mit Geschick und Geschmack Herr Haase, der 
neue Parteioberhirt, in seinem Referat iiber den Imperia- 
Usmus. In diesem Jahre hopste man seine zwei Schritte 
vorwarts mit der Billigung der bei den Wahlen kreierten 
„Dampfung" zugunsten der liberalen Bundesgenossen. Der 
Riickbopser in den RadikaUsmus geschah mit der Relega- 
tion des Genossen Gerhard Hildebrand aus der Partei. 

Hire schmutzige Unterwasche behielten die Genossen 
diesmal mit viel Zuriickhaltung am Leibe. Ausser Herrn 
Radek, dem Protege der,, Bremer Burgerzeitung'',brauchte 
sich in Chemnitz niemand von seinen Gesinnungsfreun- 
den einen Hundsfott schimpfen zu las sen, und gerade bei 
der Goppinger Affaire zogen Revisionisten und Radikale so 
einmiitig am gleichen Strang, als ob von ihrer inbriinstigen 
Gefahrtenliebe niemals ein Dresdener Jungbrunnen etwas 
weggespiilt hatte. Hildebrand aber wurde mit den zartlich- 
sten Achtungsbeteuerungen aus der Partei geekelt. Er 
wird es erst merken, was er fur ein Schurke ist, wenn die 
Presse seiner bisherigen Genossen mit ihm per „ein Herr 
Hildebrand" wird diskutieren diirfen. 

Der Hass zwischen Revisionisten und Radikalen, dessen 
hemmungsloses Toben die Debatten der sozialdemokrati- 
schen Parteitage seit Dresden so anmutig belebte, schien 
in Chemnitz bis zu der Gerichtsverhandlung gegen Hilde- 
brand im lauteren Bestreben um harmonische Geschlossen- 
heit erioschen zu sein. Besonders tiefblickende Kritiker 
wollten bemerkt haben, dass die Revionisten angesichts 
ihrer bei Auszahlungen immer wieder zutage tretenden nu- 
merischen Schwache bis zu gelegenerer Zeit vor den Radika- 
len kapituliert hatten, ich glaube, sie irren. Mir scheint 
die Chemnitzer Tagung gerade dadurch bemerkenswert, 
dass hier zum erstenmale die prinzipiellen Debatten iiber 
die Parteidogmen als iiberfliissig erkannt wurden, und die 



— 99 — 

Spaltung der Partei in zwei grundsatzlich gegnerische poli- 
tische Gruppen als fait accompli in die Erscheinung trat 
Die feindlichen Briider finden sich von jetzt ab miteinander 
friedlich ab, da sie eingesehen haben, dass das bisher ge- 
iibte Verfahren der gegenseitigen groblichen Beschim- 
pfung nicht zu dem erwiinschten Ziel der Bekehrung und 
Verstandigung fiihren kann. 

Eine vergleichende Beobachtung der Machtstarke der 
beiden Unterparteien fiihrt zu sehr lehrreichen Schliissen. 
Der sogenannte radikale Fliigel besteht auf der demonstra- 
tiven Betonung der von Marx und Engels als Leitsatze 
proletarischer Politik aufgestellten Thesen. Er halt ein 
revolutionares Vokabularium fur unentbehrlich, um den 
Glauben an die oppositionelle Mission der Sozialdemokra- 
tie nicht untergehen zu lassen. Der radikale Sozialdemo- 
krat glaubt an ein sozialistisches Endziel, und wenn er auch 
in seinem taktischen Verhalten alles tut, um dieses Ziel 
nie in greifbare Nahe gelangen zu lassen, so wahrt ihm 
sein frommer Glaube doch vor sich selbst und vor der be- 
geisterungsgewillten Menge die Wiirde des Idealisten. 
Dass seine Anhangerschaft der Zahl nach immer noch die 
weitaus uberlegene ist, erklart sich daraus von selbst. 

Die Revisionisten stellen sich bewusst ausserhalbjeder 
dogmatischen Umsturzbestrebung. Sie wiinschen, eine 
pohtische Gegenwartspartei zusein, mit der einzigen Unter-, 
Scheidung von anderen Parteien, dass es ihnen ausschliess- 
lich um die soziale Hebung des Arbeiterstandes inner- 
halb des kapitalistischen Staates zu tun ist. Sie teilen mit 
den Radikalen den Wunsch nach Erlangung der politischen 
Macht. Sie wollen mit dieser Macht aber nicht die Umwal- 
zung der gesellschaftlichen Einrichtungen erkampfen, son- 
dern ledighch die Moglichkeit, auf die bestehenden und im 
Wesen fur gut befundenen Verhaltnisse im demokratischen 
Sinne einzuwirken. — Es ist klar, dass dieser Parteifliigel 
aus dem Proletariat den geringeren Zulauf hat, bei den 
staatserhaltenden Elementen der Gesellschaft aber die 
grossere Sympathie. 



— 100 — 

Aus der Vergleichung der beiden Tendenzen in der 
deutschen Sozialdemokratie ergibt sich notwendig die von 
den Entwicklungstatsachen seit Jahren bestatigte Folge, 
dass auf den Parteitagen die Antrage der Radikalen stets 
die grossere Aussicht auf Annahme haben, dass aber 
die reale Macht des Revisionismus trotzdem und unbe- 
schadet der numerischen Starkeverteilung innerhalb der 
Parteigenossenschaft standig wachst. Somit konnen beide 
Gruppen fortan in Eintracht nebeneinander wohnen. Derm 
beide erreichen, was sie ihrem Charakter gemass anstre- 
ben mii s sen: Die linke Seite den schonen Applomb der 
Annahme ihrer Antrage, die rechte die schwindende Wirk- 
samkeit der auf iiberholte Axiome gestiitzten Massnahmen. 

Hildebrand ist ausgeschlossen worden — gewiss. Aber 
Ludwig Frank konnte unmittelbar nach dem Parteitag in 
einer Mannheimer Versammlung den Grundsatz proklamie- 
ren, es komme nicht auf die theoretischen Lehren an, die ein 
Genosse verbreitet, sondern auf den praktischen Nutzen, 
den der Einzelne der Partei bringe. Dass diese Ansicht in 
einer Partei Geltung gewinnen kann, deren Programm auf 
bis zur Intoleranz straffen (wenn auch logisch nicht halt- 
baren) Theorien fusst, kennzeichnet das Mass der Ent- 
fernung zwischen rechtem und linkem Fliigel. 

Vor die Wahl gestellt, welcher der beiden Richtungen 
der zukunftsglaubige Mensch seine Sympathieen zuwenden 
soil, tut einem das Herz weh. Manche meinen, die Revi- 
sionisten seien wenigstens so ehrlich, ihre Advokatenpoli- 
tik nicht mehr mit revolutionaren Redensarten zu ver- 
bramen. Die so urteilen, mogen einmal einen revisionisti- 
schen Parteibonzen in einer Arbeiterversammlung spek- 
takeln horen. Das Register der brandroten Phrasen be- 
herrscht der so virtuos wie der roteste Radikale: nur merkt 
man, dass er auch anders kann, dass er mit Vorsicht hetzt, 
dass er bremst, sobald er furchtet, seine Worte konnten 
iiber die Stimmung des Augenblickes hinaus erhitzen. 
Wer daran zweifelt, dass die Herren Revisionisten be- 
wusst tauschen, wenn sie ins radikale Horn stossen, der 



— 101 — 

sei an Vollmars freches Wort erinnert, der bei der Erwah- 
nung der gewaltigen Tat der Pariser Commune meinte, 
man solle die Erinnerung daran furs Schaufenster reser- 
vieren. — 

Die Radikalen sind menschlich noch immerhin ertrag- 
lich. Was von ihnen abstosst, ist aber die dumme An- 
massung, mit der sie die Marxischen Verschrobenheiten 
als den allein „wissenschaftlichen Sozialismus" re- 
klamieren. Alles andere ist „Utopie". Als ob es je ein 
Zukunftsideal geben konnte, das nicht Utopie ware, und 
als ob je eine Idee verwirklicht ware, die nicht einmal 
Utopie war! Aber die auf eine vergewaltigte Logik ge- 
griindete, von einer spekulativen Philosophie abhangige, 
rechnerisch verkehrte, von alien Erfahrungen desavouierte 
Oekonomie Marxens ist unantastbare Wissenschaft. Bei 
dieser kritiklosen Arroganz ist es nicht verwunderlich, 
dass das praktische Tun der Herren zu ihrem theoretischen 
Bekenntnis in immer lacherlicheren Gegensatz gerat, und 
dass sie trotz ihrer zahlenmassigen Ueberlegenheit den re- 
visionistischen Tendenzen in der Partei immer grosseren 
Einfluss einraumen mussen, was wiederum den sozialde- 
mokratischen Wahn von der Unbezwinglichkeit der gros- 
seren Ziffer sehr hubsch illustriert. 

Als auf dem internationalen Kongress in Amsterdam 
im Jahre 1905 Jaures den drei Millionen deutschen Sozial- 
demokraten ihre ganzliche Einflusslosigkeit vorhielt, er- 
widerte ihm Bebel: Lasst uns nur erst acht oder zehn Mil- 
lionen Stimmen haben, denn werden wir schon zeigen, 
was wir konnen. In Chemnitz sprach Haase denselben Ge- 
danken aus und gab zu, dass die vier Millionen Wahler von 
1912 noch gar keine positive Macht bedeuten. Beide Her- 
ren scheinen nicht bedacht zu haben, dass die Stimmen- 
zahl, die sie fur notig halten, um damit erfolgreich auf- 
trotzen zu konnen, garnicht anders erreicht werden kann, 
als durch Heranziehung des Burgertums zur sozialdemo- 
kratischen Unterstutzung, und zwar in noch viel weiterem 
Umfange als sie bisher schon geiibt wird. Wir haben 



— 102 — 

alle gesehen, wieviel Konzessionen die Partei den mit dem 
Kapitalismus vollig einverstandenen Kleinbiirger bei jeder 
Wahl macht, um seinen Zettel zu kriegen. Sollen jene Re- 
serven bis zur Komplettierung der verdoppelten und ver- 
dreifachten Zahl sozialdemokratischer Wahler mobil ge- 
macht werden, so bleibt garments anderes iibrig als vol- 
liger Verzicht auf jede Demonstrationspolitik und volliges 
Aufgehen in positiver demokratischer Staatspolitik. Die 
Eroberung der politischen Macht geht somit Hand in 
Hand mit dem Aufgeben der revolutionaren Ziele und hat, 
wenn sie perfekt ist, garment mehr die Moglichkeit, fur den 
Sozialismus gebraucht zu werden. 

Aber auch die radikalen Vertreter des Marxismus kon- 
nen von diesem Wege der Konzessionen und Inkonse- 
quenzen nicht mehr zuriick. Wollten sie es, so miissten 
sie ihre ganze parlamentarische Taktik im Stich lassen und 
SoziaUsten werden. Das aber widersprache dem Wesen 
der politischen Partei. Dass die Herren einen Mann wie 
Hildebrand, der die militarische Eroberung exterritori- 
aler Kolonien empfiehlt, aus der Partei ausschliessen, 
miisste dem denkenden SoziaUsten selbstverstandlich er- 
scheinen. Trotzdem mochte ich diese Elimination nicht 
als eine Konsequenz der Genossen bezeichnen, sondern 
eher als eine Inkonsequenz in ihren Inkonsequenzen. — 
Viel interessanter als der Ausschluss war jedenfalls das 
Bemuhen der Revionisten, Hildebrand fur die Partei zu 
retten. Dieser Grad von Toleranz (nach rechts hiniiber) 
zeigt die Tendenz, in der sich die revolutionare Partei 
Deutschlands bewegt. Und die Radikalen miissen mit, sie 
mogen wollen oder nicht 

Eine nach aussen sichtbare Spaltung der Partei wird in 
absehbarer Zeit kaum erfolgen. Die beiden Innenparteien 
werden noch sehr lange miteinander weiterwursteln. Die 
Partei wird dabei von rechts her immer mehr Wahler an- 
setzen, wahrend nach links hin die enttauschten Arbeiter 
nach und nach den Weg ins Freie finden werden. Ein- 
geweihte wissen langst, mit welcher Sorge die sozialdemo- 



103 



tratischen Seelsorger schon heute das langsame aber ste- 
tige Anwachsen der anarchistischen Bewegungen beob- 
achten. 



Munchener Theater. 

Vor einem Monat versprach ich, hier auf die schleimige Ge- 
schmacklosigkeit zurtickzukommen, die Herr Georg Fuchs mit seiner 
„Nachdichtung" von Calderons Trauerspiel „Der standhafte Prinz" 
begangen hat. Die frische Emporung ist seitdem verraucht, und es 
ist mein Entschluss, das „Misterium" modern zu lassen, wo es ver- 
dientermassen eingesargt ist. Nur ein kritisches Wort, zu dessen 
Autorschaft ich mich bekennen muss und das allzu eifrig weiter ge- 
geben wurde, mochte ich revozieren. Ich sagte gleich nach der Auf- 
fiihrung 4u Freunden: „Fuchs, du hast es ganz gestohlen". — Das 
ist leider unrichtig. Alle Ersetzung Calderonscher Dramatik durch 
Geschwatz und Salbaderei ist von Fuchs selbst, alle Zutat an from- 
men Wundem und frommem Brimborium ist von ihm, kurz alles, was 
die Bezeichnung der Tragodie als „Misterium„ begrilnden sollte und 
was aus Calderons starkem Drama den larmoyanten Schmalzfladen 
machte, bei dessen Genuss dem Publikum libel wurde. Steinrlick's 
Regie wies grosse Kostlichkeiten auf. Doch sollte in Zukunft der 
Verein „Munchener Volksfestspiele" einem Klinstler von seinem 
Range vor sauberere Aufgaben stellen als vor die Inszenierung Fuchsi- 
scher Anbiederungsversuche an die bayerische Landtagsmehrheit, 
Herrn Fuchs selbst aber muss geraten werden, kilnftighin sein christ- 
katholisches Gemlit anderswo zu betatigen als im Theater. Jedenfalls 
moge er, wenn ihm schon jede eigne dramatische Erfindung von sei- 
nen Schutzheiligen versagt ist, seine Finger von den Gebeinen grosser 
Dichter fernhalten. Das Saumensch von Muse, von dem sich Georg 
Fuchs gekusst ftihlt, hat mit dem Genius Calderons nie eine Liaison 
gehabt. 

Ein Strindberg-Abend im Residenztheater gibt Anlass zu freund- 
licheren Bemerkungen. Der Akt „Mutterliebe" freilich, der drama- 
tisch und psychologisch zu den starksten Strindberg-Arbeiten ge- 
hort und die seelische Knebelung eines lebensfreudigen Madchens 
durch ihre egoistische Mutter in beklemmender Wahrhaftigkeit enthlillt, 
geriet unter der Regie des Herrn Dr. Kilian nur zu einer recht dilrf- 
tigen Auffiihrung. Wobei ein paar sehr starke Momente des Frl. 
Hohorst als Tochter und die kilnstlerisch brillante Gestaltung einer 
intriganten alten Schachtel durch Frau Conrad-Ramlo riihmlich hervor- 
gehoben werden mtissen. — Dagegen war „Wetterleuchten. Ein 
Kammerspiel in drei Szenen" ebenfalls in Kilians Inszenierung eine 



— 104 — 

sehr lobenswerte Darstellung. Steinrtick spielte die Hauptrolle, und 
so ging sein Geist durch alle Bilder und Vorgange. Die fast erschrek- 
kende Natlirlichkeit dieses Mannes, die das Theater vollig vergessen 
macht, gab dem ganz in der Erinnerung an seine geschiedene Frau 
und ihr Kind lebenden pensionierten Beamten die greifbarste Wirk- 
lichkeit. In Herrn Basil als Bruder des Herrn fand Steinrtick 
einen ausgezeichneten und ebenfalls uberaus lebenswahren Gegen- 
spieler. Der Konditor Stark, der alte Hausgenosse wurde von Herrn 
Schroder wirksam verkorpert, und Gerda, die geschiedene Frau, die 
nach zehn Jahren plotzlich wieder in den Gesichtskreis des Gatten 
tritt und damit alle guten Erinnerungen in seinen Herzen zerstort, er- 
hielt durch Frau v. Hagen Sichtbarkeit und Glaubhaftigkeit . . . 

Im Schauspielhause fand hier zugleich mit den Premieren an x 
anderen Blihnen Leo Birinski's Tragikomodie „Narrentanz" ihre Ur- 
auffiihrung. Die meisten Kritiker haben das Werk abgelehnt, einige 
sogar recht schroff. Ich glaube es schon deswegen verteidigen 
zu sollen, weil sich darin ein recht starkes theatralisches Talent 
verrat, und weil das Stilck von einem Autor ist, dessen Jugend zwar 
Warnung aber auch Ermutigung verdient. — Dabei will ich gleich 
bemerken, dass ich mich schroffer als irgend ein andrer Kritiker 
gegen die Arbeit aussprache, wenn ich den Vorwurf berechtigt fande, 
dass es auf eine Verhohnung der russischen Revolution abgesehen 
sei. Denn ich glaube an die Buhne als moralische Anstalt und gebe 
die Berechtigung eines l'art pour l'art-Standpunktes fur das Theater 
nicht zu. 

Die machtigen Emotionen, die in der Mitte des vorigen Jahr- 
zehnts Russland erschlitterten, haben dem Russen Birinski schon den 
Stoff zu seiner Tragodie „Moloch" gegeben. Gegen den Versuch, 
diesen ernsten Ereignissen auch lustige Seiten abzugewinnen, habe 
ich moralisch nichts einzuwenden, zumal im „Narrentanz" wirklich nur 
die 'korrumpierte Beamtenschaft, aber nie und nimmer die Be- 
geisterung und der Opfermut der Revolutionare in verachtlichem 
Lichte erscheint. Im zweiten Akt, in der grossen wirren Dis- 
kussion der Revolutionare (tibrigens der weitaus starksten, drama- 
tisch wirksamsten und menschlich wahrsten Szene der Komodie] 
ist jeder einzelne freudig bereit, das fingierte Attentat des Gou- 
verneurs auf sich zu nehmen, und das ganze Stilck hindurch er- 
kenne ich wohl die leise Ironie des Autors gegeniiber dem unbe- 
hilflichen Eifer der jungen Leute, nirgends aber entfernt eine Ver- 
spottung ihrer Ergriffenheit. Auch die Voraussetzung der Handlung 
scheint mir nicht gesucht. Es ist sehr wohl moglich, dass die Revo- 
lutionare ein Gouvernement „revolutionsfrei" halten, um dort vor 
Polizeichikanen sicher zu sein und gefahrdete Kameraden, wichtige 
Papiere und Waffenvorrate unbehelligt zu beherbergen. Dass dem 
gewinnsilchtigen Gouverneur, der fortwahrend von der Regierung 



— 105 — 

Geld verlangt, die Ruhe in seinem Distrikt sehr unbequem ist, kann 
ebenfalls glaubwurdig gemacht werden, und komische Komplika- 
tionen ergeben sich aus solcher Umkehrung der Wahrscheinlich- 
keiten von selbst. Die Verlegung des Waffenarsenals und des Archivs 
in die Wohnung des Gouverneurs, das aufgezwungene Liebesverhalt- 
nis des Vertrauensmannes der Gruppe mit der Frau des Gouverneurs 
sind unbeanstandbare Lizenzen des Komodienschreibers. 

So ware die Idee des Stilckes kein Grund, mit Herrn Birinski 
unzufrieden zu sein. Leider hat aber die Gestaltung selbst arge 
Schwachen. Ein Drama, das kraftig einsetzt und schwach endet, 
mag im Leben ilblich sein, auf der Bilhne ist es unmoglich. Dar 
erste Akt ist ein famoser frischer Schwank, der zweite eine intelligent 
gearbeitete, wirksame Milieustudie, der dritte ein in unnaturliche 
Lange gereckter szenischer Einfall und der vierte ein Nichts, eine 
gekilnstelte und in jeder Hinsicht unbefriedigende Auflosung der 
Schwankidee in einen tragischen Effekt, dessen Tragik schwank- 
massig behandelt wird, und der daher im Zuschauer die peinlich- 
sten Empfindungen bewirkt. Dazu die groteske Ungeschicklich- 
keit, als Schlusspointe die Enthilllung eines Vorgangs hinzusetzen, 
dessen Z euge das Publikum im ersten Akt selber war. Die Zusam- 
menziehung der beiden Schlussakte und die Abanderung des Aus- 
gangs, die Birinski inzwischen vorgenommen hat, konnen dem Werk 
bestimmt nichts schaden. Hoffentlich niltzen sie ihm. 

Auch Einzelheiten sind nicht immer erfreulich. Die Figur 
des Bauers Nikiita („Tun Sie mir um Gotteswillen kein Unrecht) ist 
von Tschechow her zu bekannt, als dass sie noch einmal so ausgiebig 
benutzt werden diirfte, wie Birinski es tut. Aergerlich war mir die 
Gestalt der Mascha, der einzigen Revolutionarin des Stilckes. Diese 
quitschende, larmende, hysterische Person ist gewiss nicht die ty- 
pische Frau der russischen Erhebung. Ich kenne russische Revolu- 
tionarinnen, die aber anders geartet sind, und sicher charakteristische! 
gewirkt hatten als Birinskis alberne Gans. Sein Drama hatte einer 
viel kraftigeren Ton gehabt, wenn an Stelle der Mascha eine Frau 
gezeichnet ware, wie sich jeder, der in diese Kreise Einblick hat 
die Terroristin vorstellt: Das ist die starke, sinnliche, uberragend 
intelligente, zum Auessersten entschlossene Frau, die den Mannern 
erst die Aktivitat gibt und die in alien Phasen der russischen Revo- 
lution das Temperament, die Kraft und die Initiative der ganzen 
Bewegung gewesen ist. 

Das Wissen um seine grosse theatralische Begabung sollte Herrn 
Birinski zur Vorsicht mahnen. Er ist in Gefahr, sein dramatisches 
Talent um szenischer Wirksamkeiten willen zu verkitschen Bei des 
Anlagen, die sich im „Moloch" und im „Narrentanz" verraten, kann 



— 106 — 

man vielleicht viel bessere Biihnenstucke von ihm erwarten, die 
sowohl dramatisch gehaltvoll als auch theatralisch geschickt sein 
mogen. 

Die Darstellung — unter der Regie des Herrn Direktor Stollberg 
— war nur teilweise befriedigend. Herr Jessen als Gouverneur, 
hatte eine gute Auffassung seiner Rolle. Doch storte mich sein er- 
mildendes Organ. Die wichtige Figur des Kosakow war ganz un- 
beholfen und armselig, wie denn ihr Darsteller gewohnlich mit Un- 
recht Talent beanspruchende Rollen anvertraut bekommt. Sehr lustig 
spielte Herr Heller den Sekretar und Herr Siegfried Raabe den 
Bauerntrottel. Frau Schaffer betonte die Hysterie der Mascha, statt 
sie zu kachieren. Recht gut gefiel mir Herr Burghardt als der distin- 
guierte Jude Goldmann, und ganz ausgezeichnet Frau Gltimer in 
der Episodenrolle der mauschelnden Christin Katharina. Seit Gustav 
Waldaus Weggang vom Schauspielhaus ist diese Frau fast die 
einzige Kraft des Theaters, in der starke moderne Klinstlerschaft 
lebt. Die schonen Blihnenbilder, die Herr Ferdinand Gotz zu schaffen 
weiss, entschadigen auf die Dauer nicht filr die Mangel der Regie und 
der Darstellungskunst im Schauspielhause. 



Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 
Ich stand inzwischen wie auf Kohlen. Gleich sollte sich's ent- 
entscheiden, ob ich freigelassen wiirde oder ob man mich — vielleicht 
schon diese Nacht — nach Mlinchen transportierte. So war ich froh, 
als der Riese zurilckkam und der Glatzkopf rief: „Muhsam, kommen 
Sie mit!" — Der Mann flihrte mich — wieder mit ausgesuchter Un- 
hoflichkeit — vor den Untersuchungsrichter, einen Mann mit eng- 
lischem Schnurrbart und etwas blasiertem, aber elegantem Exterieur. 
„Sind Sie Miihsam?" fragte er mich. „Ja." — Er erklarte mir 
nun, er habe mir zu eroffnen, dass gegen mich eine Voruntersuchung 
eingeleitet sei, da ich hinreichend verdachtig ware, die Gruppen 
„Vagabund" und ,,Tat" begrlindet und darin in Gemeinschaft mit 
dem gleichfalls angeklagten Klavierspieler Karl Schultze (Morax), der 
wegen einer anderen Sache in Untersuchungshaft sitze, zu einer Reihe 
Verbrechen, wie Desertion, Einbruch, Falschmilnzerei usw. auf- 
gefordert zu haben. Deshalb ersuche der Untersuchungsrichter in 
Munchen, mich zu verhaften und ins Untersuchungsgefangnis Neu- 
deck abzuliefern. Ich wollte gleich zu Protokoll geben, dass die 
Vorwlirfe, die gegen mich erhoben wurden, absurd seien. Der 
Herr erklarte aber, dass seine ganze Aufgabe sei, mir das Delikt, 
dessen ich beschuldigt sei, zur Kenntnis zu bringen. Ich fragte nun. 



— 107 — 

ob das Ersuchen, mich in Neudeck abzuliefern, bedeute, dass ich 
nach Munchen gebracht werden solle, worauf ich erfuhr, dass das 
allerdings damit gemeint sei, dass aber erst die Entscheidung iiber 
die von mir gegen die Verhaftung eingelegte Beschwerde fallen 
miisse. Im ilbrigen sei er, der Untersuchungsrichter, mit der Materie 
nicht vertraut und wolle sie zur weiteren Erledigung dem Herrn 
geben, der sie bisher unter sich hatte, worauf er die Akten zu Herrn 
Assessor B. schickte und mich entliess. 

Als ich aus dem Bttro trat, sah ich zu meinem Erstaunen meinen 
Bruder vor mir stehen, der mir mit Kondolenzmiene die Hand 
schilttelte . . . ') 

Der Kahle fiihrte mich nun in der gewohnten Manier wieder in 
das Kalkstlibchen, in dem sich die Leidensgefahrten von „6 Wochen 
mit — !' nicht mehr befanden. Hinter nur wurde die Tilre geschlossen, 
und ich hatte nun Gelegenheit, in dieser Zwischenstation die Lage 
zu uberdenken. Ich war also weder frei, noch wurde ich nach Mun- 
chen gebracht. Es blieb vielmehr zunachst alles beim Gleichen Nur in 
Einem sah ich klarer. Ich hatte jetzt ein bischen Naheres iiber das 
erfahren, was mir zum Vorwurf gemacht wird. Zuerst beruhigte mich 
diese Kenntnis, weil ich mir sagte: Das alles ist denn doch zu grotesk, 
um geglaubt werden zu konnen. Dann aber stieg mir die Frage auf: 
Wer mag mich beschuldigen? Es muss doch schliesslich jemand da 
sein, der diese Dinge entworfen hat, und der dem Untersuchungs- 
richter glaubwlirdig genug vorkommt, um mich auf seine Beschuldigung 
hin verhaften zu lassen. Von denen, die regelmassig mit uns zusam- 
menkamen, kann ich mir eigentlich keinen denken, der einerseits 
gegen Morax und gegen mich so gemein zu handeln imstande ware, 
andrerseits nach dem haufigen Anhoren meiner Vortrage, in denen 
ich es regelmassig ausdrucklich abgelehnt habe, zu einer illegalen 
Handlung anzureizen, noch so dummes Zeug behaupten konnte. 
Interessant ist mir, dass die Anklage von der „Gruppe Vagabund" 
spricht, die doch in der Tat niemals zustande gekommen ist. Unter 
den Freunden wurde der Ausdruck fast nie — wenn nicht uberhaupt 
nie — gebraucht. Bleibt ubrig, dass ihn der Denunziant aus meinem 
„Sozialist"-Artikel „Neue Freunde" ! ) entnommen hat, in dem ich die 
Hoffnung aussprach, dass wir in Munchen bald eine „Gruppe Vaga- 
bund" haben mochten. Jedenfalls freue ich mich heute schon auf 



') Der rein private Charakter der Unterhaltung mit meinem 
Bruder veranlasst mich, die folgenden detaillierten Aufzeichnungen 
des Tagebuchs auszulassen. 

') Vgl. „Sozialist". Jahrg. I, Nr. 12 vom 1. August 1909. 



— 108 — 

die Konfrontierung mit dem Burschen, der sich mir da als erfinderi- 
scher Spitzel prasentieren wird '.) 

Das war das Verhangnis alles Weltgeschehens von 

jeher, dass neue Entwicklungen, neue Erfahrungen neue Ein- 
sichten und neue Kultur nie langsam und sanft daherkamen und im 
Uebergang der Generationen allmahlich wuchsen, sondern dass sie 
sich elementar Bahn brachen und rucksichtslos zerstorten, was 
ihnen hinderlich war. Das ist die ewige Wahrheit von der Unum- 
ganglichkeit der Revolutionen und die ewige Entlarvung der revo- 
lutionaren Luge. — Und so stand ich nun allein in der kleinen gekalk- 
ten Zelle und dachte hin und her und blickte aus dem vergitterten 
offenen Fenster in den Garten hinaus und sah, wie die Kinder des 
Inspektors oder der Aufseher auf mich aufmerksam wurden und 
neugierig hinaufsahen, was fur ein merkwilrdiger langhaariger, selt- 
sam aussehender Gefangener da im Gewahrsarn ihrer Vater war. Und 
die Zeit ging hin, und ich fragte mich, warum ich wohl so endlos 
lange warten mlisste, bis ich wieder zurlick dilrfte in meine Zelle 
Nr. 42. 

Endlich kam der Kahlschadel und hiess mich barsch ihm folgen. 
Beim Gefangnisbliro setzte er mich ab, wo ich ordentlich beruhigt war, 
das gutmutige Gesicht des Inspektors wiederzusehen Ich begrilsste 
ihn und wollte durchs Btiro zur Treppe gehen. Da sagte er: „Sie 
kriegen eine andere Zelle, Herr Muhsam. Lassen Sie Ihre Sachen 
nur gleich nach 48 bringen. Sie konnen gleich umziehen." Ich 
ging (die Treppen hinauf und konstatierte nach der Uhr, dass mich 
der Glatzkopf liber eine Stunde in dem kleinen Loch allein gelassen 
hatte, ganz sinn- und zwecklos, und offenbar nur, um seine Macht 
zu zeigen. 

Inzwischen hatte der Inspektor die Aufseher verstandigt, Gies- 
mann wurde heraus geholt, und der Umzug wurde in weniger als 
zehn Minuten vollzogen. Ich nahm mein bischen Schreibpapier und 
die beiden Bticher, Giesmann brachte das ubrige, die Decken und 
Bettiiberzuge. Das alles wurde in der grossten Behendigkeit ein Stock- 
werk hoher in Zelle 48 wieder gebrauchsfertig gemacht. 

Als ich die Zelle betrat, war ich in der Tat geblendet von ihrer 
Pracht. Zwar war sie um nichts breiter als Nr. 42, aber erstens um 
mindestens einen Schritt langer, und dann — was fur ein herrliches 
Fenster ! Und ein richtiger Tisch! Und ein Stuhl! Und ein 
ganzes Waschgeschirr im Metallgestell ! Ich will die Herrlich- 
keiten einzeln beschreiben. — In der dem Zelleneingang gegenuber- 



') Hier folgen wieder langere Betrachtungen ganz personlicher 
Art, die sich fur die Veroffentlichung nicht eigenen. Nur die allge- 
meinen Schlusssatze drucke ich ab. 



— 109 — 

liegenden Winkel steht der viereckige Tisch, ein richtiger Kuchen- 
tisch, in dem ich zu meiner grossten Freude eine ausgiebige Schub- 
lade entdeckte, die jetzt meine Zigarren und mein Schreibpapier ent- 
halt. Der Tisch fullt genau den Raum zwischen den beiden Wanden 
links und rechts aus und liegt mit der Breitseite an der Hinterwand, 
Unmittelbar iiber dem Tischrand erhebt sich, und zwar in der Hohe bis 
zur Decke, das Fenster, dessen oberes Drittel halb aufgeklappt ist. 
Vom Rande dieses Teils hangt wie ein Damoklesschwert eine Holz- 
stange so dicht iiber mir, dass ich beim Aufstehen vom Stuhl stets 
in Gefahr bin, sie mir in den Schadel zu rammen An dieser Stange 
kann man das Fenster nach Bedarf schliessen Da die Zelle hin- 
reichend geheizt ist, hat sich dieser Bedarf fur mich noch nicht er- 
geben. (Fortsetzung folgt). 



Gedichte. 



Testament 

Nein, ich will nicht eher zu Grabe, 

eh ich nicht auch die letzten Sprossen 

irdischen Gliickes erstiegen habe, — 

eh ich das Leben nicht ganz genossen; 

eh ich nicht alle Frauen umschlungen, 

die mich durch meine Trdume begleiten, 

eh ich nicht alle Lieder gesungen, 

die sich in meinen Schmerzen bereiten; 

eh ich nicht alle Werke gestaltet, 

die sich den schaffenden Geiste entbinden, 

eh ich der Fiihr er-pflicht nicht gewaltet, 

dass die Menschen ihr Wegziel finden; 

eh ich nicht frohliche Augen sehe, 

die von Erhebung und Stolz verfangt sind; 

eh ich nicht iiber Acker gehe, 

die statt mit Tranen mit Freude gedilngt sind 

Nimmt der Erloser dann und Vernickte 

von meinen Tagen die lastenden Ketten, 

sollt ihr den seligsten Menschen und Dichter 

tief in befreites Erdreich betten. 



— 110 — 

Moses Tod. 

Und Moses blickte ins gelobte Land 
und sah es siiss von Milch und Honig triefen, 
und sehnte sich vom Berge in die Tiefen, 
wo Israel, sein Volk, die Heimat fand. 

Und Boten trugen Aehren her und Wein. 
Kundschafter -priesen Saaten, Land und Fliisse, 
und Jubel gabs im Volk und Tanz und Kiisse, — 
und Moses sah und durfte nicht hinein. 

Da beugt er sich zu brunstigem Gebet 
und sprach zu Gott: „Du hast mich hart getroffen. 
Des Menschen Himmel ist allein sein Hoffen. 
Doch wehe, wem ein giinstiger Wind sich drehtl 

Der du den Lebenden die Sehnsucht gabst, 
nie wieder tdusch den Schwarmer, der dir traute. 
Den Trank, der sich aus Schaum und Traumen braute, 
giess ihn nicht aus, eh du den Durstigen labstl 

Gott! Hilt dich, dass der Mensch sich nicht emport ! 
Wo Funken gliihen, schiire sie zu Flammen! 
Wo Herzen lieben, fiihre sie zusammen!" — — 
Und Moses starb. — Gott hat ihn nicht erhort . . . 



Bemerkungen. 



Die Teuerung. Die Frilchte der Felder sind durch die mass- 
losen Regenglisse des Sommers verfault. Die Missernte ist all- 
gemein. Zu dieser Not kommt der unertragliche Mangel an Vieh. 
Denn die gesegneten Gesetze des Landes pramiieren die Ausfuhr 
und verhindern die Einfuhr von lebendem Essfleisch. Nicht ein- 
mal Gefrierfleisch darf ilber die deutschen Grenzen. Die Vieh- 
zuchter im Reiche haben ein Interesse daran, dass das Volk, 
das Objekt aller Gesetzgebung, den Ertrag seiner flir die Herren 
geleisteten Arbeit, ausschliesslich zu ihrem, der Gesetzgeber, Nutzen 
in Nahrung umsetzt. Die Unfahigkeit der Viehziichter, das Volk 
ausreichend mit Fleisch zu bedienen, andert nichts an diesem In- 
teresse, und tritt eine Hungerkrise ein, wie wir sie augenblick- 
lich erleben, so knurrt ja nicht der Magen dessen, dem das Elend 
der Massen Bedingung zum eignen Wohlstand ist. 



— Ill — 

Die politischen Vertreter des Proletariats fordern laut und ein- 
dringlich die Oeffnung der Grenzen, die Aufhebung der Einfuhr- 
scheine und die Zulassung von auslandischem Konservenfleisch, 
Das ist ganz schon, und zweifellos wird der entsetzlichen Hungerei 
dadurch im Augenblick ein wenig abgeholfen werden. Das Volk 
hat aber gar kein Interesse an billiger Nahrung, es hat 
nur Interesse an reichlicher und guter Ernahrung. Sind die Preise 
fur die wichtigsten Erhaltungsmittel hoch, so hat die Arbeiter- 
schaft ja die Macht, die Kaste, die die Preise bestimmt, zu zwingen, 
entsprechend hohere Lohne zu zahlen. Hatte jede Preissteige- 
rung die allgemeine Forderung nach hoheren Lohnen, die stets 
durch wirtschaftliche Machtmittel unterstiitzt werden kann, zur 
Folge, dann wiissten die herrschenden Machte recht gut die Mog- 
lichkeiten zu finden, die keine Teuerung zulassen. Aber vor So- 
zialdemokraten von Massenstreik zu sprechen, der auf andere Dinge 
als auf Wahlrecht abzielt, ist bekanntlich Volksverrat und Spitzelei, 
Die Initiative dieser Leute erschopft sich nach wie vor in Resolutio- 
nen und in Antragen an die Majoritat solcher Korperschaften, in 
denen sie selbst Minoritat sind. Was sie damit erreichen, erkennt 
man am besten aus dem Geschimpf, mit dem sie nach monatelanger 
Anstrengung, die Hungersnot zu beseitigen, immer noch ihre 
Blatter fullen. Konnte man die Abnahme der nachts auf den Da- 
chern patrouillierenden Katzen statistisch feststellen, dann erhiel- 
ten die. segenvollen Zustande, in denen wir leben, eine besonders 
liebliche Illustration. — Es ist iibrigens unbegreiflich, dass die 
Regierungen und ihre Auftraggeber, die Grossgrundbesitzer, das 
Abschlachten von Katzen und Hunden noch nicht als eine Um- 
gehung der Zollgesetze unter Strafe gestellt haben. — Sie konn- 
ten sich dabei wie beim Saccharin getrost auf den Standpunkt der 
offentlichen Gesundheitspflege stellen. Denn das Volk stirbt viel hy- 
gienischer an Hunger als an madigem Fleisch. 



Die tapferen Eisenbahner. Im bayerischen Landtag haben die 
Herren Sozialdemokraten lebhaft mit dem Verkehrsmimster darum 
gestritten, ob die Eisenbahnarbeiter das Recht zum Streiken haben 
sollen oder nicht. Herr v. Seidlein erklarte schliesslich, er werde 
sich kiinftig von jedem Arbeiter einen Revers unterschreiben lassen, 
dass er auf ein Streikrecht keinen Anspruch mache. Man mag ja 
der Ansicht sein, dass ein Streik mit Revers und ohne moglich ist. 
Denn, wenn einer oder zwei oder zwanzig oder zehntausend eines 
Tages nicht zur Arbeit kommen, dann kann keine Gewalt sie zwingen, 
ihren blauen Tag zu unterbrechen. — Aber dem „Suddeutschen 
Eisenbahner- Verband", einer der Sozialdemokratie eng verschwa- 
gerten Gewerkschaft, war der Schrecken doch in die Glieder ge- 
fahren. Diese tapfere Gesellschaft hat die ganze Rederei der sozial- 
demokratischen Spielkameraden Rederei sein lassen und ist win- 
selnd zu Kreuz gekrochen. Sie hat namlich dem Minister offiziell 
mitgeteilt, dass sie filr ihre Anhangerschaft aus freien Stricken 
auf das Streikrecht verzichte, dass sie die Bedenklichkeit eines Eisen- 
bahnerstreiks filr die allgemeine Wohlfahrt einsehen und solchen 
Streik fur ein gesetzlich unzulassiges Vorgehen halte. 

Der Fall ist ohne Beispiel, selbst in der deutschen Arbeiter- 
bewegung. Die „Munchener Post" sogar lehnt den jammervollen 
Wisch des Verbandes ab. Eine Gewerkschaft verzichtet aus Angst, 



- 112 - 

ihre Organisation, von der eine erhebliche Zahl wohldotierter Be- 
amten leben, konne in ihrem Bestand Schaden leiden, freiwillig auf 
das wichtigste Arbeiterrecht und unterstellt ein Gesetz, das von den 
wlistesten konservativen Schreiern seit langer Zeit mit andauern- 
dem Misserfolg angestrebt wird, als gegenwartig rechtsglilttig. Die 
sozialdemokratischen Zeitungen und die zentralistischen Gewerkschafts- 
blatter mogen sich noch so heilig entrilsten liber das Verhal- 
ten des Sliddeutschen Eisenbahnerverbandes: Dessen Klaglichkeit 
bleibt doch immer die Folge ihrer energielahmenden Verstandigungs- 
politik. Die Tariftaktik der deutschen Gewerkschaften bedeutet 
schon zur Halfte den Verzicht auf das Streikrecht. Man rege sich nicht 
auf, wenn eine Gewerkschaft in ihrer Devotion vor dem Arbeitgeber 
Staat sich nun vor aller Welt in die Hosen macht. 

Amtisant ist die nachtragliche Enthilllung, dass der Minister 
v. Seidlein die Winselei des Verbandes langst kannte, als er seine 
Philippika gegen die Anmasslichkeit der Eisenbahner hielt. Den 
Fusstritt haben die organisierten Schlappschwanze redlich verdient. 



Herve, der Renegat. Gustave Herve ist in sich gegangen. Im 
Gefangnis ist ihm die Einsicht aufgedammert, dass die Gedanken, filr 
die er litt, falsch seien. Die Justiz hat ihren grossten Triumph 
erlebt. Sie hat einen verstockten Sunder gebessert. Wegen seiner 
antipatriotischen Gesinnung wurde Herve eingesperrt. Als Patriot 
hat er das Gefangnis verlassen. Zur Zeit begrussen die Sozialdemokra- 
ten den vernlinftig gewordnen Mann frohlich in ihrer Mitte. Dem- 
nachst werden sie ihn wohl in die Kammer entsenden. Und von dort 
aus ist der Weg ja vorgezeichnet. Aristide Briand hat ihn zu 
finden gewusst — warum sollte Gustave Herve ihn verfehlen ? Eines 
Tages werden wir den Antimilitaristen, der bisher die Insurrektion 
mit Hilfe des „Citoyen Browning" gepredigt hat, als Kriegsminister 
der Republik das Schaffort fur Deserteure empfehlen horen. — 
Es tut weh, einer Personlichkeit, deren Lebensweg man stets mit 
freudiger Zustimmung begleitet hat, plotzlich seine Verachtung und 
seinen Ekel aussprechen zu mlissen. 



Vom Hofe. Schliesslich hat es doch den traurigen Ausgang 
genommen Erst vor ein paar Wochen hat Prinz Georg die schone 
Rede fur die Jesuiten gehalten, und nun ist ihm seine junge Frau 
abgereist und will nicht wiederkommen. Wo wir uns liber das Ehe- 
gllick des Prinzen Georg schon alle so gefreut hatten. Vorerst sind 
sich die liberalen Zeitungen nicht ganz einig liber die Grlinde, die 
die Prinzessin Isabella nach Wien zurlickgetrieben haben. Die Lesart, 
dass sie infolge unliberwindlicher Abneigung gegen ihren Mann ent- 
flohen sei, verdient natlirlich keinen Glauben. Es muss schon etwas 
Ernsteres passiert sein. Und richtig: es hat sich herausgestellt, dass 
Prinzessin Isabella genotigt wurde, hinter der Prinzessin Gisela zu 
Tisch zu gehen. Dadurch erklart sich naturlich alles. — Wie das 
„Berliner Tagblatt' femer meldet, ist Prinz Georg aus Gram in das 
dritte Stockwerk der Residenz gezogen. Nebbich! 

Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, MCinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaflssk'lk' Miinchen, Baaderstr. la. Tei.2355 



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Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammern des Staates. — 
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reichs ! Fritz Brupbacher: Die Autgaben des Anarchismus im demokratischen 
Staate. — Otto Karmin: Syivain Marechal und die Verschworung der 
Gleichen. — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses 
zwischen Jdeal und Wirklichkeit — Andreas Kleinlein: Der Syndikalismus 
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis: Aus dem Leben eines revo- 
oo lutionaren Kampfers etc. etc. oo 



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Samtliche Gel d s e ndu ngen richte man an : 

Rudolf Grossmann, Klosterneuburg (bei Wien) 

Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich. 



Jahrgang II. No. 8. November 1912 

KMN 

Zeif/chrifffur 

rien/ch(ich(\eir 
HemuJgeber; 

(rich Huh/am 




Inhalt: Fur den Frieden. — Miinchener Theater. — Tagebuch aus 
dem Gefangnis. - Bemerkunken. — Gerhart Hauptmann. — Wenn 
der bayerische Lowe briillt. — Lieb Vaterland. — Schlechte Manieren. 



Kain-Verlag Munchen. 

3Q Pfg. 



Die Schaubuhne 

Herausgeber: 

Siegfried Jacobsohn. 



Stimmen der Presse: 



Die Zukunft. Die Schaubuhne ist d'e beste deutsche Theater- 
zeitschrift, die wir besitzen; eine der am wurdigsten redigierten Zeit- 
schriften. Ein Golfstrom: Lebendigkeit, Wa'rme, Geistigkeit, Kampf, 
Witz, Seele geht von ihr aus. 

Dresdener Anzeiger. Nach acht Jahren des Bestehens 

dieser Zeitschrift, die damals bereits an dieser Stelle mit Anerkennung 
begriisst wurde, muss nachdrlicklich betont werden, dass wir in 
Deutschland jetzt keine Theaterzeitschrift haben, die der Schau- 
buhne an S c h a r f e und Weitsichtigkeit des Urteils, an gediegenen und 
glanzenden Aufsatzen vorangestellt werden kann. In jahrelagner auf- 

merksamer Prufung hat sich dieses Urteil bei uns befestigt. Jeder 
Freund einer ehrlichen, freien und eindringlichen Kritik wird die 
Schaubuhne mit Genuss und reichlichem Nutzen lesen. 

Han nover scher Courier. Recht verschiedene Geister 

sind es, die sich hier im Rahmen einer Zeitschrift zusammenfinden, 
aber eins eint sie: sie alle reden mit durchaus persbnlichen Ak- 
zenten, es sind namlich Leute, die ihrem eigenen Instinkt lieber 

folgen als dem Instinkt der Masse. Manche sprechen geradezu im 
Ton der Leidenschaft, des Fanatismus. Der Inhalt des Blattes 

ist in hohem Grade mannigfaltig; auch die Form unterhaltsam und 
abwechslungsreich. 

Mannheimer Generalanzeiger: Die Schaubuhne ist 
von alien Theaterzeitschrift en die aparteste, lebendigste und an- 
Siegfried Jacobsohn g ib t sie heraus. Er ist von denen, 
iiber Theater schreiben, der einzige, der wirklich Kritik 



regendste. 
die h e u te 
hat. 

N e u e 
redigierte s , 
f e m e r mit 
menhangt. 



Zuricher Zeitung. Die Schaubuhne ist ein frisch 

inhaltlich anregendes Organ fur alles, was naher oder 
der Buhne in deutschen Landen wie im Ausland zusam- 
Sie ist eine jener Zeitschriften, die man stets gerne in die 
Hand nimmt, weil man stets sicher ist, irgend etwas zu finden, was 
Interesse und Nachdenken weckt. 



Leipziger Tageblatt. Die Schaubuhne verdient das Lob, 

eine unsrer besten Zeitschriften und unter denen, die sich mit dem 

Theater- und der dramatischen Kunst beschaftigen, weitaus die beste 
zu sein. 



Vierteljahrlich M. 3.50, jahrlich M. 12. — , Einzelnummer 40 Pfg. 

Einmonatiges Probe-Abonnement gratis und franko. 

Verlag der Schaubuhne ?"tH£EE! , S™ 



Jahrgang 11 Munchen, 

No. 8. November 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fur Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

J| tl II Rl l-IUi l. l.M * i k.i li II I I II I II I >l : ii.i.i.ii.j.i.Hi i.<i. 1. 1 r.t~rT^. i. I ■* |,.j I I ilT 1-4 i.i-irr 

„ K A I N ' erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt 

fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag" 

Munchen, Baaderstrasse la 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

Fiir den Frieden. 

Der Friedenspfeife der europaischen Staaten ist ein 
Funke davongeflogen. Der hat den Benzinbehalter am 
Balkan explodieren lassen, und nun steht GroB und Klein 
neugierig und von einem wolliistigen Schauder gekitzelt 
in gemessener Entfernung um den dicken Pulverturm 
herum und wettet, ob inn das Feuer wohl erfassen werde 
oder ob man in ihm weiterhin das europaische Gleich- 
gewicht stabiliert sehen diirfe. Die geaichten Patrioten, 
die nichts Geistiges zu verlieren haben, spucken schon in 
die Hande und freuen sich auf den frisch-frohlichen Krieg 
gegen die Nachbam, die im Moment, wo es losgeht, zu 
Erbfeinden avancieren werden. Vaterlandische Schor- 
nalisten kriimeln aus dem Zettelkasten der stereotypen 
Redewendungen den wohltatigen Aderlass hervor. Der 
Burschoa sichtet seine Papierchen und richtet seine Speku- 
lation auf Baisse ein. Die Manner in der Bluse lassen 
den drohnenden Schritt der Arbeiterbataillone horen, 
begeben sich in musterhafter Disziplin zum Meeting in 
einen benachbarten Vergniigungspark, nehmen — einige 
hunderttausend klassenbewuBte Manner und Frauen — 



— 114 — 

einstimmig eine Resolution an, in der sie den Krieg fur 
kulturlos erklaren und die Einberufung der Abgeordneten 
fordern, die das noch einmal sagen sollen. Dann begeben 
sie sich in bewundenswerter Ordnung nach Hause. 

Manche meinen auch, es sei noch nicht so gefahrlich. 
So schnell schieBen die PreuBen nicht. Gut Ding will 
Weile haben. Es wird nichts so heiB gegessen, wie es 
aufgetragen wird. Was geht's uns an, wenn unten weit 
in der Turkei die Volker aufeinanderschlagen? Kommt 
Zeit kommt Rat. Wie gehts Hinen derm sonst? 

Wir leben in einer triiben Zeit, der im Denken und 
Wollen faulsten, die die Geschichte erlebt hat. Der Ehr- 
geiz der Volker strebt nach der technischen Vollkommen- 
heit der Kriegswaffen. Die Beziehungen der Nationen 
regeln sich nach den Tolpeleien, die den aller Aufsicht 
entriickten Diplomaten und Botschaftem in ihrem Dauer- 
schlaf passieren. Die Massen werden politisch geschult, 
indem ihnen ein schwachliches Parteiprogramm als Gummi- 
schnuller in den Sabbermund geschoben wird. In den 
Schulen und auf den Bierbanken werden die Ideale ge- 
predigt, an denen schon vor 1870 das Talentchen des 
seligen Professors Emanuel Geibel verkrachte. Ueber jede 
junge Begeisterung aber, iiber alles frische Trachten nach 
Leben, Bewegung, Freiheit, Schonheit, Gliick fiihrt die 
senile Erfahrenheit klapperiger Oberlehrer den schabigen 
Wischlappen einer tragen Geschaftsmoral. 

Und die Jungen lassen sichs gefallen. Sie kommen 
gamicht darauf, daB die Weisheiten, die man ihnen ein- 
paukte, kritikfahig sind. Weil die Alten es ihnen so 
sagten, glauben sie an den Gott, der uns Menschenkinder 
an der Strippe fiihrt und uns nach Belieben iiber Graber 
hopsen oder hineinplumpsen laBt. Sie finden es ganz in 
der Ordnung, daB ihre Liebe den Alten ein Rechen- 
exempel, ihr Beruf eine Spekulation, ihr Lebenswandel 
ein Borsenpapier bedeutet. Die Jugend unserer Tage hat 
keinen Stolz, kem, Selbstvertrauen, keinen Mut. Sie furchtet 



— 115 — 

den Rohrstock der vorigen Generation und plappert darum 
nach, was das brave Kind wissen soil, bis sie es glaubt, 
bis sie alle bessere Einsicht, alles natiirliche Gefiihl, alien 
jungen Leichtsinn verdrangt hat und selbst alte Generation 
geworden ist. 

Was aber den jungen Menschen dieser Zeit am 
bittersten fehlt, das ist die Fahigkeit zur Leidenschaft, 
zum Zorn, zur Ergriffenheit. Der Verlauf der Gegen- 
wartsgeschichte ware ein vollig anderer, wenn die offent- 
lichen Begebenheiten nicht so sehr auf kritischen Verstand 
als auf kritische Herzen Riicksicht zu nehmen hatten. 
Die gemeinsten Schandlichkeiten, die in aller Welt ge- 
schehen, werden mit einer Niichternheit und inneren 
Teilnamslosigkeit diskutiert, daB man an jeder Aktion, die 
Empfindung, Hingabe, Seele verlangt, fur alle Zukunft ver- 
zweifeln mochte. Unser indolenter Nachwuchs aber glaubt 
sich .vorurteilslos, weil er temperamentlos ist, und hat 
keine Ahnung, daB er Opfer jener kalten, fatalistischen 
und im Grunde tiefphilistrosen materialistischen Geschichts- 
auffassung ist, die alle Handlung als naturgewollt und der 
EntschlieBung des individuellen Willens entriickt ausgibt. 
Das briistet sich mit unverstandenem Nietzsche, heiBt sich 
amoraUsch und turnt jenseits von Gut und Bose an unso- 
zialen Begriffsbarren herum. Es ist hohe Zeit, daB die 
Werte Gut und Bose wieder Eingang linden in die Gefuhls- 
welt der jungen Leute. Sie miiBten nur den Pfaffen und 
Advokaten entrissen werden und im Sinne von Sozial 
und Unsozial die Ethik der Wertvollsten stiitzen, dann 
konnten sie dem klugen Kritizismus unserer Zeit sehr 
wohl die Warme geben, die zu seiner Umsetzung in 
forderliche Taten notig ware. 

Man horche nur in den Zirkeln der Jeunesse doree 
herum, wie schnuppig bei aller Heftigkeit und Lebhaftig- 
keit der Erorterungen die gegenwartigen Vorgange auf 
dem Balkan und die daraus hervorquellenden Moglichkeiten 
behandelt werden. Der Rassentheoretiker, der allemal 



— 116 — 

zugleich Entwicklungspolitiker ist, begriiBt freudig die 
Energie der verbiindeten Slavenvolker, die endlich die 
verhaBte, kulturlose, degenerierte, erbarmliche Osmanen- 
bande aus Europas benedeitem Zivilisationsbezirk ver- 
treiben werde. Der gewitzte Realpolitiker bekennt sich 
dagegen als deutscher Nationalist und legt — sehr viel 
gescheiter, aber frei von jeglicher sachlichen Beteiligung — 
dar, wie schreckliche Folgen eine Niederlage der Tiirken 
fur das Deutsche Reich haben miiBte. Derm die sieg- 
reichen Balkanstaaten wiirden sich zu einem machtigen 
Bundesstaat vereinigen, Oesterreich bekame dadurch eine 
starke GroBmacht in den Riicken und ware als Bundes- 
genosse fur Deutschland ganzlich entwertet, das nach alien 
Grenzen hin absolut isoliert dastande. Argumente fur 
den Volkerfrieden, die vom reinen Gefuhl diktiert werden, 
werden von beiden mit gleicher Verstandnislosigkeit an- 
gehort. Die Menschlichkeit hat als uberzeugende Kraft 
in unseren Zeitlauften langst ausgedient. 

Wie steht es derm aber wirklich mit der ganz Europa 
beschamenden Kulturlosigkeit der Tiirken? Wahrscheinlich 
nicht gar so arg, wie es gemacht wird. Zunachst ist es 
eine gehnde Falschung, die Tiirken ohne weiteres mit den 
Osmanen zu identifizieren. Die Rasse ist von arabischen, 
tscherkessischen, slavischen und romanischen Elementen 
langst so griindlich durchsetzt, daB die Schwatzer, die mit dem 
Maul ein ganzes verkommenes Hunnenvolk auszurotten 
scheinen, genau so geschmacklos daherreden wie ihre 
Gegner, denen alle Serben, Bulgaren, Montenegriner und 
Griechen nichts anderes als verlauste Hammeldiebe sind. 
Der Verlauf des Krieges soil jetzt die Untiichtigkeit der 
Tiirken evident beweisen. Dem kann wohl entgegnet 
werden, daB Kriegstuchtigkeit nicht im mindesten ein 
Kriterium fur den sittlichen Wert eines Volkes ist. DaB 
es den Tiirken weder an Mut noch an Entschlossenheit 
gebricht, haben sie vor ganz wenig Jahren gezeigt, als sie 
in der kiirzesten, unblutigsten und zielklarsten Revolution 



— 117 — 

sich demokratische Einrichtungen schufen, die dem PreuBen, 
das zur Ausbildung tiirkischer Soldaten Offiziere auslieh, 
noch lange fromme Sehnsucht bleiben werden. Es sei 
daran erinnert, daB dasselbe Osmanenvolk, das jetzt als 
Ausbund letzter Klaglichkeit gemalt wird, dermaleinst vor 
den Toren Wiens gestanden hat, daB es in den letzten 
vierzig Jahren eine Reihe von Verteidigungskriegen gefuhrt 
hat und im Augenblick, da es noch mitten im Kriege 
gegen eine europaische GroBmacht begriffen war, von den 
landhungrigen Nachbarn angegriffen wurde. 

NatiirUch haben die aggressiven Herren Konige, von 
denen nur zwei iiberhaupt Landsleute ihrer Untertanen 
sind, nicht verabsaumt, durch die Berufung auf sein Kreuz 
das Andenken des ersten Christen zu schanden. Diesen 
Beauftragten gewissenloser GroBspekulanten war es nicht 
zu schabig, fur ihr straBenrauberisches Beginnen, fur den 
tiickischen Ueberfall auf ein geschwachtes Land, dem man 
noch nicht einmal Zeit lieB, sich in den durch die Re- 
volution neu geschaffenen Verhaltnissen zu orientieren, 
fur die Hinmordung zehntausender junger Menschen, fur 
die Brandschatzung ganzer Landstriche mit alien unver- 
meidhchen Schweinereien an Notzucht und Greisen- und 
Kindermord, — diesen gottgesalbten Potentaten war es 
nicht zu schabig, fur all das Entsetzliche des Raubzugs 
die Friedens- und Liebeslehre des Christentums zum Vor- 
wand zu nehmen. — Und die man bei uns auf diese 
Niedertracht aufmerksam macht, finden sie ganz selbstver- 
standlich und sehen nicht ein, warum man im Bauernvolk 
die Leidenschaft nicht mit Scheingriinden erhitzen soil, 
da die wahren Motive fur den Krieg bei der unverdor- 
benen Masse ja doch nicht auf Verstandnis rechnen konnen. 

Ich will mir den Vorwurf des krassen Dilettantismus 
in politischen Dingen gem gefallen lassen, wenn ich nun er- 
klare, daB meine Sympathie sogleich auf Seiten der slavischen 
Balkanvolker (nicht ihrer Konige) sein wird, wenn Oester- 
reichs begehrlicher Langfinger in die Morderei eingreift. 



— 118 — 

ein Raubzug um exploitierfahige Landstrecken sein, sondern 
ein revolutionares Aufbegehren gegen die auf Geld- und 
Militaruberlegenheit trumpfende Rauberei europaischer 
Sklavenjager. — Wird es dazu kommen? Wird die oster- 
reichisch-ungarische Volker-Koalition wirklich die Verant- 
wortung tragen wollen, um die direkte Nachbarschaft mit 
der Tiirkei zu retten, den entsetzlichsten aller Kriege 
heraufzubeschworen ? 

Hatten die unter Habsburgs Szepter vereinigten Volker 
zu entscheiden, dann brauchten wir nichts zu flirchten. 
Aber die haben Steuern zu zahlen, zu gehorchen und ihr 
Blut zu lassen. Aus sittlichen Griinden werden die Wiener 
und Budapester Regierungen gewiB nicht zaudern, ihre 
Slavenvolker gegen die Slaven des Balkans marschieren 
zu lassen. Die letzte Entscheidung iiber Krieg oder Frieden 
haben heutzutage die Borsen und Bankhauser. Da werden 
Gewinn- und Verlustchancen — nicht nach Menschen- 
sondern nach Geldwerten — berechnet, und verspricht 
nach der Kalkulation der Krieg fur die Millionare ein 
Geschaft zu werden, dann wird zur Attacke geblasen, dann 
werden hunderttausende kleinere wirtschaftUche Existenzen 
vernichtet und hunderttausend kraftige junge leistungsfahige 
Manner hingeschlachtet — fur die Ehre des Vaterlandes. 

Geht es aber los, das wissen wir alle, dann wird es 
ein Weltkrieg, wie er furchterlicher noch niemals gebrannt 
hat. Derm Oesterreich hat nicht gegen die Serben zu 
kampfen, sondern gegen die Russen. Fur Deutschland 
und Frankreich werden die Biindnispflichten akut, und 
weil ein paar Wiener Bankiers den Serben ihren "Korridor" 
zum Meer, den Sandschak-Novibazar nicht glauben gonnen 
zu diirfen, werden in ganz Europa, in Westen und Osten, 
alle Ungeheuer der Kriegswissenschaft lebendig, namen- 
loses Elend erfaBt alle Volker, Leben und Werte werden 
zerstort, Familien, Dorfer, Stadte und Provinzen gesprengt 
und Kultur und Gesittung, wo sich ihre knospenden An- 



— 119 — 

Dann narnlich wird der Kampf dieser Nationen nicht mehr 
lagen finden mogen, entwurzelt und ausgerodet. 

Vielleicht ist — wenn diese Hefte ausgegeben werden — 
der Brand schon ausgebrochen; vielleicht hat sich das 
Gewitter, dessen Blitze den Horizont in dieser Stunde schreck- 
haft verzerren, inzwischen verzogen. Ist das erste der 
Fall, marschiert unsere kraftigste Mannschaft schon um 
eines Nichts willen in den Tod, dann bedarf es keiner 
zornigen und warnenden Worte mehr, dann agitiert 
die scheuBliche Kriegsbestie unter der sterbenden Jugend 
wirksamer fur den Volkerfrieden, als alle revolutionare 
Sehnsucht es je vermochte. Ist es aber noch Zeit, hat 
die gesegnete Angst der Lander voreinander, und die 
dreimal gesegnete Angst mancher Regierungen vor Insur- 
rektion und Revolution das Schreckliche verhindert, dann 
mag unser geistiges Volk und alien voran unser junges 
Volk erinnert werden, daB es not tut, den von Borsen 
und Regierungen drohenden Gefahren den Willen zu einer 
neuen Kultur entgegenzustellen. Der Weg zu neuer Kultur 
fuhrt iiber Zom und Leidenschaft. Ihre Bedingung ist 
Freiheit von den Traditionen und Konventionen der Eltern, 
Verachtung der Schulideale, HaB gegen Knechtung und 
Krieg und Wille zum Schonen, Wesentlichen und Wahren. 

Miinchener Theater. 

Die Entwicklung des Lustspielhauses vom Grossen Wurstl zu 
den Mlinchner Kammerspielen ist vollendet. Warum einem Theater, 
das in zweijahriger Wirksamkeit ausser Tschechows „M6ve", Strind- 
bergs „Vater" und Heinrich Manns „Unschuldige" doch eigentlich 
keine Leistung gezeigt hat, die einige seelische Erschutterung bewirken 
konnte, der anspruchslose Name Lustspielhaus nicht genligte, ist 
schwer einzusehen. Aber meinetwegen auch Munchner Kammer- 
spiele. Man durfte neugierig sein, mit welchem Werk Herr Dr. 
Robert die neue Wurde seines Hauses zuerst dokumentieren werde. 
Der Weihrauch, der dem Lustspielhaus bisher ilberreichlich ge- 
spendet wurde, wird jetzt mit dem feierlichen Namen des Theaters 
ausdrilcklich verlangt, und die Direktion wird sich bewusst gewesen 
sein, dass sie infolgedessen eine Kritik von hoheren Ansprilchen her- 
ausfordere, als sie einstmals dem Grossen Wurstl zukamen. Die 



— 120 — 

Wahl des ersten Stuckes ward offenbar vom Zeitgeschmack entschei- 
dend mitbestimmt: sie fiel auf „Das Leben des Menschen", ein Spiel 
in ftinf Bildern von Leonid Andrejew. 

Das Werk des Russen ist ein Mysterium. Ich gestehe, dass ich 
den Verdacht nicht loswerden kann, diese Eigenschaft habe dem Stilck 
zur Annahme in den Kammerspielen verholfen. Mysterienspiele ent- 
sprechen anscheinend zur Zeit einem Publikumsbedtirfnis. Ich mochte 
mit dem Bekenntnis nicht hinterm Berge halten, dass ich im Theater 
wesentlich andere Bedlirfnisse befriedigt zu sehen wlinsche. Wir sind 
mit Mysterien nachgerade uberfuttert. Von den Oberammergauer 
und Erler Passionspielen ganz abgesehen: zuerst kam das immer noch 
naive und infolge seiner brillanten Inszenierung und seiner Singularity 
recht interessante alte Spiel von Jedermann. Dann kungeltem vom 
aller Herren Lander die Reinhardtschen Erfolge mit Vollmollers 
„Mirakel" herilber. Uns Mlinchnern ist dieses Opus ja bis jetzt freund- 
lich vorenthalten geblieben, aber wir wissen genug, wenn wir der 
Begeisterung des Wiener Eucharisten-Kongresses gedenken, dessen 
Geschmack anscheinend ausgezeichnet entsprochen war. Uns Milnch- 
nern hingegen allem war der schandhafte Prinz beschieden — und 
nun auch noch das Unglilck in der Augustenstrasse. Wir haben ge- 
nug. Wir danken bestens. Wir wollen im Theater Dramen sehen, 
keine Allegorieen. 

Ein Drama charakterisiert sich dadurch, dass in ihm Typisches 
am Einzelfall dargestellt wird. Die — von Andrejew geiibte — Personi- 
fizierung des Typus ist undramatisch und darliber hinaus unklinst- 
lerisch. Da tritt der Mensch auf — schlechtweg der Mensch. Kein 
Individuum etwa, kein Besonderer, kein von einem einzelnen Schick- 
sal aus der Masse gestellter Mensch, — nein: der Mensch, als natur- 
geschichtliche Spezies, wie der Hund, die Schlange, das Glirteltier. 
Und um ihn herum seine Gattin, seine Freunde, seine Feinde, seine 
Gaste, und noch etliche Abstrakta in menschlicher Gewandung: nam- 
lich die alten Frauen, die Parzen ahnlich, seine Geburt und seinen 
Tod begreinen und den Klatsch, das Ungllick, den Neid und falle 
bosen Dinge versinnbildlichen. Und dann ist da ein Jemand in 
Grau. Der spricht zuerst einen Prolog, in dem erzahlt wird, was wir 
auch vorher wussten, dass der Mensch geboren wird, dass es 
ihm manchmal gut geht und manchmal schlecht, und dass er am Ende 
seiner Tage stirbt. Dieser Werdegang wird nachher in filnf Buh- 
nenbildern im Einzelnen vorgefiihrt, und der Jemand in Grau steht 
die ganze Zeit dabei und hat zum Zeichen, dass das Leben zum Schluss 
hin immer klirzer wird, eine brennende Kerze in der Hand, die bei der 
Geburt des Menschen mordslang ist, dann von Akt zu Akt weiter her- 
unterbrennt, bis in dem Moment, wo der Mensch — naturlich in einer 
Budike unter lauter Besoffenen und selbst total heruntergekommen - 



— 121 — 

endlich stirbt, der Jemand in Grau den kleinen Kerzenstummel zu 
aller Befriedigung auspustet. Ich kann wohl sagen, eine banalere 
Symbolisierung des menschlichen Lebens ist mir denn doch noch nicht 
vorgekommen. Das Publikum sass naturlich in tiefer Ergriffenheit 
dabei: Es war doch so poetisch! 

Im Besonderen bietet das Stuck nicht viel mehr Erfreuliches als 
im Gesamten. Dass gleich zu Anfang der Zuschauer Ohlrenzeuge einer 
Geburt sein muss, ist doch zum mindesten geschmacklos. Wars we- 
nigstens rasch erledigt, aber man bekommt die Meinung, dass 
hinter der Kulisse mindestens Drillinge aus Licht wollen. Das Schreien 
des kreissenden Weibes hort garnicht auf und wird immer arger. Man 
ist wahrhaft froh, wenn der Jemand in Grau mit der lebenslanglichen 
Stearinkerze erscheint und mitteilt, was man sich schon gedacht hat: 
dass der Mensch endlich geboren sei. Die Trivialitat des Vaters des 
Menschen und seiner Verwandten zeichnet Andrejew naturgemass am 
besten. 

Das zweite Bild heisst „Liebe und Armut"'. Der Mensch ist 
jungverheiratet und hat mit seiner Frau nichts zu essen. Aber man 
liebt sich und ist gllicklich, auch stecken die guten Nachbarn gele- 
gentlich ein Stuck Brot ins Zimmer. Ausserdem ist der Mensch ja 
Kunstler und Architekt (der tiefer Schauende erkennt auch hier des 
Dichters feine symbolische Absicht), da wirds schon werden Und 
richtig: der Mensch ist nicht zu Hause und seine Frau schlaft. Da 
erhebt der Jemand in Grau seine Stimme und erzahlt, dass der Mensch 
jetzt einen Bauauftrag kriegt, und dass nun alle Not aufhoren wird 
Immerhin auch eine Art, wie sich Herr Andrejew hier mit einer 
Schwierigkeit der dramatischen Gestaltung abfindet. 

„Reichtum; Ball beim Manschen". Es ist furchtbar vornehm 
bei Menschens geworden. Eine Pracht geradezu. Die Gaste sitzen 
herum und bewundem den Reichtum Die Freunde freuen sich und die 
Feinde stecken die Kopfe zusammen. Ja, so gehts zu. 

Im vierten Bild ist man aber schon wieder im Ungluck. Man ist 
alt und tauscht Reminiszenzen aus. Man hat aber auch Hoffnungen 
und ein Kind. Das stirbt und wir flirchten fur den Menschen das 
Aergste. 

In jener schon erwahnten Budike ereilts ihn. Denn so pflegt es 
ja im Menschenleben herzugehen, dass man schliesslich im Rinn- 
stein verreckt. Der Vorhang fallt, das Publikum ist begliickt und 
geht in schwermutigen Betrachtungen fiber die Lehren des tiefen 
Werks heim. 

Ich leugne nicht langer, dass ich das Stuck zum Speien finde 
und dass ich das Publikum im Verdacht habe, mit seinem Applaus die 
gelinde Gene zu verbergen, dass as ein Werk des grossen Russen 
Andrejew nicht genial finde. Man hat namlich noch in Erinnerung, 



— 122 — 

dass sein Landsmann Tschechow wirklich ein uberragender Geist 
war. — Moglich auch, dass der Beifall der Regie gegolten hat. Mir 
personlich war das Werk selbst so peinlich, dass mir auch die glan- 
zendste Regie nicht liber sehr unangenehme Empfindungen hinweg, 
geholfen hatte. Ich finde aber auch, dass die Regieleistung des 
Herrn Dr. Robert zu Ekstasen der Begeisterung keinen Anlasa 
bietet. Schon war nur das dritte Bild Die Marionetten der begllickten 
Gaste waren komisch und wirksam gesteilt und dirigiert. Auch bot 
dieses Bild die erquickende Abwechslung, dass man die Buhne 
ilbersehen konnte. Dass man den grossten Teil des ersten Bildes 
und das ganze funfte Bild hindurch vor vollstandig dunkler Szene 
sitzen musste, verdreifachte die Qual des Abends, fur die ich ub- 
rigens den Direktor der Kammerspiele nicht allzuscharf angreifen 
mochte. Er hatte nur dem vermeintlichein Zeitgeschmack, nicht bis 
zu der Verirrung dieser mystischen Banalitat nachgeben sollen. — 
Leber die Darstellung ist nicht viel zu bemerken. Herr Rene sprach 
als Jemand in Grau eindrucksvoll und gut. Leider versagte der Dar- 
steller des Menschen, der eigens von auswarts verschrieben war, 
durchaus. Die Rolle hatte aus dem standigen Personal des Theaters 
sicher besser besetzt werden konnen. Fur einen Fehler halte ich 
es auch, dass Frau Roland die Frau des Menschen spielte. Ihre 
Art ist zu hart und zu schroff filr eine Rolle, als deren vollendalle 
Gestalterin man sich etwa Lucie Hoflich vorstellen kann. Unter 
den Nebenrollen mogen die Herren Schwaiger und Kaiser, sowie 
Frl. Lorm lobend hervorgehoben werden. 

Das Schauspielhaus brachte ein Schauspiel des Danen Henri 
Nathansen heraus: „Hinter Mauern". Die ersten beiden Akte 
hindurch empfangt man den Eindruck, dass sich hier ein ganz feiner 
differenzierter Dichter offenbare, einer, der mit grosser Liebe das 
Milieu seines Werks studiert hat und es versteht, den Zuschauer in 
diesem Milieu sogleich heimisch zu machen. Das Problem verrat 
sich sogleich: Die Revolution der aufgeklarten Jugend gegen das kon- 
servative Alter, dargestellt in einer jildischen Familie. Esther Levin 
hat sich mit dem jungen Privatdozenten Dr. Herming verlobt, und 
der Konflikt besteht nun nicht nur darin, dass die orthodoxen jildi- 
schen Eltern schon im Prinzip der Verbindung mit einem Christen 
widerstreben, sondern verscharft darin, dass Hennings Vater von 
Jugend auf der intimste Feind des Vaters Levin ist. Da gibt es nun 
sehr reizvolle Szenen: wie die Familie Levin am Freitag abend um 
den gemeinsamen Tisch versammelt ist, wie: Esther zu spat von der 
Vorlesung (rede Verlobung) kommt, wie sie der Mutter beichtet, wie 
— die schonste und poetischste Szene des Stuckes — Frau Sara 
Levin ihren Gatten zugunsten der Tochter bearbeitet. Dann die Ein- 
fiihrung des blonden Brautigams in die Familie und das Verhalten 



— 123 — 

der unterschiedlichen Briider Esthers, — alles sehr klug beobachtet 
und mit viel Liebe und Geschick gestaltet. — Aber dam kommt 
die grosse Pause, und danach der dritte und vierte Akt. Jetzt 
soil die dramatische Handlung losgehen, und jetzt wird's Kientopp. 
Die Verlobungsfeier im Hause des Staatsrats Hermimg, die Ausein- 
andersetzung ttber die kirchliche Trauung, iiber die Religionszuge- 
horigkeit der eventuellen Kinder — und daraus entsteht dann der 
Krach. Der alte Zorn iiberkommt die Vater wieder. Herr Levin don- 
nert dem Feinde ein „Schuft!" entgegen, das auch von Bataille sein 
konnte, und Verlasst in grosser Pose mit seiner Frau das Haus Her- 
mings. Esther hort die Stimme des Blutes und die Zusammengehorig- 
keit mit ihresgleichen und lost Knall und Fall die Verlobung. Aber 
der Edelmut des jungen Herming fuhrt alles noch zum gllicklichen 
Ende. Er sieht ein, wie recht die Gegenpartei hat und liebt Esther 
von Stund an nur umso heisser. — Schade drum. In dem Augen- 
blick, wo Nathansen sich besinnt, dass es nicht bis zum Schiusa 
mit Milieuschilderung abgehen kann, verlasst ihn jeder Geschmack 
und jede Psychologie. Da Vater Levin schon die Ehe seiner Toch- 
ter mit einem Christen und noch dazu mit dem Sonn seines antisemi- 
tischen Feindes zugegeben hat, leuchtet die Verzweiflung darliber, 
dass seine Enkel getauft werden sollen, nicht mehr ein Der rilhr- 
selige Ausgang verdirbt dann auch noch den immerhin moglichen 
dramatischen Schluss, dass auf beiden Seiten die Einsicht aufgebt: 
Der seelischen Hemmnisse sind auf beiden Seiten zu viele — und 
die liebenden jungen Menschen mlissen eben daran zerbrechen. 

Die Auffuhrung war eine der befriedigendsten, die Direktor 
Stollberg seit langem zuwege gebracht hat. Dia Stimmung in der judi- 
schen Familie wurde ausgezeichnet getroffen, und die Darsteller stan- 
den alle am rechten Platz. Carl Friedrich Peppier gab dem alten 
Levin viel Warme und glaubhaftes Leben, an seiner Seite die wun- 
dervolle Frau Gliimer entzlickte wieder mit jedem Wort und mit jeder 
Geste, und besonderer Erwahnung wert ist aussserdem Frau Fritzi 
Schaffer, in der die Esther ganz vorzliglich verkorpert war. Hier 
liegen wohl die besten Moglichkeiten dieser Schauspielerin: in der 
Gestaltung herber trotziger Madchencharaktere. Ich erinnere mich, 
schon mehrfach in ahnlichen Rollen jene leichte Verbissenheit mal- 
tratierter Gemuter sehr ausdrucksvoll von ihr dargestellt gesehen 
zu haben. — So in Halbes „Mutter Erde", — doch kaum je bat 
mir Frau Schaffer besser gefallen als in Nathansens Schauspiel') 

') Platzmangel zwingt mich, mein Urteil ilber die letzten Premieren 
des Residenztheaters „Magdalena" und „Belinde" einen Monat zu- 
ruckzustellen. 



— 124 — 

Tagebuch aus dem Gefangnis. 

(Fortsetzung.) 

Sehr luxurids ist nun, dass sich nicht nur liber der Breitseite 
des Tisches, sondern auch liber seinen beiden Schmalseiten je ein 
Fenster bis zur Decke erhebt, so zwar, dass die Seitenfenster noch 
etwas schmaler sind, als der Tisch. Meine Zelle liegt namlich, wie 
der Inspektor mir schon verraten hatte, im Erker, und ich kann, wenn 
ich morgens iiber den Hof marschiere, um „frische Luft" zu mir zu 
nehmen, stolz erkennen, welches Fenster meine Zelle bezeichnet. 
Uebrigens sind die Scheiben meines Fensters auch nicht 
von Eisenstangen durchschnitten, sondern haben ein richtiges hol- 
zernes Fensterkreuz, das sich zwar leider nicht offnen lasst, aber doch 
immerhin ganz httbsch aussieht. Leider ist das Glas hier so wenig 
durchsichtig wie in Nr. 42. Nur eben angedeutet sieht man hinter 
den gerillten Scheiben des Breitfemsters wie der Seitenfenster ein festes 
eisernes Aussengitter. — Der Stuhl, auf dem ich sitze, hat eine Lehne, 
und alles ubrige ist so beschaffen wie in Nr. 42 auch. Nur hangt am 
„Spind" ausser den ubrigen Anweisungen noch ein „Alkohol-Merk- 
gesteuert werden soil. Und das fromme Plakat, das jede 
Zelle schmuckt, tragt hier auf der einen Seite die Inschrift: „Gott 
will, dass sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und bete. 
Hesekiel 33, 11a; auf der anderen Seite, die ich mir nach aussen 
gehangt habe: „Erkenne deine Missetat, das du wider den Herrn 
deinen Gott geslindigt hast. Jerem. 3, 13." Ich hege einigen Zwei- 
fel, ob schon einmal ein Sunder durch das wochenlange Betrachten- 
diirfen solcher aus dem Zusammenhang gerissener Satze von seiner 
Slindhaftigkeit kuriert worden sei. Will man schon erziehlich wir- 
ken, indem man wenig gebildeten Menschen Spruche biblischer 
oder sonstiger Weisheit in die Gefangniszelle hangt, so sollte man 
doch zu allererst darauf achten, dass etwa das Wort „dass" nach 
„Erkenne" mit ss zu schreiben ist, und dass „deinen Gott" als 
nahere Definition zu „den Herrn" in Kommata gesetzt werden muss. 
Ich lebe der Ueberzeugung, dass ein orthographischer Fehler, der 
sich dem Gehirn eines minder differenzierten Menschen einpragt, mehr 
Schaden bewirken kann, als ein auswendig gelerntes Bibelwort 
Nutzen. 

Mit diesem padagogischen Bekenntnis will ich den Bericht ilber 
jenen denkwlirdigen Mittwoch abschliessen, der im weiteren Ver- 
laufe nichts Bemerkenswertes mehr bot, und die Feder bis morgen 
aus der Hand legen. Ein wenig nachgeholt habe ich heute jedenfalls 
und vielleicht kann ich in zwei, drei Tagen schon immer liber das je- 



125 



weilig Aktuelle berichten. — Der heutige Sonntag ging leider dahin, 
ohne Aufschluss iiber den Verbleib meines Notizbuches zu bringen. 

Montag, den 8. November 1909. 
Beim Genuss der vortrefflichen Zigarren und gelockt von dem 
angenehmen hellen Licht, dem bequemen Stuhl (im Gefangnis ist 
schon ein einfacher Kilchenstuhl so bequem wie im Salon ein Klub- 
sessel) und dem grossen Tisch, hatte ich mich am Mittwoch noch an 
die Ausflihrung eines literarischen Essays gemacht, mit dem ich 
schon lange umgehe ... Es handelt sich um eine Charakteristik 
Frank Wedekinds als Schauspieler. Don ganzen Juli hindurch 
war Frank Wedekind Herr des Munchener Schauspielhauses und 
spielte nacheinander den Nikolo in „So ist das Leben", den Schon 
im „Erdgeist", den Hetmann in „Hidalla", den Gesanglehrer in 
„Musik", den Burridan in „Zensur", den „Marquis von Keith" und 
den „Kammersanger". Ich habe alle die Leistungen gesehen . . . 
und sehr starke Eindriicke empfangen, die niederzulegen mir viel 
Freude machen wird . . Weit kam ich allerdings nicht mit dem 
Artikel — nicht iiber die Einleitung hinaus. Denn die intensive 
Beschaftigung mit dem Buch des Danen Madelung, der ich mich 
vorher hingegeben hatte, drangte nach Erledigung dieser Lekture. 
„Jagd auf Tiere und Menschen" ist ein gutes, kraftiges Buch, von 
einem klugen Menschen geschrieben, der zugleich robuste und ge- 
pflegte Nerven und ein klares Auge hat. Madelung ist ein 
brillanter Schilderer der Gegenden, die er bereist, der Menschen, 
die er kennen lernt, der Zustande, die er antrifft. Storend wirk- 
ten auf mich die lyrischen Abschweifungen in manchen seiner Be- 
richte, besonders in der Geschichte „Tops". Zwar findet Madelung 
immer gute dichterische Bilder, die im einzelnen genommen vor der 
strengsten Kritik bestehen, aber seine Lyrismen sind mir zu klug, 
zu literarisch, zu gewollt. Ich glaube es einfach diesem Kraft- 
menschen nicht, dass ihm etwa das Spiel der Sonnenstrahlen in 
abgefallenem Laub neben der Beobachtung, die schon sehr viel 
ist, noch Vergleiche abnotigt. Ich habe das Buch schon abgegeben 
und kann daher das, was ich meine, nicht an Beispielen belegen. 
Jedenfalls gilt es mir da am meisten, wo er einfach in festen Strichen 
zeichnet, was er sieht, beschreibt, was er weiss. Die schmncklosesten Ka- 
pitel des Buches sind die starksten: „Terror" und „Progrom", — und 
daneben die Schilderung der Landstrasse und der Marsch nach 
Besowo im Eingang des Buches, das im ganzen als eine Iiber- 
aus wertvolle Quelle zum Studium russischer Volkheit und russischer 



') Mein Aufsatz „Der Schauspieler Wedekind" erschien erst im 
Anschluss an das Wedekind-Gastspiel im Jahre 1910 in der „Schau- 
btthne". Ich benutzte ihn hier bei der Beurteilung des Gastspiels 
im Jahre 1911. (Vgl. „Kain" I, 5, S. 75.) 



— 126 — 

Zustande Beachtung verdient und technisch zweifellos einen Dich- 
ter verrat. (Fortsetzung folgt.) 

Bemerkungen. 

Gerhart Hauptmann. Es geziemt sich, des Mannes, der unter 
alien lebenden deutschen Dichtern mit seinen Werken die starksten 
Wirkungen ausgeubt hat, an seinem fiinfzigsten Geburtstage ehrend 
tu gedenken. Es ware zum Glttck verfruht, den Dank fur Gerhart 
Hauptmanns Schaffen in die Form einer literaturkritischen 
Uebersicht tu kleiden. Denn mit seinen jlingsten Werken „Die 
Ratten" und dem tiefen Roman „Der Narr in Christo Emanuel 
Quint" hat Hauptmann sehr deutlich gezeigt, dass er noch lange 
kein abgeschlossenes Lebenswerk hinter sich hat, und dass wir seinen 
Geburtstag als Tag der Hoffnung auf weitere Kostlichkeiten feiern 
dilrfen. Wer sich ein personliches Fest aus dem Gedenktage machen 
will, der nehme sich Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen" 
vor oder „Rose Bernd" oder „Michael Kramer" oder „Der Biber- 
pelz" — und der ehrliche Glilckwunsch fur des Dichters Leben 
und langwahrende Dichterkraft wird ihm von selbst aus dem Herzen 
steigen 

Wenn der bayerische Lowe briillt. Jede Stunde dieser aufgereg- 
ten Tage kann die Mobilisierung des Heeres bringen. Jeden Mo- 
ment muss jede Familie bereit sein, Vater, Sohn, Bruder oder 
Freund zu entlassen und auf Leben oder Tod in den Krieg Ziehen 
zu sehn. Zum Besten des Volkes natiirlich. Aber das Volk hat 
keine Ahnung, wann sich das Schicksal und in welcher Form 
zu seinem Besten wenden wird. Das knobeln die europaischen Re- 
gierungen unter sich aus. Zwar fordern die Demokraten aller Schat- 
tierungen, dass in Fallen ernster Verwicklungen das Parlament 
einzuberufen und um seinen Rat zu befragen sei. Aber wer Augen 
hat und Ohren, weiss, dass das Volk in parlamentarisch regierten 
Landern genau so wenig liber seine intimsten Angelegenheiten er- 
fahrt, wie bei uns. Das bringt die Institution der Regierungen selbst 
mit sich, das System des Staats also, in dem es ganz gleichgultig 
ist, ob das Volk mit seiner eignen Initiative zugunsten eines er- 
wahlten oder zugunsten eines ernannten „Cabinets" abgedankt hat. 
— Das Volk aber verbringt diesseits und jenseits der Landes- 
grenzen die Zeit, in der seine Existenz auf dem Spiel unterschiedlich 
befahigter Diplomaten steht, mit Ratselraten. Es lauert auf An- 
zeichen, auf Symptome, auf Indiskretionen subalterner Eingeweih- 
ter und schnuppert in der Luft, ob er nicht am Geruch erraten 
kann, was fiir eine Suppe ihm in jenen Dunkelkammern gekocht wird. 

Jetzt hat der bayerische Kuchenchef auch mal mit seinem 
Loffel in der Terrine geriihrt, und es sind Aufruhrblasen und 
Kriegsdlinste aufgestiegen. Ausgerechnet jetzt, wo alle Welt in 
ausserster Spannung der Entwicklung der Ereignisse entgegensieht, 
glaubte das wahrhaft genial inspirierte Ministerium Hertling eine 

Lticke der Gesetzgebung mit der beschleunigten Einflihrung eines 



— 127 — 

Standrechtsgesetzes ausflillen zu miissen. Ganz zum Schluss der 
Landtagssession und mit einer Eile, als ob der bayerische Lowe 
schon los sei. Die Zeitungen waren offenbar von oben her instruiert 
worden, dass sie aus der Geschichte keine Schreckensaktion ma- 
chen sollten. Denn sie brachten die Nachricht, als ob sich's um 
eine Vorlage handle, die die Abanderung der blanken Knopfe an 
den Uniformen der Parlamentsdiener betrafe. 1st es aber wahr, was 
die offiziosen Herren versichern, dass dies Gesetz gar keinen Zu- 
sammenhang mit der gegenwartigen politischen Situation habe, dann 
muss ihnen doch gesagt werden, dass der Zeitpunkt, den sie zu seiner 
Einbringung gewahlt haben, mal wieder die ganze Tiefe bayerischer 
Regierungsweisheit verrat. Die Nervositat der Bevolkerung in die- 
sem Augenblick dermassen ungeschickt zu steigern, heisst doch grade- 
zu, einem schlaflosen Neurastheniker Wanzen in' Bett stecken. 

Das Gesetz selbst? Ein freundliches Gemalde: wie wir leben 
werden, wenn die Barone Hertling und v. A Heydte Diktatoren 
sind. Ein Sachverstandiger hat mir neulich vorgerechnet, dass 
die Fusilierung eines Delinquenten etwa 60 Pfennige an Patronen 
kostet. Da das Gesetz der christlichsten aller Regierungen die 
a tempo zu vollstreckende Todesstrafe weitaus haufiger vorsieht als 
das im ubrigen Deutschland geltende Standrecht, wird sich bei 
Ausbruch einer Revolution oder eines Kriegs Bayern wenigstens einer 
sparsamen Justiz rlihmen diirfen. 



Lieb Vaterland. Die hochste Tugend eines edlen Mannes ist 
bekanntlich die Vaterlandsliebe. Wie weit das Vaterland zu lieben 
ist, ergibt sich ohne Schwierigkeit aus einem Blick auf die politische 
Landkarte. Seit der Einigung des Deutschen Reichs hat der Meck- 
lenburger das Schwabenland, der Schlesier Schleswig-Holstein, der 
Sachse Ostpreussen und der Niederbayer Hinterpommern als sein 
Vaterland inbrlinstig zu lieben. Bei Grenzverschiebungen weiss der 
Patriot, was er zu tun hat: er wird sogleich seine Vaterlandsliebe 
den neuen politischen Verhaltnissen loyal anpassen. Sollte ein- 
mal wieder ein Napoleon ins Land kommen und das halbe Deutsch- 
land seinem Reiche beifilgen, dann ist es ein billiges Verlangen, 
wenn die deutschen Patrioten nunmehr aufgefordert werden, ihre 
Vaterlandsliebe fortab nach Frankreich zu dirigieren. Das muss 
doch eine Kleinigkit sein, und wems schwer iallt, dem wird schon 
nachgeholfen werden. Haben wir Deutschen nicht selbst gezeigt, 
wie man nachhilft? Wo gabe es in Elsass-Lothringen noch Leute, 
die Frankreich als ihr Vaterland liebten? Nord-Schleswig weiss 
kaum mehr, wo Danemark liegt, und die Polen gar haben sich in feiner 
Weise den Preussen assimiliert, dass sie ihren Besitz an Grund und 
Boden nur noch an deutsche Ansiedler verkaufen. Die preussi- 
sche Regierung kommt ihnen dabei erdenklich weit entgegen. Fallt 
es einem Polen garzu schwer, sich von seinem Besitz zu trennen, dann 
greift wohltatig das Gesetz ein, und der Staat fuhrt mit vaterlicher 
Hand das Grundstiick in das Eigentum eines preussischen Eingebor- 
nen ttber. Viermal ist die Operation nun vollzogen (einmal bei einer 
polnischen Witwe) und die preussische Vaterlandsliebe ist den Ent- 
eigneten dadurch schon soweit in Leib und Seele eingedrungen, dass 
sie ihnen nachgerade aus alien Poren schwitzt. Ihre polnische 



— 128 — 

Sprache, ihre Sitten und ihre Kultur wird man ihnen mit Gottes 
Hilfe auch bald abgewohnt haben. Auf diese Weise sorgt Preus- 
sen auf das Zuverlassigste fiir eine zufriedene und wahrhaft gluck- 
liche und patriotische Bevolkerung in jenen Grenzlandern, der jedes 
revolutionare Trachten naturgemass fiir alle Zeiten weltenfern bleibern 
muss. Wo heutuztage ein paar Polen sich noch auf ihrem ehemaligen 
Boden zusammenfinden, singen sie, wie ich erfahre, mit treu- 
deutscher Begeisterung das Lied: Das Vaterland muss grosser seinl 



Schlechte Manieren. In einer norddeutschen Provinzzeitung ent- 
aussert sich ein anonymer Schmock eines schmalzigen Foljetongs 
ilber den Kilnstlerstammtisch in einem Milnchener Weinlokal. Der 
norddeutsche Provinzonkel erfahrt daraus, dass sich manche Leute, 
deren Namen er schon mal gelesen hat. manchmal zu einem Glase 
Wein zusammenfinden, und dass man den Abfasser des Foljetongs 
aus diesem Kreise nicht hinausgeschmissen hat. Schmockchen stolpert 
ilber eine Unbequemlichkeit. Zu der Stammtischrunde gehort ein 
Mensch, der die Schmocke gern Schmocke nennt, und der den 
Provinzonkeln in Nord und Slid deshalb von alien Schmilcken gern 
in der Aufmachung einer missratenen Kreatur serviert wird. Nach- 
dem sich Herr Inkognito mit alien Berlihmtheiten des Tisches aufs 
Leutseligste angebiedert hat, rlickt er mit dem Gestandnis her- 
aus, dass an dem Tisch auch der ,,Edelanarchist" Erich Muhsam 
verkehrt. (Falls Schmockchen diese Zeilen lesen sollte, sei ihm 
mitgeteilt, dass ich die Gepflogenheiten der Leute, die ihre Begeg- 
nungen mit Anarchisten dadurch beschonigen wollen, dass sie uns 
mit einer schmockigen Vorsilbe versehen und in Anfiihrungsstriche 
setzen, hier schon mehrfach als trottelhafte Unverschamtheit gekenn, 
zeichnet habe.) Wenn auch bios "Edelanarchist", — der Provinz- 
onkel konnte doch Anstoss an Schmocks Verkehr mit solchem 
Kerl nehmen, der deshalb beschimpft sei. Das Foljetong stellt also 
fest, dass ich einen wilden Bart und schlechte Manieren habe. Dass 
Schmockchen meine Witze ertraglicher als meine Ansichten fin- 
det, will ich ihm zugute halten. Das Gehirn fast aller Saugetiere 
ist so eingerichtet, dass es nur auf das reagiert, was es allenfalls zu 
begreifen vermag. — Bleiben meine schlechten Manieren. Obgleich 
ich mir nicht bewusst bin, je mit dem Messer in den Zahnen ge- 
stochert oder meine Beine auf den Esstisch gelegt zu haben, bin 
ich natiirlich nicht zur Beurteilung meines eignen Benehmens kom- 
petent. Aber was fiir ein Zeugnis stellt das Mannchen mit dem 
wahrscheinlich prachtig frisierten Bart all den beruhmten Mannern 
aus, mit denen es eben noch so herzlich befreundet war. Es 
beschuldigt sie vor alien Provinzonkeln, dass sie den Verkehr mit 
einem Menschen nicht abbrechen, der sich bei Tisch unmanierlich 
auffuhrt. Es ist zu hoffen, dass wenigstens Herr Inkognito in 
Zukunft den Verkehr mit so wenig empfindlichen Menschen meiden wird. 

Wir aber haben aus dem Foljetong gelernt, was gute Manieren 
sind: sich in den privaten Kreis von Leuten, die sich gegenseitig et- 
was zu sagen wissen, hineinzudrangen, sich mit freundlichem Hande- 
druck deren Vertrauen bestatigen zu lassen, ihre Gesprache zu 
schinden und sich dann auf den Hintern zu setzen, um sie in ihrem 
privaten Tun den Provinzonkeln auszuliefern. Dass das anonym ge- 
schieht, und dass einer aus der Runde dabei verhohnt und be- 
schimpft wird, zeugt von geradezu herrschaftlichen Manieren. — 
Wir Wilden sind doch bessere Menschen. 

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Oskar Baum, Ernst Blass, Max Dauthendey, Albert Ehrenstein, 
Johannes von Guenther, Otto Hinnerk, Rudolf Kurtz, Heinrich 
Lautensack, Otto Stoessl, Felix Stossinger, Emile Verhaeren, Paul Zech. 
Von Urteilen fiihren wir an: 
„Auf die unabhangige Zeitschrift sei mit Nachdruck hinge- 
wiesen." Prager Tagblatt. 

„Eine Zeitschrift von Individualisten fiir Individualisten". 

Der Tagesbote, Briinn. 

„Eine Zeitschrift, die in dem Gewimmel der Revuen einen be - 
sonderen Platz verdient". 

Hil de she i mer Allg. Zeitung. 

Jedes Heft umfasst ungefahr 2 Bogen und e nth alt 2 Bildbei- 
gaben, darunter meistens Origin ale wie Lithographien, Kupfer- 
stiche, Schnitte. Der Mindestabonnementspreis (fiir 6 Hefte) betragt 
Mk. 3. — , Einzelhefte kosten 60 Pfg. Das Abonnement vermittelt 
ohne Portoberechnung der Saturn A erlag Hermann Meister, 
Heidelberg, sowie jede gutgefiihrte Buchhandlung. 

Gratisprobehefte we r den nicht abgegeben, dagegen sind gegen 
Einsendung von Mk. 1. — zur Orientierung 3 Hefte nur direkt 
vom Verlag erhaltlich. 



Jahrgangll. No. 9. Dezember 1912 

KAlN 

Zeit/chriftfur 

rien/ch(ich(\eir 
HemuJgeber; 

(rich Huh/am 





Kain-Verlag Munchen. 
30 Pfa. 



Die Schaubiihne 

Herausgeber: 

Siegfried Jacobsohn. 



Stimmen der Presse: 

Die Zukunft. Die Schaubiihne ist d'e beste deutsche Theater- 
zeitschrift, die wir besitzen; eine der am wiirdigsten, redigierten Zeit- 
schriften. Ein Golfstrom: Lebendigkeit, Warme, Geistigkeit, Kampf, 
Witz, Seele geht von ihr aus. 

Dresdener Anzeiger. Nach acht Jahren des Bestehens 
dieser Zeitschrift, die damals bereits an dieser Stelle mit Anerkennung 
begriisst wurde, muss nachdriicklich betont werden, dass wir in 
Deutschland jetzt keine Theaterzeitschrift haben, die der Schau- 
biihne an Scharfe und Weitsichtigkeit des Urteils, an gediegenen und 
glanzenden Aufsatzen vorangestellt werden kann. In jahrelagner auf- 
merksamer Priifung hat sich dieses Urteil bei uns befestigt. Jeder 
Freund einer ehrlichen, freien und eindringlichen Kritik wird die 
Schaubiihne mit Genuss und reichlichem Nutzen lesen. 

Hannoverscher Courier. Recht verschiedene Geister 

sind es, die sich hier im Rahmen einer Zeitschrift zusammenfinden, 
aber eins eint sie: sie alle reden mit durchaus personlichen Ak- 
zenten, es sind namlich Leute, die ihrem eigenen Instinkt lieber 
folgen als dem Instinkt der Masse. Manche sprechen geradezu im 
Ton der Leidenschaft, des Fanatismus. Der Inhalt des Blattes 
ist in hohem Grade mannigfaltig; auch die Form unterhaltsam und 
abwechslungsreich. 

Mannheimer Generalanzeiger: Die Schaubiihne ist 
von alien Theaterzeitschriften die aparteste, lebendigste und an- 
Siegfried Jacobsohn gibt sie heraus. Er ist von denen, 
iiber Theater schreiben, der einzige, der wirklich Kritik 



regendste. 
die heute 
hat. 

N e u e 
redigiertes, 
ferner mit 
menhangt. 



Ziiricher Zeitung. Die Schaubiihne ist ein frisch 
inhaltlich anregendes Organ fiir alles, was naher oder 
der Buhne in deutschen Landen wie im Ausland zusam- 
Sie ist eine jener Zeitschriften, die man stets gerne in die 
Hand nimmt, weil man stets sicher ist, irgend etwas zu finden, was 
Interesse und Nachdenken weckt. 

Leipziger Tageblatt. Die Schaubiihne verdient das Lob, 

eine unsrer besten Zeitschriften und unter denen, die sich mit dem 

Theater- und der dramatischen Kunst beschaftigen, weitaus die beste 
zu sein. 

Vierteljahrlich M. 3.50, jahrlich M. 12. — , Einzelnummer 40 Pfg. 

Einmonatiges Probe-Abonnement gratis und franko. 

Verlag der Schaubiihne chablottbnbwbq 

o .*. Dernburgstrasse 25. 



Jahrgang II. Miinchen, 

No. 9. Dezember 1912. 

KAIN 

Zeitschrift fLir JVLenschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 
Miiiiiiait ii.rn.i in j.i i rinri iTiriuiii..! i.iivj ia 1 1 n.:i i.t.i ini mini 1 1 .i. 1..1 n.m n.i .um n.i .mi i»g 

„KAIN" erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt 
fur das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag" 
Miinchen, Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Heransgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

Franziska. 

Den Menschen unserer Tage ist die Fahigkeit ab- 
handen gekommen, anzuerkennen, sich ergreifen, hin- 
reissen, mitnehmen zu lassen von einer Welle freudiger 
Begeisterung, mit dem Mund jauchzend zu bejahen, wenn 
das Herz ja sagt. Eine Sucht, zu kritisieren, a tout prix 
sein Lob einzuschranken, um nur ja skeptischen Gemiitern 
keinen Anlass zum Spott zu geben, ein angstliches Suchen 
nach Schwachen im Starken, nach Flecken im Glanz 
zeichnet diese Zeit aus, die glaubt eminent kritisch zu 
sein und in Wahrheit eminent faul ist. Wir haben ja die 
grossen Werke aus dem Altertum, aus der Renaissance, 
aus der Goethezeit. Wir sind viel zu bequem geworden, 
den Werken unserer Zeitgenossen Werte beizumessen, 
die neue Einstellungen unseres Geistes bewirken miissten. 
Wir knieen gebeugt vor den alten Tafeln, um uns nicht 
blenden zu lassen vom Lichte, das aus jungen Himmeln 
bricht. 

Reaktion und Revolution — die beiden Stromungen 
hat es zu alien Zeiten, auch im geistigen Leben gegeben. 
Erst in der jiingsten Gegenwart hat alle Revolution abge- 



— 130 — 

dankt, und die Angst vor der Blamage eines Fehlurteils 
ist an ihre Stelle getreten. Darin gleicht unsere Zeit der 
des jungen Deutschland, wo Borne, Gutzkow und Kon- 
sorten die goldnen Schalen der Romantik zertrummerten, 
nachdrangendem schaffendem Geiste aber keine Gefasse 
zu bereiten wussten. Nur gart heute viel mehr brodeln- 
der Stoff im Geiste als damals. Aber er findet die gierigen 
Seelen nicht, die aufhehmen, feiern, sich berauschen mo- 
gen. Darum ist heutzutage der Kiinstler, der kein Epigone 
ist, ein Einsamer. Darum musste Stefan George in esote- 
rische Zirkel fliichten, weil er sich nur dort sicher wusste 
vordem norgelnden senilen Analysieren derer, die fur Syn- 
thetisches kein Organ haben. Lest doch das herrliche „Zeit- 
gedicht", mit dem George seinen „Siebenten Ring" er- 
offnet, und erkennt, wie auch er lieber Dichter eines Volkes 
sein mochte, als in weihrauchvollen Logen der Meister 
vom Stuhl. 

Wo ist die Jugend geblieben, die noch vor zwanzig 
Jahren den Weg der Naturalisten mit jubelndem Zuruf 
saumte? Von den Studenten nicht zu reden, die, von 
Herweghs und Freiligraths Liedern getragen, ihr Blut fur 
Burgerideale aufs Pflaster gossen. Heute sitzen sie mit 
myopischem Blinzeln und verkniffenen Lippen in philo- 
logischen Seminaren und extrahieren aus stromenden 
Dichterworten grammatikalische Finessen. Was unserer 
Jugend fehlt und bitter nottut, ist das Pathos der Be- 
geisterung ! 

Widerwillig und storrisch wie ein gepriigelter Esel 
bequemt sich der Nachwuchs zur Anerkennung immer 
erst dann, wenn Jahre des Hohns und der Anfeindung 
ein Werk nicht umzubringen vermochten. Da diinkt man 
sich wer weiss wie vorgeschritten, wenn man einen 
Dichter vom Wuchse Frank Wedekinds heute nicht 
mehr bewitzelt und als literarische Kuriositat bewertet, 
sondem zugibt, dass „Fruhlingserwachen", „Erdgeist", 
„Marquis von Keith", „Hidalla" immerhin bedeutsame 
Arbeiten sind. Wobei denn das bedauemde Achselzucken 



— 181 — 

nicht ausbleibt, dass es seitdem leider bergab ging mit 
Wedekinds Schaffen, und dass der Dichter sich zusehends 
mehr in einer verbohrten Sonderlingsmanier gefallt. 

Was fur Urteile habe ich nicht iiber sein neuestes 
Werk gehort: iiber das „moderne Mysterium" Franziska! 
Von Leuten, die nicht immer Dummheiten reden, von 
Leuten, die — hier will ich einmal prophezeien — in 
zehn Jahren vor Wedekinds kunftigen Schopfungen aus- 
rufen werden: Ja, als er die Franziska schrieb, da war 
er noch ein ganz anderer, ein grosser Kerl! Konstruiert 
und unlebendig soil das Drama sein, hergesucht und 
obendrein unverstandlich. Fiir die Buhnenauffuhrung 
aber in jeder Hinsicht ganz unmoglich. 

Lasst's euch Wohlsein bei eurer Kritik, die ihr die 
Nachhut betreut und lachelt weiterhin iiber die Schwar- 
mer, die vorne sprengen. Diesmal werden sie euch den 
Gefallen nicht tun, vom Gaul zu fallen! 

Wir sind allzumal fehlende Menschen und irren ist 
das Recht dessen, der die Wahrheit sucht. Schwierig ist 
es, die Spreu Vom Weizen zu trennen, solange das Kom 
noch nicht in der Scheune ist. Ich bilde mir gewiss 
nicht ein, bei jedem Urteil das Rechte zu finden. Aber 
wenn ich je frei war von Zweifeln, wenn ich je wusste, 
dass meine Gefiihl wahr entscheidet, so ist es jetzt, da 
ich mich auszusprechen getraue: Wedekinds „Franziska" 
ist ein geniales, in Erleben und Leidenschaft gegliihtes 
Werk, das als Dokument unserer Tage die Zeiten iiber- 
dauem wird und den Dichter aufs Postament der Un- 
sterblichkeit erhebt. 

Nun lacht iiber mich, ihr, die ihr zu diirftig seid, 
Grosses zu erfassen, ihr Kritiker, die ihr nicht wagt, un- 
kritisch zu sein, ihr Stiirmer und Dranger mit Vorbehalt, 
ihr Wetterfesten unterm Regenschirm! 

Ja, ihr habt recht, grinsende Freunde, dass ihr mir 
Inkonsequenz vorwerft, da ihr mich haltlos begeistert 
seht vor einem Mysterium, und mir vorhaltet, was ich 
hier erst vor einem Monat schrieb: „Wir sind mit My- 



— 132 — 

sterien nachgerade uberfuttert . . . Wir haben genug. 
Wir danken bestens. Wir wollen im Theater Dramen 
sehen, keine Allegorieen." Aber ich zitiere weiter was 
ich schrieb: „Ein Drama charakterisiert sich dadurch, 
dass in ihm Typisches am Einzelfall dargestellt wird. 
Die . . . Personifizierung des Typus ist undramatisch und 
dariiber hinaus unkiinstlerisch." 

Auf diese Satze stiitze ich mich, wenn ich sage: 
„Franziska" erfullt die hochste Forderung, die an ein 
Drama zu stellen ist. Derm hier wird am einzelnen 
Individuum ein ewiger Typus aufgezeigt, dessen Schicksal 
sich aus der Sehnsucht nach seiner aussersten Voll- 
kommenheit und den Reibungen am Treibriemen der 
realen Geschehnisse zusammenfugt. Die Bezeichnung als 
„modernes Mysterium" rechtfertigt sich durch die unter- 
und iiberirdischen Beziehungen der Heldin zu ihrer 
Umwelt, durch ihre eigene Wesensmischung aus Kiinstler- 
menschen, Weib und Abenteuererin und der Wesens- 
mischung ihres Gegenspielers aus Damon und Hochstapler. 

Die Faustsehnsucht nach Erlosung der Seele aus 
den Beschrankungen des Alltags, auf ein nach Lebens- 
genuss und Freiheit durstendes Weib unserer Tage be- 
zogen, — das ist das gewaltige Problem der Dichtung. 
Wedekind zieht bewusst und nachdrucklich die Parallele 
zwischen Franziska und Faust, indem er in der ausseren 
Handlung sehr witzig, dabei aber bewundernswert unab- 
hangig Vorgange des Goetheschen Faust-Dramas parodiert. 
Erstaunlich ist die Folgerichtigkeit, mit der er dabei keinen 
entfernten Vergleich zwischen Franziska und Gretchen auf- 
kommen lasst und in dem schonen sinnlichen Madchen 
stets nur den ehrgeizigen Faustgedanken zum Herrn der 
Entschlusse macht, und fast erstaunlicher noch, dass 
Franziska in allem Auf und Nieder der Erlebnisse und 
Erregungen nichts von ihrer weiblichen Anmut und Echt- 
heit verliert, selbst da nicht, wo sie Mann und sogar Ehe- 
mann zu spielen hat. In dem Werk, das iiberreich ist 
an grotesken Einzelheiten, aktuellen Anspielungen und 



— 133 — 

abenteuerlichen Situationen, bleibt Franziska in alien Sta- 
dien eine durchaus poetische Gestalt. 

Das unselige Beispiel der Eltern hat ihr in jungen 
Jahren die Sehnsucht nach Gliick und Liebe geweckt. 
Dann kam der erste Geliebte und mit ihm, dem braven 
Durchschnittsmenschen, die Neugier aufs Leben. Sein 
Werben um ihre dauernde Liebe lehnt sie mit den 
riihrenden Worten ab: „Aber ich mochte doch gern er- 
fahren, wer ich derm eigentlich bin. Wenn wir uns heute 
heiraten, dann erfahre ich in den nachsten zehn Jahren nur, 
wer du bist" Dr. Hofmiller: „Und wer unsere Kinder 
sind." Franziska: „Und ich selber bleibe mir ewig fremd." 

Und jetzt tritt Veit Kunz in ihr Leben, wie Mephisto 
ein Deus ex machina. Wie Mephisto mit Faust, schliesst 
er mit ihr einen Pakt, worin er sich verpflichtet, sie zwei 
Jahre hindurch das Leben eines Marines fiihren zu lassen 
"mit aller Genussfahigkeit, aller Bewegungsfreiheit des 
Marines.". Dafur soil sie nacher seine Sklavin, seine Leib- 
eigene sein. Das schreckt sie nicht, auch nicht, dass 
Veit Kunz sie auf das Naturgesetz hinweist, das diesen 
Ausgang des Abenteuers mit Notwendigkeit verlangt. 
Franziska weiss sich selbst Naturgesetz und bindet den 
Mann, ohne sich selbst zu binden. 

Poesievoll und von einem innerlichen Licht durch- 
hellt bleibt die Figur dann wahrend aller Wirrnisse, wah- 
rend aller Seltsamkeiten und geheimnisvollen Erfahrungen. 
Ihre graziose Unbefangenheit verlasst sie nicht in der 
Weinstube Clara (dem reizenden Pendant zu Auerbachs 
Keller), in dem Berliner Huren- und Lebemann-Milieu, 
wo ein eifersiichtiger Liebhaber dem jungen Tenor vom 
Arme weg die kleine Mausi erschiesst. Poetisch um- 
strahlt steht sie als junger Ehemann da, wenn sie die 
torichte Gattin eifersiichtig macht, um ihr die Vernach- 
lassigung durch den Gemahl als eigenes Verschulden be- 
greiflich zu machen, und dann, als sie kaum einmal mit 
Veit Kunz allein ist, ihm vorhalt: ,J3u versprachst mir 
hoch und teuer, ich solle ein Mann werden. Statt dessen 



— 134 — 

bin ich nun seit einem vollen Jahre nichts anderes als 
deine Geliebte" — und — ein Ehemann ! in anderen Um- 
standen. — Sophie erfahrt, dass sie mit einem Weibe 
verheiratet ist und erschiesst sich. In ihrer Seele rein 
und unschuldig geht Franziska ihren Weg weiter. 

Nun ist sie mit ihrem Manager am Hofe des Herzogs 
von Rotenburg: Schwindlerin wie er Schwindler ist, aber 
keusch und unverdorben im Herzen. Als eine Spuk- 
gestalt aus der vierten Dimension erscheint sie vor dem 
Herzog und beantwortet alle seine Fragen nach den 
letzten Dingen mit Worten voll tiefer Schonheit, voll 
Wahrheits- und Menschenliebe. Wie sie dann mitwirkt 
an dem Marchenspiel des Herzogs, ist sie wieder Weib, 
spielt mit bekranztem Haare, in den Handen eine Schale 
mit Thranen haltend, sich selbst, die reine Unschuld, 
liebevoll und zartlich zu der Schwester, die nackt dem 
Brunnen entsteigt und gefeit gegen den Drachen mit dem 
Schweine- und Hundekopf, der plump und roh gegen 
Wahrheit und Nacktheit anbellt. 

Fin kurzes schones Bild zeigt sie als liebendes 
Weib, Beseligt und ergeben liegt sie in den Armen des 
Lehrers und Geliebten. Aber sie bleibt sich treu, indem 
sie ihm nicht treu bleibt. Im Ankleideraum des Theaters 
der Funftausend, wo Veit Kunzens neues Mysterium ge- 
spielt werden soil, verliebt sie sich in einen Klotz von 
Schauspieler und verlasst mit dem den Meister, gierig 
nach neuem Erleben, nach restloser Erfullung ihres 
Schicksals. 

„Wer immer strebend sich bemiiht, 

den werden wir erlosen — " 
heisst es bei Goethe, und in Franziska bewahrt sich das 
auf Faust gemunzte Wort. Sie findet ihre Erlosung in 
der Mutterschaft. Im Innersten frei von alien Schlacken 
ihres Lebensweges weist sie Veit Kunz und Ralf Breiten- 
bach, dem Schauspieler, die nach Jahren, bankrott, ihr 
wieder vor Augen treten, die Tiir und reicht die Hand 
einem jungen sehnsiichtigen Kiinstler, der sie um ihrer 



— 135 — 

Weibheit und um ihres Kindes willen liebt. Sie ist 
sich nicht mehr fremd, sie hat erfahren, wer sie ist, und 
so kann sie ihre Liebe und ihr Leben dem Menschen 
weihen, den sie geboren hat, dem kleinen Veitralf, dem 
sein neuer Vater den Wunsch auf den Weg gibt: 
In dir mag ein Befreier wiederkehren. 
Gedeihen wirst du, derm du bist gehebt. 
Von sehr anderer Art als die modeme Heilige ist 
der Mann, unter dessen Fuhrung Franziska die Strecke 
ihres Lebens ging, die ihr Schicksal zum Mysterium 
machte. Veit Kunz ist uns schon in alien Stiicken 
Wedekinds begegnet. Er tragt Ziige des Doktor Schon, 
der Lulus Weg bereitet und von ihrer Hand fallt, 
Ziige des Konigs Nikolo, der in seinem eigenen Lande 
den Hofharren spielt, Ziige auch des Karl Hermann, der 
an der Grosse seines Ideals scheitert und hat am meisten 
Aehnlichkeit mit dem Marquis von Keith, dem plane- 
reichen Desperado und betrogenen Betriiger, der das Leben 
grinsend als Rutschbahn bewerten lernt. 

Hier ist die Charakteristik, die Veit Kunz, nach 
Franziskas Flucht mit dem Strick um den Hals am Bo- 
den rochelnd, von sich selbst entwirft: 

„Als welch ein Maulheld hab ich mich gebardet: 
Versicherungsbeamter, Sklavenhalter, 
Gesangsmagister, Kuppler, Diplomat, 
Hanswurst, Schrittsteller, Schauspielakrobat, 
Marktschreier, Brautigam noch in meinem Alter, 
Erpesser, Heiratssch windier, Bauernfanger, 
Revolverjournalist und Bankelsanger, 
um jetzt im Ueberschwang von Hochgefuhlen 
als diimmster Narr den lieben Gott zu spielen!" 
Was dieser vielseitige Lebenskiinstler von seinem 
Wesen nicht zu wissen scheint, ist, dass er ausserdem 
noch ein vortrefflicher Philosoph, ein Sozialkritiker ersten 
Ranges und ein gliihender Idealist ist. Die Sentenzen, 
die er fortwahrend nebenher fallen lasst, Wedekindsche 
Sentenzen zur Frauenfrage, zur Kunst, zu den Staats- und 



— 136 — 

Gesetzesproblemen, zur Religion, Kirche, Freigeisterei und 
besonders wieder zu den Beziehungen der Geschlechter, 
enthalten die kliigsten Erkenntnisse und die tiefste Sehn- 
sucht nach besseren und reineren Lebensformen. 

Es ware miissiges Beginnen, seine und Franziskas 
Gestalt oder ihr Verhaltnis zu einander symbolisch aus- 
deuten zu wollen. Die Erklarung, als ob es sich um die 
Stellung des Dichters zu seinem Werke handle, reicht 
zur Erfassung des poetischen Gehalts dieser titanischen 
Dichtung entfernt nicht aus. Dass es Wedekind um per- 
sonliches Bekennen zu tun ist, versteht sich fur den, der 
sein Schaffen kennt, von selbst. Aber er greift hier viel 
weiter aus. Er setzt sich mit Fragen auseinander, die 
nicht mehr bios den Kiinstler, sondern die die Mensch- 
heit selbst in ihren urspriinglichsten Angelegenheiten be- 
treffen. Man wird daher gut tun, das Werk nur soweit sym- 
bolistisch zu nehmen, wie der Dichter selbst Visionen und 
Metaphern in die Handlung einfugt, wobei darauf hin- 
gewiesen sei, dass alles, was an symbohschen und mys- 
teriosen Dingen in dem Drama vorkommt, alsbald im 
Stticke selbst seine rationalistische Auflosung findet. Die 
Ehe Franziskas mit Sophie erscheint zunachst wie ein 
Wunder, das nur damit zu erklaren ware, dass das 
Madchen durch uberirdische Krafte auch leiblich zum 
Manne gemacht ware. SchUessUch erfahrt man, dass eine 
ehehche Gemeinschaft nicht besteht, und dass die Eifer- 
sucht in Sophie geschiirt wird, um sie in der Fiktion 
zu halten, sie werde durch ihr eigenes Verschulden von 
ihrem Manne vernachlassigt. Dass es Wedekind mit 
Franziskas Verkleidung und ihrer Lebensfuhrung als 
Mann um eine symbolische Andeutung allgemeiner 
Menschheitsfragen zu tun ist, unterhegt gar keinem Zweifel. 
Aber man braucht keine kiinstlichen Erklarungen zu 
suchen, da er spater Veit Kunz zum Herzog sagen lasst: 
"Frauengestalten von mannlicher Strenge, Mannergestalten 
von weiblicher Zartheit und Milde sind seit Anbeginn 
bis heute die vollkommenste Verkorperung des Welt- 



— 137 — 

friedens." Und auf seine Behauptung „der strenge Unter 
schied zwischen mannlicher und weiblicher Kleidung ist 
in der ganzen Welt im Schwinden begriffen," erwidert 
der Herzog: „Es kommt doch nicht auf den Unterschied 
zwischen Kleidern, sondern auf den Unterschied zwischen 
Menschen an! Solange das junge Weib noch geduldig 
seinen Sklavenrock tragt, hat es gar kein Recht, sich iiber 
irgendwelche Zuriicksetzung zu beklagen." 

Am deutlichsten tritt die symbohsche Absicht des 
Dichters in der Auffuhrung des vom Herzog verfassten 
Festspiels zutage. Aber auch da verursacht die Deutung 
keinerlei Schwierigkeiten. Derm da als szenisches Bild 
des Spieles Tizians „Irdische und himmlische Liebe" gestellt 
wird, ist die Bedeutung der bekleideten und der nackten 
Frauengestalt ohne weiteres klar. Der doppelkopfige 
Drache sagt selbst unzweideutig genug, als was er be- 
trachtet sein will: als der muckerische pfaffische Geist, 
der alles Nackte und mithin alle Wahrheit perhorresziert. 
Der Herzog, der Dichter des Spiels, zieht als heiliger 
Georg gegen das Untier los, um also den Geist der 
Wahrheit und der Poesie iiber das Hundeschwein (den 
Schweinehund) siegen zu lassen. 

Wie in diese Scene das reale Leben in all seiner 
grotesken Plumpheit in der Gestalt des Rotenburger Po- 
lizeiprasidenten eindringt, um die Fortsetzung der Auf- 
fuhrung zu verhindern, ist ein echt Wedekindscher Ein- 
fall von kostlicher Wirkung. Es ist etwas absolut Neues 
in der Dramatik, dass das Satyrspiel nicht, wie bei den 
alten Griechen, der Tragodie folgt, sondem mitten hinein- 
spielt und, iiberaus lebenswahr, den Kontrast zwischen 
Poesie und Wirklichkeit vor Augen fiihrt. 

Noch wilder ist das Durcheinander von Dichtung 
und Leben in der Szene hinter den Kulissen des Theaters 
der Fiinftausend. Wahrend der Zuschauer miterlebt, wie 
Franziska sich von Veit Kunz abwendet und ihre Liebe 
wild, unbesonnen, nur noch Rausch und Sinnlichkeit, dem 
ordinaren Simson-Darsteller Ralf Breitenbach anbietet, 



— 138 — 

erfahrt er zugleich den ganzen Inhalt des Mysteriums 
von Veit Kunz, das vorne im Zirkus gespielt wird. 
Durch dieses Mysterium wird die Erinnerung an Goethes 
Faust wieder lebhaft geweckt, insofern, als hier offenbar 
eine groteske Parodie auf den zweiten Teil der Tragodie 
erdacht ist. Namen aus der jiidischen und griechischen 
Mythologie schwirren durcheinander: Simson, Perseus, 
Sokrates, Aristoteles, Piaton, Helena, Adam, Noah und 
die drei Erzvater. Aber auch hier ist ein Kopfzerbrechen 
iiber die Absichten des Dichters iiberfliissig. Veit Kunz 
klart alles selbst auf: ,JVIir kam es natiirlich nur darauf 
an, bevor die Gottheit iiber Satan triumphiert, das stumpf- 
sinnig spiessbiirgerliche Alltagstreiben zu schildern, in dem 
sich die Bewohner der Holle seit Jahrhunderten mit ihren 
Qualen zurechtgefunden haben." Und dem Journalisten 
Fahrstuhl diktiert er: „Die Gottheit verbringt einen Abend, 
einen Tag und einen Morgen in der Unterwelt, um die 
Geisteshelden der Vergangenheit von dem ihnen drohen- 
den Fluch des Totgeschwiegenwerdens zu befreien." Zitate 
und ganze Dialoge (in sehr schonen Versen) werden aus 
dem Mysterium mitgeteilt, Frauenchore in komischer Ord- 
nung vom Regisseur iiber die Szene gefuhrt (eine Ver- 
ulkung der modemen Theaterspielerei mit Massenver- 
wendung), und dann plotzlich der Ausbruch hysterischer 
Ekstasen bei Franziska und den Chormadchen. Franziska 
tanzt mit Breitenbach hinaus — und Veit Kunz steht ver- 
lassen da, von der hochsten Staffel seines Gliicks in Kunst 
und Liebe herabgestiirzt. Er reisst den Strick von dem 
Biissergewand und schniirt sich damit den Hals zu. So 
findet inn der alte Baron Hohenkemnath, Franziskas erster 
Freund, der seinen Tod kommen fiihlt, und Franziska 
noch einmal sehen will. Er lasst die Schlinge mit einem 
Sektoffner losen, und die beiden Manner, die — jeder in 
seiner Art — dasselbe Weib lieben, der eine, der sterben 
muss, der andere, der sterben mochte, legen sich gegen- 
seitig ihre Beichte ab. Diese Szene ist der dichterische 
Hohepunkt des Dramas: dieses unmittelbare Nebenein- 



— 139 — 

ander von schicksalstrachtigem Leben, rauschendem Thea- 
terspiel und Selbstmord, eine Szene von unvergleichlicher 
Kiihnheit der Konzeption und Kraft der Gestaltung. 
(Der Kritiker der ,JVIunchner Neuesten Nachrichten" em- 
pfahl diese Szene dem Rotstift des Zensors.) 

Vor allem Symbolhaften des Werkes abgesehen: in 
der Behandlung des dramatischen Problems selbst kommt 
Wedekind in „Franziska" zum ersten Mai zu einer klaren 
eindeutigen Stellung zu der Frau, die er propagiert. Im 
„Erdgeist" erfullt sich ihm das Weib als Beherrscherin 
der Welt durch ihre Sinnenreize. Die hochste Vollkom- 
menheit seines Wesens erreicht es im Erleiden des Lust- 
mordes, („die Biichse der Pandora"). Dem Masochismus 
als Grundzug des weiblichen Sexualcharakters gibt Wede- 
kind dann auch im „Totentanz" und am klarsten im 
„Schloss Wetterstein" die dichterische Verklarung. Bei 
Franziska hingegen erscheint das Moment des geschlecht- 
lichen Leidenwollens nicht mehr als Gipfel ihrer weib- 
lichen Wesenheit sondem als Ausgangspunkt. Zu ihrem 
ersten Liebhaber sagt sie: „Dein Zom macht dich so 
begehrenswert. Wenn ich jetzt nur wiisste, was dich 
zu Tatlichkeiten bringt." Und auf Hofmillers Frage: 
„Ware es dir wirklich eine Freude, wenn ich dich miss- 
handelte?" „Du hattest jedenfalls nicht den leisesten Schrei 
zu furchten." Eine ahnliche Empfindung kommt spater noch 
einmal Breitenbach gegeniiber in ihr auf, den sie liebt, 
weil sie von ihm Rohheiten erwartet. Aber ihre Erful- 
lung hat sie damit nicht erreicht, und wenn Veit Kunz 
es als ein Naturgesetz betrachtet hatte, dass Franziska ihm 
als willenlose Sklavin angehoren miisste, nachdem er ihr 
zu einem Leben in mannlicher Freiheit verholfen hat, so 
sieht er sich schwer getauscht und muss erkennen, dass 
erst die Frau am Ende ihrer Bestimmung angelangt ist, 
die keinem anderen mehr als sich selbst zu eigen gehort, 
und die im Erlebnis der Mutterschaft ihr Liebeswerk 
vollendet. 



— 140 — 

„Franziska" ist im hoheren Masse noch als alle 
friiheren Werke Frank Wedekinds Weltanschauungsdrama. 
Die hohe Sittlichkeit seiner Einstellung zu Welt und 
Menschheit kommt hier in einer Schonheit und Eindring- 
lichkeit zum Ausdruck, der sich nur entziehen kann, wem 
die Moral als eine staatliche und kirchliche Utilitatsein- 
richtung geheiligt ist. Es kann daher niemand wunder- 
nehmen, dass die Vitrioleuse der sozialdemokratischen 
„Miinchner Post" Wedekind um seiner „Franziska" willen 
unflatig beschimpft, und jene Reinheiten, denen sie nicht 
gewachsen ist, als „Perversitaten" besudelt). 

Wer ein solches Werk, das einen festen Schritt in 
menschliche Kultur hinein bedeutet, der sinnlichen An- 
schauung kiinstlerisch flihlender Zeitgenossen vermittelt, 
verdient — ehe ein kritisches Wort gesprochen werden 
darf — lauten Dank. Herr Direktor Dr. Robert hat in 
den Miinchner Kammerspielen eine Auffuhrung der „Fran- 
ziska" veranstaltet, die ihm zum bleibenden Verdienst 
angerechnet werden muss. Noch mehr: er hat, da der 
Polizeiprasident v. d. Heydte in seiner oft betatigten Ab- 
neigung gegen ehrliches Kulturwollen wieder einmal der 
Kunst Kniippel zwischen die Beine zu werfen versuchte, 
unabhangig von der Zensur eine geschlossene Vorstellung 
des ungestrichenen Werkes vor geladenem Publikum ge- 
leitet, die grossen Respektes wert war. Nicht, dass ich 
von der Regieleitung jede mogliche Befriedigung meiner 
Erwartungen erfahren hatte: es gab manche unlebendige 
Stellen, manche im Tempo verfehlte Szenen, manche Un- 
vollkommenheiten in der Inszenierung und Rollenbesetzung. 
Aber das ist ganz unwesenthch im Vergleich zur Gesamt- 
leistung, im Vergleich vor allem zu der grossen Liebe, 
mit der der Direktor am Werk war. Die Szenenbilder 
des Herrn Leo Pasetti waren fast uberall mustergiltig, 
und auch den Schauspielem teilte sich die Schaffensfreude 
mit, die ihr Dirigent empfunden haben muss, und die 
wohl auch von der Personlichkeit des mitwirkenden 
Dichters selbst ausging. 



— 141 — 

Die iibliche oberflachliche Einschatzung Wedekinds 
als Schauspieler hat nach seiner Belebung des Veit Kunz 
jeden Halt verloren Da Wedekind nicht von Hause aus 
Schauspieler ist, muss er sich immer wieder als Dilettan- 
ten kritisiert horen. Im hochsten Sinne mag diese Be- 
zeichnung ihr Recht haben: wenn man als Dilettanten 
einen Menschen verstehen will, der seine Kunst nur aus 
Liebe zur Sache ausiibt ohne den Anspruch auf letzte 
technische Vollendung. Mir scheint aber jeder Vergleich 
Wedekinds mit Berufsschauspielern falsch Bei ihm ver- 
schmilzt Subjekt und Objekt der Darstellung zu so voll- 
kommener Einheit, dass, wer die Dichtung anerkennt, not- 
wendig auch den Mann anerkennen muss, der mit beispiel- 
loser Ehrlichkeit auf offener Biihne sein Innerstes entblosst. 
Wer Wedekind spielen sieht, begreift die Worte, mit der 
er Gislind, die Geliebte des Herzogs und Darstellerin 
der hirnmlischen Liebe sterben lasst: „Gibt es ein hoheres 
Gliick — als auf offener Biihne — vor Zuschauem — 
nackt zu sterben?" Ich wiisste keinen Schauspieler, der 
das Problematische in Veit Kunzens Charakter, diese 
Mschung von Idealisten und Zyniker, von aktivem und 
reflektivem Menschen so faszinierend wiedergeben konnte, 
wie der Dichters selbst es tut. Wer noch behaupten mag, 
dass es ihm an Technik fehlt, der sei nur an den pracht- 
vollen Vortrag des Donnerwetter-Liedes in der Weinstube 
Clara und an die ziindende Kraft erinnert, mit der er 
den Prolog zu des Herzogs Festspiel sprach; an sein 
erstes Auftreten durch das Fenster, mit welcher iiber- 
legenen Selbstverstandlichkeit er auf die Frage: „Wo 
kommen Sie her?" — Franziska zur Antwort gibt: „Von 
Berlin. Ich mochte Sie gem fur ein kiinstlerisches Un- 
ternehmen gewinnen;" und endhch an den tiefen echten 
Jammer in dem Moment, wo ihm Franziska davonlauft 
und ihm die ganze Nichtigkeit seiner Existenz zum Be- 
wusstsein kommt. Nein! Der Schauspieler Wedekind, 
wo er der Mensch Wedekind sein darf, ist dem Dichter 
Wedekind kongenial. 



— 142 — 

Die ungeheuer schwierige Aufgabe der Franziska 
hatte Frau Tilly Wedekind ubernommen. Was dieser 
Frau an schauspielerischer Routine fehlt, ersetzt sie durch 
Eigenschaften, die ihre Gegenwart auf der Biihne immer 
erfreulich machen: durch hingebende Herzlichkeit, durch 
leidenschafthches Einfuhlen in ihre Aufgabe, durch takt- 
volle Zuriickhaltung, wo ihre technischen Mittel nicht 
ausreichen, und durch den entzuckenden Reiz ihrer Er- 
scheinung. Anfangs schien es, als ob ihr zu der iiber- 
ragenden Bedeutung, zu der gesteigerten Weiblichkeit des 
jungen Madchens alles fehlte. Aber sie wuchs mit ihrer 
Aufgabe, fuhrte die Rolle des Marines geschickt und 
glaubhaft durch (wobei ihr die schonsten schlanksten 
Beine wirksamste Hilfe leisteten), wusste in den weiteren 
Akten die schlichte Anmut ihres Wesens im Kontrast 
zu Veit Kunzens ironischer Kaltschnauzigkeit vorteilhaft 
geltend zu machen, wodurch der poetische Gehalt der 
Figur schon unterstrichen wurde, und zeigte im letzten 
Akt in der Kontroverse mit Veit Kunz und Ralf Breiten- 
bach edle Wurde und als Mutter des kleinen Veitralf alle 
reine schone Liebenswiirdigkeit eines begliickten Weibes. 
Wahrscheinlich hatte eine geiibtere Schauspielerin die 
Franziska nicht nur in der Idee, sondern auch in der 
Person zum Mittelpunkt des Dramas gemacht, den hier 
durchaus Wedekinds Veit Kunz einnahm. Aber ich glaube, 
dass dann das Zarte, LiebUche, eigenthch WeibUche der 
Gestalt zu kurz gekommen ware, das durch Tilly Wede- 
kinds zuriickhaltende Art keinen Moment verloren ging. 

Das biihnentechnisch wirksamste Bild bot die Wein- 
stube Clara, obwohl diese Szene fur den Verlauf der 
Handlung die unwichtigste ist. Sie spielt in dem Stuck 
genau die gleiche Rolle, wie der Auftritt in Auerbachs 
Keller im Faust. Dichterisch ist die Szene ein Meister- 
stiick der Milieuschilderung. Man fuhlt sich durchaus in 
die Gesellschaft Berliner Huren versetzt. Auch schau- 
spielerisch war dieses Bild von besonderem Reiz. 
Ganz brillant war vor allem Frl. Sidonie Lorm die frech 



— 143 — 

lebendig und in kostlicher Sektstimmung im Mittelpunkt 
der Szene sass, und mit ihrem Redefluss das Mote Tempo 
des Spiels aller dirigierte. Sehr kraftig wirkte auch Herr 
Spanier beim Vortrag des Schriftstellergedichtes (,JVIit 
ausgefransten Hosen"). 

Im iibrigen wirkten die Schauspieler meist nur als 
Folie zu den beiden Hauptfiguren. Zu erwahnen ist nur 
noch Herr Schwaiger, der als Polizeiprasident ausser- 
ordentlich lobenswert, mit dem Zilynder in der Hand, 
in die romantische Auffuhrung des Festspiels ein- 
drang und in Ton und Haltung den schneidigen Beamten 
ausgezeichnet traf, ohne dabei possenhaft zu karri- 
kieren. Endlich muss noch von einer Episode gesprochen 
werden, die eine schlechtweg meisterhafte schauspielerische 
Leistung zeigte. Den alten Baron Hohenkemnath spielte 
Herr Carl Gotz, der sich dabei von neuem als ein Cha- 
rakterspieler allererster Gattung erwies. Wie er dasass, 
der alte, miide, vornehme Roue vor dem am Boden rocheln- 
den Veit Kunz und seinem Diener mit vollendeter Ruhe 
anwies, den Strick am Halse des Marines zu durchschnei- 
den — das war glanzend. Man glaubte diesem Baron 
alles: seine bewegte Vergangenheit, seine Todesahnungen, 
seinen Logenplatz im Theater der Fiinftausend, seine 
Altersliebe zu Franziska, die aus gepflegtem Blut und 
personlicher Kultur gemischte Vomehmheit und das feine 
lachelnde Verstandnis fur die Lebensgier des Madchens 
sowohl, wie fur den Selbstmordsversuch ihres verlassenen 
Geliebten. Eine Prachtleistung. 

Dass der Miinchener Zensor dafur sorgte, dass das 
Eindringen des Polizeiprasidenten in die Welt der Kunst 
wieder einmal nicht auf die dichterische Phantasie Wede- 
kinds beschrankt blieb, braucht kaum noch erzahlt zu 
werden. Noch nach der Urauffuhrung wurden der offent- 
Uchen Darstellung Schwierigkeiten iiber Schwierigkeiten in 
den Weg gelegt und der Dichter durch hunderterlei schi- 
kanose Schulmeistereien bis aufs Blut gereizt. Der 
Nervenschock, den Frank Wedekind bei der letzten Ge- 



— 144 — 

neralprobe infolge der respektlosen Behandlung durch 
den Prasidenten v. d. Heydte angsichts des beruhmten 
Zensurbeirats erlitt, muss als Zeichen unseres Kulturstandes 
gebucht werden. Derselbe Mann, der an alien Ecken 
Schutzleute aufstellt, um hungernde Menschen beim Bet- 
teln abzufassen, der wie ein Kindermadchen dariiber wachen 
lasst, dass alle Leute piinktlich aus den Cafehausern hin- 
ausgejagt werden, der Photographieen und Fingerabdriicke 
von Personen sammelt, deren Gesinnung nicht staatszuver- 
lassig erscheint, derselbe Mann ist die hochste Instanz in 
Kunstdingen. Er hat das Recht, einen Dichter vom Range 
Frank Wedekinds wie einen Hausburschen zurechtzuweisen 
und mit seinem Zensurstift in Kunstwerken herumzustrei- 
chen, dass ein Mensch, der noch Scham vor den Nach- 
fahren kennt, bis an die Haarwurzeln erroten muss. 

Es ist Sache der jungen Leute, gegen solche Dinge 
zu protestieren. An die Studenten und jungen Kunstler 
richte ich die Frage: Wollt ihr die Verantwortung tragen 
flir die dauemde Einbiirgerung derartiger Zustande? 
Wenn ihr Manner seid — soil dann immer noch der 
Polizeisabel als Schulbakel iiber der Kunst drohen? 
Ihr seid berufen, gegen PoUzei und Verpfaffung den Geist 
ins Feld zu stellen. Konnt ihr das nicht, dann seid ihr 
nicht wert, dass in euren Tagen Werke geschaffen wer- 
den wie Wedekinds Franziska! 



Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9. 
Druck von Max Steinebach, Manchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355 



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Weiss-Kunst, herausgegeben von Hermann Meister und Her- 
bert Grossberger. 
Von den Mitarbeitern seien u. a. genannt: 
Oskar Baum, Ernst Blass, Max Dauthendey, Albert Ehrenstein, 
Johannes von Guenther, Otto Hinnerk, Rudolf Kurtz, Heinrich 
Lautensack, Otto Stoessl, Felix Stossinger, Emile Verhaeren, Paul Zech. 
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„Auf die unabhangige Zeitschrift sei mit Nachdruck hinge- 
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Jahrgang I. No. 10. Januar 1913. 

KAlN 

Zeif/chrifffur 

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Inhalt: Das Weltparlament. — Trauerfeier. — Bemerkungen. — 

Peter Krapotkin. — Pole Poppenspaler. — Auf dem Dache sitzt 
ein Greis. 



Kain-Verlag Munchen. 
30 Pfq- 



Die Schaubiihne 

Herausgeber: 

Siegfried Jacobsohn. 



Stimmen der Presse: 

Die Zukunft. Die Schaubiihne ist d'e beste deutsche Theater- 
zeitschrift, die wir besitzen; eine der am wiirdigsten, redigierten Zeit- 
schriften. Ein Golfstrom: Lebendigkeit, Warme, Geistigkeit, Kampf, 
Witz, Seele geht von ihr aus. 

Dresdener Anzeiger. Nach acht Jahren des Bestehens 
dieser Zeitschrift, die damals bereits an dieser Stelle mit Anerkennung 
begrusst wurde, muss nachdriicklich betont werden, dass wir in 
Deutschland jetzt keine Theaterzeitschrift haben, die der Schau- 
biihne an Scharfe und Weitsichtigkeit des Urteils, an gediegenen und 
glanzenden Aufsatzen vorangestellt werden kann. In jahrelagner auf- 
merksamer Priifung hat sich dieses Urteil bei uns befestigt. Jeder 
Freund einer ehrlichen, freien und eindringlichen Kritik wird die 
Schaubiihne mit Genuss und reichlichem Nutzen lesen. 

Hannoverscher Courier. Recht verschiedene Geister 

sind es, die sich hier im Rahmen einer Zeitschrift zusammenfinden, 
aber eins eint sie: sie alle reden mit durchaus personlichen Ak- 
zenten, es sind namlich Leute, die ihrem eigenen Instinkt lieber 
folgen als dem Instinkt der Masse. Manche sprechen geradezu im 
Ton der Leidenschaft, des Fanatismus. Der Inhalt des Blattes 
ist in hohem Grade mannigfaltig; auch die Form unterhaltsam und 
abwechslungsreich. 

Mannheimer Generalanzeiger: Die Schaubiihne ist 
von alien Theaterzeitschriften die aparteste, lebendigste und an- 
Siegfried Jacobsohn gibt sie heraus. Er ist von denen, 
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Jahrgang II Munchen, 

No. 10. Januar 1913. 

KAIN 

Zeitschrift fiir Menschlichkeit. 

Herausgeber: Erich Miihsam. 

*iii inii i.i ii r .iiti.i.il.iV.ii ,) i .i,ii - . i n,iii. i ,ii.ni.i ,i,. in ciri ' .i i , i, i.ii |. ,«i , i„ i,i,i,m.h.i.m.|||.i h i .i, .,;.iJH 

„ K A I N " erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt 

fur das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne- 
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene 
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag" 

Munchen. Baaderstrasse la. 

Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber. 
Mitarbeiter dankend verbeten. 

W..I.,,,! |, i :, l .| ,!,.!, 1. 1... ....). ,, | ,|, H.L.H |„| ,... 1 ,1, , ,.,„.!, ..I ,L.,I, I..I, I,, 1,1, ■!!. I 1, 1 .1, y-l ill ■! I.I Ill Ik. I », I I I 

Das Weltparlament. 
Wahrend in alien Hausern die Lichter am Weih- 
nachtsbaume glanzten und die Armen und Reichen 
das schone Fest des „Friedens auf Erden" feierten, 
setzten sieh in London die Vertreter der annoch im 
Kriegszustande befindlichen und in einem „Waffen- 
stillstand" nach Atem ringenden Balkanstaaten zu- 
sammen, um die Bedingungen festzustellen, unter 
denen den armen blutenden Volkern endlich Ruhe 
werden konne. Wer noch ein menchliches Herz im 
Leibe hat, hofft inbriinstig, daB das ekle Feilschen 
um Geld und Land endlich aufhoren und dem scheuB- 
lichen Morden so oder so ein Ziel gesteckt werden 
moge. Aber noch sind die Advokaten der streiten- 
den Parteien nicht einig, und jeder Tag zeigt von 
neuem die Gefahr, daB die Herren Diplomaten zu 
keiner Erledigung ihrer Mission kommen und neue 
Katakomben an jungen, kraftigen, zeugungsfahigen 
Menschen der Raubgier der Staaten geopfert wer- 
den. Auch die entsetzliche Moglichkeit eines europa- 
ischen Krieges ist noch nicht aus der Welt geschafft, 
und wenn Oesterreich und RuBland sich im Moment 



— 146 — 

einigermaBen beruhigt zu haben scheinen, so bleibt 
doch immer noch der Verdacht bestehen, daB ihre 
Diplomaten nur den Beginn einer fur Kriegstrapa- 
zen geeigneten Jahreszeit abwarten wollen, um dann 
doch das Blut der Gesiindesten fur hochst zweifel- 
hafte Staatsniitzlichkeiten zu verspritzen. DaB die 
letzten Wochen noch nicht zu einem Losmarschieren 
der mobilisierten osterreichischen Armeekorps ge- 
fiihrt haben, scheint in einer Anwandlung besserer 
Einsicht die deutsche Regierung verursacht zu haben, 
die wohl mit der Verneinung des casus foederis ge- 
droht haben mag. 

Scheint. Denn was hinter den verpolsterten Tiiren 
der diplomatischen Geheimkanzleien geredet und be- 
schlossen wird, erfahren ja die nicht, iiber deren Hab 
und Gut, iiber deren Leben und BeschlieBen fiir ihr 
eigenes Geld verhandelt wird. Steuern zahlen, Maul 
halten und widerspruchslos gehorchen — das ist die 
Funktion der Staatsbiirger, und wer diese Stellung 
urteilsfahiger Menschen unwiirdig nennt, gilt als 
Verrater und verfallt der abgriindigen Verachtung 
aller Patrioten. 

Der Leutnantstandpunkt, als ob alle Grenzdorfer 
nur da waren, um im rechten Augenblick zusammen- 
geschossen zu werden, weil ja doch die Voriibungen 
zu solchem Tun Lebensberuf der Leutnants ist, ist 
heute noch unter klugen Menschen diskutabel. Der 
einzige Einwand, den man heute noch unter gebil- 
deten Personen gegen den Krieg gelten laBt, ist die 
Angst vor den Borsenkursen. Wer den Frieden pre- 
digt, weil der Krieg gemein, sinnlos, unmenschlich, 
jede Daseinswiirde degradierend, verrohend und in 
jedem Betracht unsittlich ist, ist ein schwarmender 
Narr oder ein von allem nationalen Stolz verlassener 
Schweinehund. 

Das Odium muB ertragen werden. Es laBt sich er- 
tragen fiir den, dessen KulturbewuBtsein die Kriegs- 



— 147 — 

begeisterung und Kriegsbereitschaft als eine ata- 
vistische Konvention erkannt hat, und der seinem 
Gefiihl, das ihn das Leben der Menschen achten 
heiBt, mehr traut als den Erfordernissen einer 
Staatsraison, die mit dem Blute hunderttausender 
junger Menschen gefiittert werden muB. 

Eine Diskussion uber die Berechtigung des Krie- 
ges ist unmoglich. Wir Friedensfreunde wissen, daB 
der Krieg so entsetzlich ist, daB er nicht mehr sein 
darf. Wer dieses Wissen nicht in sich hat, wird nie 
zu seiner Wahrheit bekehrt werden. Daher haben 
diejenigen recht, die uns schwarmende Narren hei- 
Ben. Denn wir sind noch die Minderheit, und ver- 
riickt ist bekanntlich nur, wer anders ist als die 
groBe Masse. Deshalb hatten wir Friedensfreunde 
unrecht, wollten wir, was uns gewiB oft naheliegt, 
die Kriegsenthusiasten blutriinstige Narren nennen. 

Was wir aber konnen und wollen, ist, die er- 
kannte Wahrheit mit aller Kraft des Herzens und 
mit alien Mitteln der Kultur in positives Wirken um- 
setzen. Jeder gangbare Weg, den Frieden zwischen 
den Volkern zu erhalten, muB von denen beschritten 
werden, die im Volkerfrieden die Grundbedingung 
zu menschenwiirdigem Dasein iiberhaupt erkennen, 
und der Krieg gegen den Krieg muB mit derselben 
leidenschaftlichen Entschlossenheit gefiihrt werden, 
die die Hiiter kriegerischer Eigenschaften von ihren 
Kriegern verlangen. 

Die Versuche, dem christlichen Friedensideal zu 
praktischer Geltung zu verhelfen, sind bisher wenig 
ergiebig ausgefallen. Den sichersten Nutzen haben 
bisher wohl die Schriften gestiftet, die den Krieg 
praktisch oder satirisch, kritisch oder religios, iiber- 
redend oder dichterisch ins Licht geriickt haben. Ich 
bin iiberzeugt, daB der Skeptizismus, der endlich ge- 
gen die Massengewalt als Rechtsmittel platzzugreifen 
scheint, wesentlich der Propaganda zu danken ist, 



— 148 — 

die Swift und Carlyle, Rousseau, Jean Paul und Tol- 
stoy, und selbst auch Bertha v. Suttner und Paul 
Scheerbart *) durch ihre kriegsfeindlichen Schriften 
bewirkt haben. (Bei dieser Gelegenheit mochte ich 
nicht versaumen, die jungst erschienene Gedicht- 
Anthologie „Krieg", herausgegeben von Franz Diede- 
rich, Dresden, zur Lektiire dringend zu empfehlen.) 
Natiirlich kann aber die Beeinflussung sensibler 
Gemiiter durch das Wort allein nicht geniigen, um 
einer in Jahrtausenden gepflegten Volkerpsychose po- 
sitiven Abbruch zu tun. Wobei es doch wieder an 
der Zeit scheint, die nachgerade in Tausenden fiihl- 
bare Stimmung gegen den Krieg in Handlung umzu- 
setzen. Und auch dariiber kann kein Zweifel sein, daB 
die zu ergreifenden MaBnahmen anders ausfallen 
miissen, als die kummerlichen Kompromisse, mit 
denen bisher die kriegerischen Parteien selbst die 
Stimmen der Menschlichkeit zu beruhigen versucht 
haben. 

Das ganze „Volkerrecht" mit seinen Einschran- 
kungen der Mordmethoden ist eine aufgelegte Farce. 
Denn das Bestreben der Staaten, das Massenmorden 
mit moglichst „humanen" Mitteln auszufiihren, zeigt 
nichts anderes als den Willen, das Kriegfuhren selbst 
fiir alle Ewigkeit die ultimo ratio der Volker bleiben 
zu lassen. Dem Soldaten aber diirfte es einigermaBen 
egal sein, ob er von einer Lanze oder Patrone durch- 
lochert stirbt, oder ob sein sterbender Leib von einem 



*) Paul Scheerbart, der naive Phantast und Humorist, der selt- 
samste und doch einheitlichste unter den lebenden deutschen 
Dichtern, ist eben llinzig Jahre alt geworden. In seinen Werken 
nimmt der ganz unpathetische, aber tief erlebte Kampf gegen den 
Krieg einen breiten Raum ein Ich verweise besonders auf seinen 
schonen Mondroman „Die groBe Revolution". Ich mache die 
Baronin v. Suttner und Herrn Alfred H. Fried als deutsche Trager 
des Friedenspreises aus der Nobelstiftung eindringlichst auf diesen 
Mann aufmerksam, damit sie bei der hilflosen Suche nach einem 
wliidigen Preisempfanger, wie sie sich regelmaBig wiederholt, 
die Stockholmer Herren einmal auf diesen prachtigen und immer 
noch notleidenden Poeten hinweisen. 



— 149 — 

im Korper platzenden Dumdum-GeschoB ausein- 
andergerissen "wird. Ebenso klar ist es, daB die von 
stets schlagbereiten Regierungen beschickten „Frie- 
denskongresse" im Haag eher neuen Handeln den 
Weg bereiten als alten den Boden abgraben konnen. 

Die einzige wirklich aussichtsvolle Agitation ge- 
gen den Krieg wird bis jetzt von den revolutionaren 
Antimilitaristen betrieben, die in der richtigen Er- 
kenntnis, daB Kriege nicht von Fursten und Regie- 
rungen, sondern vom arbeitenden Volke gefiihrt wer- 
den, ihr Wort direkt an die Leidtragenden richten. 
Die Arbeiter und Bauern jedes Landes sind in der 
Tat imstande, Kriege zu verhiiten, wenn sie im Mo- 
ment, wo das Ungliick droht, ihre Arbeitskraft dem 
offentlichen Leben entziehen, den allgemeinen Streik 
proklamieren und eine wirtschaftliche Krisis herauf- 
beschworen, die immer noch viel ertraglicher ist als 
die Katastrophen morderischer Schlachten und volli- 
ger Vernichtung des geregelten Austausches unter den 
Menschen, und die zugleich die Moglichkeit, zum 
Kriege vorzugehen, technisch unterbindet. Dieses 
Mittel der Kriegsverhinderung wird auf alien inter- 
nationalen Sozialistenkongressen immer wieder von 
Englandern und Franzosen vorgeschlagen. Die ab- 
lehnende Haltung der deutschen Sozialdemokraten, 
die fur ihre politische Position neben den andern 
Parteien fiirchten, hat aber vorlaufig eine Verstan- 
digung unter der internationalen Arbeiterschaft stets 
verhindert. Und daB das Mittel des gegen einen 
Krieg gerichteten Generalstreiks nur unter Mitwir- 
kung der werktatigen Bevolkerung aller in Frage 
kommenden Nationen moglich ist, bedarf keiner 
naheren Begriindung. 

So stehen wir mit all unserem Friedenswillen 
heute noch machtlos und mit geschlossenen Augen 
und Handen den Ueberraschungen gegeniiber, die 
unkontrollierte Diplomaten aushecken. Von heute auf 



— 150 — 

morgen konnen die Auswartigen Aemter der Machte 
untereinander Streit bekommen und ungezahlte Men- 
schen, die Wertvolles zu tun haben, werden fiir An- 
gelegenheiten, die sie nicht im geringsten angehn, vor 
die Kanonenrohre postiert und selbst zum Hinmor- 
den fremder, friedlicher und ihnen durchaus gleich- 
giiltiger Nebenmenschen gezwungen. 

Die Erkenntnis dieser Tatsachen eroffnet nun 
eine neue Moglichkeit, Kriegen vorzubeugen. 

Frank Wedekind hat in der Weihnachtsnummer 
des „Berliner Tageblatts" von einem Gesprach be- 
richtet, daB im Dezember zwischen ihm und mir statt- 
fand, und das die Begriindung eines „Weltparla- 
ments - Vereins" zur Folge hatte. Dies Gesprach 
schloB an einen Artikel des „Berliner Tageblatts" 
an, in dem der Satz stand: „Die Diplomatic muB 
ebenso reprasentativ werden wie andere Staatsres- 
sorts". 

Worin wir — Wedekind als bedingter Bejaher, 
ich als unbedingter Verneiner staatlicher Notwendig- 
keiten — sogleich einig waren, war die Ueberzeu- 
gung, daB momentan die bedenklichste Gefahr der 
Volker in der Unkontrollierbarkeit derjenigen Per- 
sonen begriindet ist, denen die effektiven Machtmittel 
der Menschen anvertraut sind. Ob diese Leute von 
Fiirsten ernannt oder von Volksvertretern erwahlt 
sind — auch darin waren wir einig — macht keinen 
Unterschied. Das Beangstigende liegt vielmehr in der 
lichtscheuen Heimlichkeit, in der sie miteinander 
verkehren, und in der Moglichkeit, daB die Laune 
gernegroBer Handelsucher Leben und Wirtschaft 
groBer, fleiBiger Volker zugrunde richten kann. 

Jeder einzelne mag sich zu den Einrichtungen 
der gegenwartigen Dinge verhalten wie er will: ob- 
er die Auflosung aller Staaten in sozialistische Fode- 
rationen oder die Vereinigung aller Staaten in eine 
kontinentale Demokratie wiinscht, — diese Einsicht 



— 151 — 

kann alle verbinden, die den Volkerfrieden als unbe- 
dingt notig ansehen, um irgendeine Kultur zu for- 
dern: daB unter alien Kampfen der gegen die Frie- 
densstorer der dringlichste ist. 

Das Weltparlament, zu dem wir aufrufen, be- 
zweckt die dauernde, offentliche Beaufsichtigung 
der Diplomatic. Alle Faktoren, die das Verhaltnis 
der Nationen zu einander bestimmen, sind von Natur 
aus offentliche Angelegenheiten, und waren auch 
offentliche Angelegenheiten, kamen nicht durch die 
Geheimniskramerei der ziinftigen Vermittler neue 
Faktoren fortgesetzt hinzu, die wie Ziindschnure in 
die Pulverfasser vorkommender Divergenzen und MiB- 
verstandnisse leiten. Haben wir erst in unserem 
Weltparlament einen in Permanenz erklarten Frie- 
denskongreB geschaffen, der die verbindenden und 
trennenden Momente unter den Nationen in voller 
Oef f entlichkeit untersucht und in internationaler Be- 
ratung mit dem einzigen ausgesprochenen Ziel, unter 
alien Umstanden den Frieden zwischen den Volkern 
zu wahren, in strittigen Fallen die Moglichkeiten 
einer Verstandigung abwagt und finden muB, dann 
ist die hofische oder staatsparlamentarische Diplo- 
matic unschadlich gemacht, ihre Ueberfliissigkeit 
wird nach und nach allgemein eingesehen werden, 
und die akute Kriegsgefahr, die durch ihr Wirken 
konstant besteht, verschwindet. 

Vorerst soil der Weltparlamentsverein seine Auf- 
gabe darin suchen, die Aufgaben der Diplomatic ohne 
besonderen Auftrag zu erfiillen: namlich die wirt- 
schaftlichen und volkerpsychologischen Beziehungen 
der Nationen zueinander feststellen, in ihren Schwan- 
kungen offentlich darlegen und die Grundlinien zur 
friedlichen Regelung diffiziler Differenzpunkte 
offentlich fixieren. Personliche Zankereien und Ge- 
hassigkeiten, die bisher den AnlaB zu alien Kriegen 
gaben (es sei nur an den Fall Prohaska erinnert, der 



— 152 — 

von der osterreichischen Regierung inszeniert wurde, 
um eventuell den Vorwand zum Kriege zu haben), 
gehen die Volker kiinftig nichts mehr an. Sach- 
liche Streitigkeiten werden offentlich verhandelt, 
und es wird sich zeigen, daB sie stets geschlichtet 
werden konnen. 

Hat die freiwillige internationale Behorde erst 
einmal gezeigt, daB sie imstande ist, Gutes zu stif- 
ten, dann wird man daran denken konnen, aus dem 
Weltparlamentsverein ein wirkliches Weltparlament 
zu machen. Darin soil nicht abgestimmt und majori- 
siert, sondern beraten werden. Die Publizitat dieser 
Beratungen soil die Volker in den Punkten beruhigen, 
in denen sie zu beunruhigen bislang Aufgabe und 
Zweck der geheimen Kabinette ist. 

Statuten werden vorlaufig nicht festgesetzt 
werden. Denn wir wollen verhindern, daB unser 
Verein zu friih auf bestimmte Aktionen verpflichtet 
wird. Wer Mitglied werden will, der soil mit Rat- 
schlagen kommen. Melden sich geniigend Manner 
und Frauen, dann werden wir daran denken konnen, 
bestimmte Anordnungen iiber die Art unserer Ver- 
standigung und iiber die Beschaffung von Geldmit- 
teln zu treffen. Fiirs erste brauchen wir nur Adres- 
sen und Vorschlage. 

Ein kurzes Wort noch an meine alten Gesin- 
nungsfreunde: Ich weiB, daB der Plan, mit dem ich 
hier hervortrete, nicht vollig in das revolutionare 
Programm paBt, das sonst mein Schaffen bestimmt. 
Aber ich kann versichern, daB ich noch genau der 
bin, der ich immer war: genau so radikal, genau so 
feindlich gegen den Staat und seine Instrumente, ge- 
nau so erpicht auf revolutionares Tun fiir Sozialis- 
mus und Anarchic Was der Weltparlamentverein 
will, ist nicht Ziel, sondern Weg. Wohin der Weg 
fiihrt, werden die bestimmen, die seinen Kies fest- 
stampfen. Wohin er mich selbst fiihren wird, weiB 



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ich. — Mag er sich teilen! Mogen die, die anders 
wollen als ich, spater eigne Pfade zu ihrem Ziel 
finden. Die Erfahrungen der letzten Zeit, die Angst 
groBer Volker vor Krieg, Brand, Mord und alien Un- 
menschlichkeiten heiBt zunachst uns alle vereint 
marschieren. Wir wollen den Frieden. Das ist die 
nachste schwere Aufgabe aller, die Menschliches 
wollen. Wissen wir, daB kein Diplomat und kein 
Staatsgezank dem Frieden langer droht, dann haben 
wir unsere Aufgabe erfiillt. Dann werden wir uns 
die Hande reiben und jeder wird im Anstreben des- 
sen, was er fur das Beste halt, in guten friedlichen 
Empfindungen gegen jeden andern sein besonderes 
Ziel verfolgen. 



Trauerfeier. 

Niemand wird erwartet haben, daB ein Personalwechsel in 
der Regentschaft des Konigreichs Bayern mein anarchistisches 
Gemttt in heftige Schwingungen versetzen werde. Die Person 
des Fursten, der das Land Bayern „verwest", bekiimmert sich 
vermutlich genau so wenig um mich, wie ich mich um sie be- 
kiimmere. Was mich beim Tode des alten Herrn, der mit sei- 
nen 91 Jahren so freundlich aussah, daB ihm der enragierteste 
Antimonarchist gewiB nicht bose war, — was mich bei seinem 
Tode allein interessierte, war die Haltung des Publikums. Ich 
habe in jenen Tagen, wo die gesamte Presse von allgemeinem 
Schmerz und stiller Ergriffenheit der Bevolkerung berichtete, 
scharf beobachtet und gefunden, daB die Stimmung in Mlinchen 
die eines gesteigerten Erlebens war. Die Leute liefen durch- 
einander, neugierig, schaubeflissen, mit gespitzten Ohren. Nicht 
die Person des verstorbenen Regenten beschaftigte sie, son- 
dern die Frage: Was werden wir jetzt zu sehen bekommen? 
Wer wird zur Beisetzung kommen? Wo sollen wir uns auf- 
stellen, daB uns nichts entgeht? Es war eine Gehobenheit 
unter den Menschen, die man dem festfrohen Charakter des 
Mlinchners gemaB und ohne dem Ernst der Veranlassung im 
geringsten frivol gegenuberzustehen, vielleicht am ehesten mit 
dem Wort Trauergaudi bezeichnen kann. 

Die Trauerfeierlichkeiten wurden wie ein offentliches 
Schauspiel erwartet, und dem naiven Verlangen des Volkes 
nach groBartigem Geprange ward von den Regisseuren des 



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Leichenbegangnisses ausgiebig Rechnung getragen. Als Thea- 
ter-Kritiker filhle ich mich berechtigt und verpflichtet die Ins- 
zenierung der Feierlichkeit in den Bereich meiner urteilenden 
Tatigkeit zu Ziehen, wobei ich hier selbstverstandlich auf jede 
Polemik ilber die Beweggrtinde zu der StraBenauffiihrung ver- 
zichte. Da6 es sich um einen Theaterakt handelte, geht 
schon daraus hervor, da6 der Leichenzug nicht einfach von der 
Allerheiligen Hofkirche durch den Hofgarten und ilber den 
Odeonsplatz zur Theatiner Hofkirche ging — das ist ein Weg 
von vielleicht dreihundert Schritten — , sondern im groBen 
Bogen vom Odeonsplatz durch die Ludwig-, Theresien-, Arcis- 
und BriennerstraBe zum Odeonsplatz zuruckgeleitet wurde. 
Bei der groBen Bedeutung, die ich dem Theaterspiel fur unsere 
ganze Kultur beimesse, erkenne ich auch an, daB diejenigen, 
die dynastische Empfindungen zu verbreiten wiinschen, mit dem 
Arrangement eines solchen Schauaktes eine zwar primitive, 
vielleicht aber ganz wirksame Propaganda treiben. 

Um nun mein Urteil ilber die Gesamtleistung der Auffilh- 
rung kurz zusammenzufassen, so sage ich: Brillant in einzel- 
nen Gruppen und Bildern, aber salopp und verworren in der 
Inszenierung des Ganzen. Vorziiglich war der Aufmarsch der 
Potentaten und Fiirstlichkeiten. Voran der neue Regent zwi- 
schen den beiden vornehmsten Gasten (der deutsche Kaiser 
fiel durch besonders gute Haltung auf), dahinter in losem Zuge, 
der durch das Fehlen jeder erkiinstelten Gruppenanordnung 
umso pomphafter wirkte, die deutschen Bundesfilrsten und die 
Vertreter der auslandischen Machthaber — alle in groBer Uni- 
form. Besonders dekorativ wirkten unter ihnen die Englander, 
prachtvoll gewachsene Menschen in brandroten goldbeschlage- 
nen Manteln. Recht eindrucksvoll gestaltete sich auch der Auf- 
marsch der Geistlichkeit. Die katholische Kirche hat es immer 
verstanden, glanzend zu reprasentieren, und die Aufmachung, 
in der die Erz-, Weih- oder was weiB ich ftir Bischofe einzeln, 
jeder umringt von einem Stab nachgeordneter Gottesdiener, 
nacheinander aufmarschierten, w